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Erneut Pauschgebühr in Staatsschutzverfahren, oder: Jetzt packt es aber an, 5. Strafsenat des OLG Stuttgart

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Heute dann am Gebührenfreitag zunächst mal wieder etwas zur Pauschgebühr nach § 51 RVG, und zwar den OLG Stuttgart, Beschl. v. 01.02.2024 – 5-2 StE 7/20. Dem ein oder anderen wird das Aktenzeichen vielleicht bekannt vorkommen. Ja, das ist richtig. Aus dem Verfahren habe ich schon einige Gebührenbeschlüsse zu § 51 RVG vorgestellt. Zuletzt war es der OLG Stuttgart, Beschl. v. 09.08.2022 – 5 StE 7/20 (vgl. dazu hier: (Hohe [?]) Pauschgebühr im Staatsschutzverfahren, oder: Alles ist relativ, vor allem in Corona-Zeiten).

Jetzt hat es in dem Verfahren den nächsten Beschluss gegeben, ich gehe davon aus, dass es weitere noch nicht gegeben hat. Dazu gleich mehr.

Zunächst noch einmal kurz ein paar Eckdaten zum Sachverhalt: Der Pflichtverteidiger kommt von auswärts.  Er hatte sich mit Schreiben vom 16.04.2020 als Verteidiger des Angeklagten gemeldet und ist mit Verfügung des Vorsitzenden vom 04.01.2021 zum Pflichtverteidiger bestellt worden.

In dem Verfahren liegen 253 Band Stehordner Ermittlungsakten und sieben Nachlieferungen mit 27 Band Akten, 38 Band Gerichtsakten sowie Beiakten vor. Seit dem 13.04.2021 bis zum Erlass des Urteils durch das OLG am 30.11.2023 hat man insgesamt an 173 Tagen (haupt)verhandelt. An gesetzlichen Gebühren sind bis zum 30.11.2023 122.911 EUR entstanden. Der Pflichtverteidiger hat mit Antrag vom 14.09. 2022 die Bewilligung eines Vorschusses auf die Pauschgebühr gemäß § 51 Abs. 1 S. 5 RVG beantragt. Die Bezirksrevisorin beim OLG Stuttgart hat am 30.3.2023 dazu Stellung genommen. Sie hat auf der Grundlage des Beschlusses des OLG Stuttgart vom 9.8.2022 (5-2 StR 7/20) die Gewährung eines Vorschusses befürwortet. Das OLG hat – durch den Einzelrichter – einen Vorschuss in Höhe von 226.703 EUR gewährt.

Ich zitiere jetzt nicht aus dem Beschluss vom 01.02.2024, denn der enthält nichts Neues, so dass ich auf den verlinkten Volltext verweisen kann.. Das OLG wendet vieleehr die Grundsätze und Vorgaben an, die es sich selbst mit dem Beschluss vom 09.08.2022 gegeben hat. Das ist ja auch richtig, denn die Pflichtverteidiger müssen ja wissen, womit sie rechnen können. Im Übrigen gilt. Gleiches Recht für alle – wenn die Voraussetzungen gleich sind.

Also:

  • Es handelt sich um ein besonders umfangreiches (Staatsschutz)Verfahren.
  • Das OLG stellt bei der Berechnung vornehmlich auf den Aktenumfang ab und erhöht Grund- und Verfahrensgebühr, wie das OLG – stolz – anmerkt, auch über die „Schwelle des § 42 Abs. 1 Satz 4 RVG“ hinaus. Erhöht wird die Grundgebühr pauschal um das 30-fache, die Vorverfahrensgebühr pauschal um das 30-fache und die Verfahrensgebühr (quantifizierbar) jeweils pro drei Band Akten, damit derzeit um das 106-fache.
  • Die Terminsgebühren werden entsprechend den Vorgaben des RVG berechnet. Allerdings gebieten nach Ansicht des OLG auch insoweit Umfang, Dauer und durchaus auch Schwierigkeit – bezogen auf das durchschnittliche Verfahren im ersten Rechtszug vor dem OLG – eine Erhöhung pro Woche, in der Hauptverhandlungen stattgefunden haben. Unbeschadet der Anzahl der in der Woche stattgefundenen Hauptverhandlungstage wird damit daher eine weitere Verfahrensgebühr immer dann fällig, wenn und soweit die/der Antragsteller in der in Frage stehenden Woche an sämtlichen Hauptverhandlungstagen anwesend war, um so einen Ausgleich für die Mühewaltung zu schaffen.
  • Schließlich hat das OLG aich wieder einen Ausgleich für die Risiken der COVID-19 Infektion wie folgt vorgenommen: Es wurden abermals grds. pro infolge COVID-19 ausgefallenem Sitzungstag zwei Verfahrensgebühren fällig.

Das alles mündet dann in eine ganz einfach kombinierte Mal-/Plusaufgabe, an deren Ende dann der als Vorschuss gewährte Betrag steht.

Also insoweit nichts Neues aus Stuttgart, so dass ich mich wegen der Einschätzung ebenfalls auf das beziehen kann, was ich bereits zu dem Beschluss vom 09.8.2022 geschrieben habe. Das gilt auch für die Höhe der bewilligten Pauschgebühr.

Besonders anzumerken ist aber noch einmal, dass § 51 RVG für die Gewährung einer Pauschgebühr nicht, wovon aber das OLG erneut ausgehet, kein „exorbitantes Verfahren“ voraussetzt. Dieser falsche – aus der Rechtsprechung des BGH – stammende Ansatz wird leider immer wiederholt, was ihn aber nicht richtig(er) macht. Dasselbe gilt für die vom OLG erneut erwähnte „Schwelle des § 42 Abs. 1 S. 4 RVG„. Gemeint ist damit das „Doppelte der Wahlanwaltshöchstgebühr“ auf die die Pauschgebühr für den Wahlanwalt nach § 42 RVG beschränkt ist. Diese gilt aber nicht für den Pflichtverteidiger.

Und darüberhinaus ist anzumerken:

  • Auch dieser Beschluss hebt sich wohltuend ab von anderen Beschlüssen, die zu Pauschgebühren in Umfangsverfahren in der letzten Zeit erlassen worden sind (vgl. z.B. nur OLG Dresden, Beschl. v. 15.12.2023 – 1 (S) AR 53/22,  und dazu: Was interessieren uns unsere eigenen Grundsätze?, oder: Pauschgebühren).
  • Im Beschluss vom 9.8.2022 hatte das OLG im Übrigen noch ausdrücklich ausgeführt, dass es nicht auszuschließen sei, dass der Senat bei der endgültigen Festsetzung einer Pauschgebühr weitere, vom Antragsteller dann vorgetragene individuelle Gesichtspunkte, aber auch neu zutage getretene generell-abstrakte Erwägungen werde miteinfließen lassen müssen. Dieser Änderungs-/Reduzierungsvorbehalt ist im vorliegenden Beschluss nicht mehr enthalten. Man wird also davon ausgehen können, dass das OLG nun doch wohl nicht nachtäglich Reduzierungen bei seiner Berechnungsweise vornehmen wird.
  • Zu beanstanden – und für mich unverständlich – ist m.E. aber die lange Dauer des Vorschussverfahrens. Der Antrag des Pflichtverteidigers datiert vom 14.09.2022, also zeitnah nach der Entscheidung vom 09.08.2022. Entschieden hat das OLG dann (endlich) am 01.02.2024, also mehr als 15 Monate nach Antragstellung. Bei allem Respekt und Verständnis vor der Arbeitsbelastung des Senats/eines OLG-Senats fragt man sich dann aber doch, warum die Entscheidung so lange gebraucht hat. Die Berechnungskriterien waren durch den Beschluss vom 09.8.02022 vorgegeben und mussten nur auf den vorliegenden Fall angewendet werden (s. oben einfache Mal-/Plusaufgabe). Das ist/war weder rechtlich noch tatsächlich schwierig. Die lange Dauer der Bearbeitung mindert den Wert des gewährten Vorschusses erheblich und widerspricht seinem Sinn und Zweck. Man kann Verteidigern bei zu langer/so langer Dauer des Verfahrens beim OLG im Hinblick auf die Verzinsung und/oder Schadensersatzansprüche nur raten, vorsorglich (rechtzeitig) die Verzögerungsrüge nach den §§ 198, 199 GVG zu erheben (zum Entschädigungsanspruch wegen verzögerter Bearbeitung eines Antrags auf Pflichtverteidigervergütung OLG Hamm AGS 2021, 570; OLG Karlsruhe AGS 2019, 556 = RVGreport 2019, 279 = StRR 4/2019, 24).
  • Und: Wenn man die Verfahrensdauer mal herunterbricht auf die im Verfahren tätigen 24 Verteidiger und davon ausgeht, dass jeder einen Pauschgebührenantrag stellen wird, dann kann man bei einer Bearbeitungsdauer von 15 Monaten/Antrag bei verbleibenden 22 Verteidigern davon ausgehen, dass die gebührenrechtliche Abarbeitung des Verfahrens noch Jahre dauert. Denn. Pro Antrag 15 Monate macht in der Spitze mehr als 27 Jahre. Das heißt, der (letzte) Richter am OLG, der über den entscheidet, hat wahrscheinlich noch gar nicht mir dem Studium begonnen. Also 5. Strafsenat des OLG Stuttgart. Auf geht es. Packen wir es an.

Corona I: Bestimmung des Erlangten für Arrest, oder: Arrestanordnung gegen Michael Ballweg?

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Und dann geht es in die 6. KW/2024 mit zwei Entscheidungen zu den Nachwirkungen von Corona. Nicht gesundheitlich, sondern rechtlich.

Zunächst stelle ich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.01.2024 – 1 Ws 181/23 – vor. Er dürfte den „Querdenker-Chef“ Michael Ballweg betreffen. Nein, es ist nicht die Entscheidung betreffend die Eröffnung des Hauptverfahrens/Zulassung der Anklage, der OLG Stuttgart, Beschl. v. 24.01.2023 – 1 Ws 177/23 – über den ja nach seinem Erlass an mehreren Stellen berichtet worden ist. Ich hatte dazu beim OLG wegen einer möglichen Veröffentlichung angefragt. Aber man gibt unter Hinweis auf § 353d StGB die Entscheidung nicht frei, was ich nachvollziehen kann, bin ja schließlich „gebranntes Kind“.

Aber: Man hat den am selben Tag erlassenen Beschlss in 1 Ws 181/23 veröffentlicht (was ich dann nicht so ganz nachvollziehen kann). Der betrifft die Frage einer Arrestes in der Sache. Den hat das OLG angeordnet, was m.E. auf der Grundlage der Eröffnung des Hauptverfahrens nur konsequent ist.

Das OLG führt insofern aus:

„Aufgrund der durchgeführten Ermittlungen besteht (weiter) Tatverdacht u.a. dahingehend, dass sich der Angeklagte als „Kopf“ der von ihm im Zuge der Proteste gegen Beschränkungen im Rahmen der Bekämpfung der Corona-Pandemie ins Leben gerufenen Querdenken 711-Kampagne spätestens im Mai 2020 dazu entschloss, seine durch vorgängige Protestmaßnahmen gewonnene Popularität auch für private Zwecke zu nutzen und sich insbesondere zu seinen Gunsten durch die Spendenbereitschaft seiner Anhänger Einnahmen von einiger Dauer und einigem Umfang zur Bestreitung seines Lebensunterhalts und zur Mehrung seines Vermögens zu verschaffen. Durch Umsetzung dieses Plans hat er von hiernach vereinnahmten Geldern lediglich eine Teilsumme für Querdenken 711 verwendet und sich dadurch u.a. wegen versuchten Betruges in einem besonders schweren Fall in 9.450 tateinheitlichen Fällen strafbar gemacht1.

II.

Bei diesen (Tat-)Verdachtsmomenten besteht Grund zu der Annahme, dass die Voraussetzungen für die Einziehung gemäß §§ 73 ff. StGB im Hinblick auf den Schuldner vorliegen (§ 111e Abs. 1 StPO). Der Senat hat die mit Beschluss des Landgerichts Stuttgart vom 6. Oktober 2023 abgelehnte Eröffnung des Hauptverfahrens hinsichtlich des in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 20. März 2023 erhobenen Tatvorwurfs des versuchten Betruges aufgehoben, die bezeichnete Anklage auch insoweit zugelassen und das Hauptverfahren vor der 10. Großen Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Stuttgart eröffnet.

 

Vor diesem Hintergrund ist bei Inblicknahme der gegebenen Sachlage erwartbar, dass gegen den Angeklagten die gerichtliche Anordnung einer Einziehung nach §§ 73 ff. StGB ergehen wird. Der Angeklagte hat naheliegend annehmbar durch eine rechtswidrige Tat i.S.v. § 73 Abs. 1 StGB etwas, nämlich Gelder, erlangt. Die Einziehung dieses Tatertrags ist nicht möglich (§ 73c Satz 1 StGB), nachdem die vereinnahmten Gelder mit sonstigen „Guthaben“ des Angeklagten vermischt bzw. von ihm weiterverfügt wurden. Klarstellend ist weiter Folgendes zu bemerken:

Maßgebende Regel für die Bestimmung des Erlangten i.S.v. § 73 StGB ist das sogenannte Bruttoprinzip. Erlangt ist hiernach jede Bereicherung, die aufgrund der jeweils in Rede Straftat eingetreten ist, namentlich die Tatbeute. Der konkrete Umfang und Wert des Erlangten einschließlich abzuziehender Aufwendungen können geschätzt werden (§ 73d Abs. 2 StGB).

1. Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe sind bei der aktuell gegebenen Aktenlage unter Berücksichtigung der Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen in der Anklageschrift und den von der Verteidigung zuletzt mit Schriftsatz vom 29. Dezember 2023 angebrachten Erwägungen belastbar tatbedingte Vereinnahmungen des Angeklagten in Höhe von € 1.269.902,58 gegeben2 . Geht man zu dessen Gunsten weiter davon aus, dass sich die Annahme der Staatsanwaltschaft, wonach der Angeklagte einen Betrag von € 843.111,68 für Querdenken 711 „getätigt“ hat, bestätigen lässt, bleibt dieser Betrag entsprechend der in § 73e Abs. 1 Satz 1 StGB getroffenen Regelung bei der zu einem späteren Zeitpunkt anstehenden Entscheidung über die Einziehung von Taterträgen außer Betracht. Vor diesem Hintergrund bringt der Senat eine entsprechende Summe bereits jetzt im Hinblick auf die gebotene Sicherungsanordnung in Abzug.

2. Überdies ist die gegen die pp. GmbH ergangene Arrestanordnung zu beachten. Um eine Doppel-Inanspruchnahme des Angeklagten zu vermeiden, sind daher von dem Betrag, der sich nach Vornahme des unter II. Ziff. 1 beschriebenen Subtraktionsverfahrens errechnet, weitere € 131.000 abzuziehen.

3. Der hiernach verbleibende Geldbetrag ist sodann unter Berücksichtigung des – ursprünglich in der Härteklausel des § 73c StGB a.F. kodifizierten und als Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips weiterhin gültigen – Übermaßverbots sowie jedenfalls bis zum Abschluss der anstehenden Hauptverhandlung und dem Ergebnis der im Zuge dessen durchgeführten Beweiserhebungen einzukalkulierenden Unwägbarkeiten und nicht fernliegend erwartbaren gerichtlichen Einstellungsentscheidungen im Hinblick auf weniger strafwürdig erscheinende Fälle mit kleineren Geldbeträgen um einen angemessenen Sicherheitsabschlag, den der Senat auf etwa 30% bemisst, noch weiter auf € 200.000 zu verringern.

Die Anordnung eines entsprechenden Vermögensarrestes ist vor dem Hintergrund des bezeichneten Vorgehens und finanziellen Gebarens des Angeklagten geboten, da sonst zu befürchten ist, dass eine spätere Vollstreckung des staatlichen Anspruchs auf Einziehung des Wertes des Tatertrages wesentlich erschwert wenn nicht vereitelt würde. Auch bei Vornahme der erforderlichen Gesamtschau ist die Anordnung in der nunmehr fixierten Größenordnung nicht unverhältnismäßig.

Fußnoten
1)Wegen Einzelheiten wird auf die Ausführungen in der Anklageschrift vom 20.03.2023 Bezug genommen.
2) Soweit in der Anklageschrift anknüpfend hieran Bareinzahlungen „weiterer (…) Beträge“ auf das „Querdenken-Konto“ in Höhe von € 204.815,95 thematisiert werden, ist ein kausaler Zusammenhang mit den in Rede stehenden Betrugstaten derzeit nicht ersichtlich.“

Vollstreckung II: Auswirkungen einer Pfändung, oder: Taschengeld in der Sicherungsverwahrung

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Das zweite Posting des Tages hat den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 17.10.2023 – 2 Ws 282/23 – zum Gegenstand. Er befasst sich mit den Voraussetzungen des Taschengeldanspruchs in der Sicherungsverwahrung.

Der Antragsteller ist im Vollzug der Maßregel der Sicherungsverwahrung untergebracht. Im Mai 2023 konnte er krankheitsbedingt keiner Beschäftigung nachgehen. Von der am 04.05.2023 erhaltenen Vergütung für vorher geleistete Arbeit in Höhe von 211,19 EUR buchte die Antragsgegnerin, da das Überbrückungsgeld schon vollständig angespart war, 90,51 EUR auf das Hausgeld und 120,68 EUR auf das Eigengeld. Der letztgenannte Betrag wurde umgehend aufgrund einer bestehenden Pfändung zugunsten eines Gläubigers umgebucht.

Den Antrag des Antragstellers, ihm für den Monat Mai 2023 Taschengeld zu gewähren, lehnte die JVA ab. Nach ihrer Auffassung fehlte es an der erforderlichen Bedürftigkeit des Antragstellers, da ihm auch der dem Eigengeld zugeschriebene Anteil der im Mai zugeflossenen Arbeitsvergütung zur Verfügung gestanden habe. Mit seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung begehrte der Antragsteller die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Taschengeldberechnung für Mai 2023, die Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihm unter Neuberechnung für Mai 2023 40,90 EUR Taschengeld gutzuschreiben sowie die Berechnung für die Folgemonate anzupassen und ihn insoweit neu zu bescheiden.

Das LG hat diese Anträge zurückgewiesen. Dagegen die Rechtsbeschwerdedes Antragstellers, die das OLG als begründet angesehen hat:

“ ….. Voraussetzung für den Taschengeldanspruch Untergebrachter, die krankheitsbedingt keiner Beschäftigung nachgehen können (§ 49 Abs. 1 Satz 1 und 2 JVollzGB BW III), ist deren Bedürftigkeit. In Fortführung der zur Regelung in § 46 StVollzG ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (Übersicht bei Arloth/Krä, StVollzG, 5. Aufl., § 46 StVollzG Rn. 4) regelt § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V, dass Untergebrachte bedürftig sind, soweit ihnen im laufenden Monat aus sonstigen Einkünften nicht ein Betrag bis zur Höhe des Taschengeldes zur Verfügung steht.

Danach gilt das Zuflussprinzip, d.h. bei der Bestimmung der Bedürftigkeit sind nur solche Mittel zu berücksichtigen, die dem Untergebrachten in dem Kalendermonat, für den Taschengeld beansprucht wird, bereits zugeflossen sind, nicht aber solche, die zwar in diesem Zeitraum entstehen, aber erst später ausgekehrt werden (OLG Dresden NStZ 1998, 399 [bei Matzke]; OLG Hamburg NStZ 2000, 672; OLG Frankfurt NStZ-RR 2007, 62). Die Entscheidung über den Anspruch kann danach in der Regel erst nach dem Ende des Monats ergehen, für den Taschengeld beantragt wird, da erst dann eine vollständige Beurteilung der Bedürftigkeit möglich ist (Nr. 3.1 VV zu § 53 JVollzGB BW III i.V.m. Nr. 2 VV zu § 49 JVollzGB BW V; OLG Frankfurt a.a.O.; OLG Celle NStZ-RR 2014, 339).

Noch nicht ausdrücklich entschieden ist dagegen bisher die Frage, welche Auswirkungen die Pfändung von Einkünften des Antragstellers auf die Feststellung der Bedürftigkeit hat, auch wenn zu den für die Beurteilung maßgeblichen Grundsätzen bereits Entscheidungen ergangen sind. Dazu ist zunächst darauf abzustellen, dass der Zweck des Taschengelds dem des Hausgelds (§ 49 Abs. 2 JVollzGB BW V) entspricht. Es dient damit der Befriedigung von persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens, die über die auf Existenzsicherung ausgerichtete Versorgung durch die Anstalt hinausgehen (BVerfG NJW 1996, 3146; StV 1995, 651); zugleich soll damit der besonderen Anfälligkeit von Mittellosen für behandlungsfeindliche subkulturelle Aktivitäten entgegengewirkt werden (Arloth/Krä a.a.O., § 46 StVollzG Rn. 1 m.w.N.). Von dieser Zweckbestimmung ausgehend ist die nach § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V maßgebliche Frage, ob dem Untergebrachten im Anspruchsmonat andere Mittel zur Verfügung stehen, danach zu beantworten, ob ihm die erforderlichen Geldmittel rein tatsächlich zu Gebote stehen (OLG Dresden a.a.O.). Das ist bei einem Zufluss von Mitteln, die – wie bei einer Pfändung – sofort für eine vom Willen des Untergebrachten unabhängigen Zweck eingesetzt werden, jedoch nicht der Fall. Erst recht gilt dies, wenn – wie dies bei Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen üblicherweise der Fall ist – bereits der Anspruch auf Lohnzahlung gepfändet ist und deshalb der von der Pfändung betroffene Lohn dem Untergebrachten von vornherein nicht zur Verfügung steht.

Bei der Bestimmung der dem Antragsteller im Mai 2023 zur Verfügung stehenden Mittel hat danach das gepfändete Eigengeld ebenso wie das zweckgebundene Überbrückungsgeld außer Betracht zu bleiben. Da ihm danach in diesem Zeitraum nur das Hausgeld in Höhe von 90,51 € im Sinn des § 49 Abs. 1 Satz 3 JVollzGB BW V zur Verfügung stand, erweist sich die Rechtsbeschwerde in Höhe des geltend gemachten Taschengeldanspruchs für Mai 2023 auch als begründet. Soweit die Differenz zwischen den dem Untergebrachten zur Verfügung stehenden Mitteln und dem Taschengeldanspruch in Höhe von 131,46 € rechnerisch geringfügig höher als der vom Senat zuerkannte Betrag ist, konnte der Senat über den in erster Instanz ausdrücklich gestellten Antrag auf Gewährung von 40,90 € Taschengeld wegen des in Strafvollzugssachen geltenden Verfügungsgrundsatzes (Arloth/Krä a.a.O., § 115 StVollzG Rn. 1 m.w.N.) nicht hinausgehen.“

StPO I: Verbreitung pornographischer Schriften, oder: Beweisantrag auf Anhörung eines Sachverständigen

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Heute stelle ich dann nochmals StPO-Entscheidungen vor, und zwar 3 x OLG.

Hier kommt zunächst der OLG Stuttgart, Beschl. v. 27.01.2023 – 1 Rv 24 Ss 991/22 – mit folgendem Sachverhalt:

Der Angeklagte ist vom LG im Berufungsverfahren u.a. wegen Verbreitung pornographischer Schriften verurteilt worden. Der Verteidiger hatte in der Hauptverhandlung in Bezug auf die Abbildungen, die Gegenstand des Verfahrens waren, beantragt, „zum Beweis der Tatsache, dass bei durchschnittlichen Betrachtern (…) andere als sexuelle Empfindungen entstehen“ sowie „zu der Tatsache, dass der durchschnittliche Betrachter bei den Bildern (…) den weiblichen Anus erst auf den zweiten Blick wahrnimmt“ ein Sachverständigengutachten einzuholen. In der Begründung des Antrags wurde ausgeführt, dass die Bilder „unsittlich, anstößig oder ekelerregend für die einen, lustig für die anderen sein mögen“ und dass in erster Linie zunächst das in der Abbildung zu sehende Wort bzw. Emoji wahrgenommen werde, die jeweils in die Abbildung hineinmontiert seien, sodass der Anus als Teil des Wortes oder des Emojis erscheine. Das LG hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, dass mit dem Beweisantrag Rechtsanwendung begehrt werde. Der Begriff der Pornographie sei ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Klassifizierung dem Tatrichter überlassen bleibe. Das angebotene Beweismittel sei daher ungeeignet im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 4 StPO.

Das OLG hat die Revision des Angeklagten verworfen:

„b.) Das Landgericht hat hierdurch nicht gegen § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO verstoßen. Denn es liegt bereits kein Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO vor. Danach hat der Antragsteller eine bestimmte Tatsache konkret zu behaupten und ein bestimmtes Beweismittel zu bezeichnen, wobei dem Antrag zu entnehmen sein muss, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Beweistatsache belegen können soll. Hier fehlt es teilweise schon an der konkreten Bezeichnung eines bestimmten Beweismittels (aa.). Im Übrigen ist die Konnexität zwischen der behaupteten Tatsache und dem Beweismittel nicht dargetan (bb.).

aa.) Der Wortlaut des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO, wonach ein Beweisantrag voraussetzt, dass der Antragsteller eine bestimmte Tatsache konkret behaupten muss, belegt, dass der Gesetzgeber der präzisen Formulierung der Beweistatsache besonders hohes Gewicht beimisst. Die Tatsache muss generell geeignet sein, in ihrem im Beweisantrag enthaltenen Wortlaut zur Urteilsgrundlage zu werden, also als Teil der Feststellungen in den Urteilssachverhalt einzugehen oder zumindest als Indiztatsache Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung zu werden (Hamm/Pauly, Beweisantragsrecht, 3. Aufl. (2019), Rn. 167).

Der Gesetzgeber normiert damit hinsichtlich der Konkretisierung der Beweisbehauptung ein Optimierungsgebot. Es hält im Fall des Sachverständigenbeweises den um den Nachweis wissenschaftlicher Erfahrungssätze bemühten Antragsteller dazu an, möglichst genau zu beschreiben, welche Umstände in Kombination mit bestimmten Erfahrungssätzen darauf fußende Schlussfolgerungen nahelegen oder ausschließen. Die Mahnung, dass gerade bei Anträgen auf Anhörung eines Sachverständigen keine überspannten Anforderungen an die Formulierung einer Beweisbehauptung gestellt dürfen, da der Antragsteller vielfach nicht in der Lage sei, die seinem Beweisziel zugrundeliegenden Vorgänge und Zustände exakt zu bezeichnen (BGH, Urteil vom 9. Juli 2015 – 3 StR 516/14 –, NStZ 2016, 116 sowie Beschluss vom 10. April 2019 – 4 StR 25/19 –, NStZ 2019, 628), befreit den Antragsteller nicht davon, Aufwand für Recherche und Überlegung zu betreiben. Sie ist kein „Freibrief für liederliche Antragsabfassung“ (Ventzke in NStZ 2019, 629 (630)).

Danach gilt vorliegend Folgendes: In der Antragsbegründung wird präzisiert, welche Wahrnehmung ein durchschnittlicher Betrachter dieser Bilder auf den ersten Blick machen soll. Damit kann dem Antrag im Wege der Auslegung die Behauptung einer konkreten Tatsache, in diesem Fall innerpsychische Vorgänge oder Gegebenheiten (vgl. Krehl in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. (2023), § 244 Rn. 69) mit potentieller Bedeutung für die Schuldfrage, entnommen werden. Denn ein pornographischer Inhalt zeichnet sich wesentlich dadurch aus, in seiner Gesamttendenz ausschließlich oder überwiegend auf sexuelle Stimulation angelegt zu sein (Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. (2019), § 184 Rn. 8 m. w. N.).

Hingegen fehlt es dem Antrag, soweit er auf den Nachweis „anderer als sexueller Empfindungen“ gerichtet ist, an der bestimmten Behauptung einer konkreten Tatsache. Denn diese Wendung umschreibt – auch unter Berücksichtigung der Antragsbegründung – nur das mit der Beweiserhebung verfolgte Ziel. Welche Empfindungen hier genau entstehen, ist nicht bestimmt mitgeteilt. Stattdessen werden nur Mutmaßungen in verschiedenste Richtungen („unsittlich, anstößig, Ekel erregend, lustig“) angestellt, die ihrerseits zumindest in Teilen Wertungscharakter tragen.

bb.) Die Angabe eines bestimmten Beweismittels verlangt beim Antrag auf Anhörung eines Sachverständigen schon mit Blick auf die Auswahlbefugnis des Gerichts gemäß § 73 Abs. 1 StPO nicht die Angabe eines ganz bestimmten Sachverständigen (allgemeine Ansicht, vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. (2022), § 244 Rn. 21). Grundsätzlich ist auch die ausdrückliche Angabe des Fachgebietes nicht erforderlich, da sich dieses ohne weiteres aus der Angabe der Beweistatsache oder des Beweisziels ergibt (KK/Krehl, a.a.O, Rn. 80; abweichend Hamm/Pauly, Rn. 153). Hieran schließt das Konnexitätserfordernis in § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO an. Dieses verlangt, dass dem Antrag nachvollziehbar zu entnehmen sein muss, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll. Einer ausdrücklichen Darlegung hierzu bedarf es indes nicht, wenn sich – wie dies bei Anträgen auf Anhörung eines Sachverständigen häufig der Fall ist – der erforderliche Zusammenhang von selbst versteht (BGH, Beschluss vom 15. Januar 2014 – 1 StR 379/13 –, NStZ 2014, 282 (283); KK/Krehl, a.a.O., Rn. 83; Schmitt, a.a.O., Rn. 21b).

Die hier zu entscheidende Konstellation liegt jedoch anders. Denn die vom Antragsteller behaupteten Empfindungen und Wahrnehmungen können die Expertise ganz unterschiedlicher Fachgebiete betreffen. Dies zeigt schon der Stand von Rechtsprechung und Literatur zur Auslegung des Pornographiebegriffs. So wurden in dem dem „Opus Pistorum“-Urteil des BGH vom 21. Juni 1990 (1 StR 477/89BGHSt 37, 55) zugrundeliegenden Fall gleich mehrere Literatursachverständige angehört. Frommel bezieht sich auf die Erkenntnisse von Lernforschern sowie Medien- und Kommunikationswissenschaftlern (NK-StGB, 5. Aufl. (2017), § 184e Rn. 8). Laue (in: Dölling/Duttge/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 5. Aufl. (2022), § 184 StGB Rn. 5) sieht ein Erfordernis, den schädigenden Einfluss auf Kinder und Jugendliche zu klären, was einer gutachtlichen Prüfung bedürfe. Unschwer ist somit denkbar, dass hier fachspezifische Kenntnisse aus dem Bereich der Psychologie, anderer Kulturwissenschaften (vgl. etwa LK/Laufhütte/Roggenbuck, 12. Aufl. (2009), § 184 Rn. 11: „Künstlerisch vorgebildete Menschen“; ebenso Hörnle in: Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl. (2021), § 184 Rn. 26) oder medizinischer Disziplinen (Sexualmedizin, Neurologie, Psychiatrie) von Belang sein können.

Spricht also die dem Beweisantrag zugrundeliegende Thematik somit eine Fülle unterschiedlicher Fachgebiete an, von denen nicht eines von vorne herein klar im Vordergrund steht, so gebietet es das Konnexitätserfordernis, im Beweisantrag Darlegungen zum Fachgebiet des Sachverständigen anzubringen, dessen Anhörung der Antragsteller wünscht. Denn anderenfalls ist dem Gericht die sinnvolle Prüfung des Ablehnungsgrundes der völligen Ungeeignetheit des Beweismittels nicht möglich (BGH, Urteil vom 10. Juni 2008 – 5 StR 38/08BGHSt 52, 284 (288); Schmitt, a.a.O., Rn. 21; Bachler in: BeckOK-StPO, 46. Edition (Stand 1. Januar 2023), § 244 Rn. 25). An solchen Ausführungen fehlt es in dem Antrag.

c.) Daher war das Begehren als Beweisermittlungsantrag zu behandeln. Dessen Ablehnung ist vom Revisionsgericht unter dem Gesichtspunkt der Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) zu prüfen. Hiernach erweist sich die Rüge als unzulässig, da die Revisionsbegründung weder vorträgt, welche konkreten Ergebnisse das Gutachten des Sachverständigen erbracht hätte, noch, aufgrund welcher Umstände und Vorgänge sich die Strafkammer zu dieser Beweiserhebung gedrängt sehen musste (BGH, Urteil vom 15. September 1998 – 5 StR 145/98 –, NStZ 1999, 45 (46); vgl. KK/Krehl, a.a.O., Rn. 216 m. w. N.). Dies gilt umso mehr, als die in der Revisionsbegründung angeführte Kommentierung (Hörnle, a.a.O.) zur Anhörung eines Sachverständigen in derartigen Fällen ausdrücklich hervorhebt: „Notwendig ist dies jedoch regelmäßig nicht.“

Pflichti I: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: OLG Stuttgart, willkommen im Club

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Und am ersten Tag des neuen Monats dann gleich ein paar Entscheidungen zur Pflichtverteidigungsfragen.

Ich beginne mit dem verfahrensrechtlichen Dauerbrenner aus dem Bereich, nämlich der Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers. Und da gibt es dann heute mal etwas richtig Positives zu melden, nämlich nicht „nur“ einen weiteren LG- oder AG-Beschluss, der die zutreffende Ansicht vertritt, dass die rückwirkende Bestellung zulässig ist, sondern endlich auch mal wieder eine OLG-Entscheidung, nämlich den OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22.

In der Sache ging es um einen der typischen § 154-er-Fälle. Das OLG hat dann – entgegen der Auffassung des LG Stuttgart – den Pflichtverteidiger nachträglich bestellt und begründet das wie folgt:

„2. Die sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg:

a) Gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO ist dem Beschuldigten, der noch keinen Verteidiger hat, in den Fällen der notwendigen Verteidigung auf seinen Antrag hin unverzüglich ein Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Vorliegend lag zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 ein Fall der notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO vor. Denn der Beschwerdeführer befand sich seit 21. März 2022 in anderer Sache in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt Weiterstadt.

bb) Er war auch unverteidigt im Sinne des § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO. Nach dem Wortlaut dieser Norm wird ein Pflichtverteidiger grundsätzlich nur bestellt, wenn der Beschuldigte noch keinen Verteidiger hat. In Fällen wie diesem, in denen sich bereits ein Wahlverteidiger legitimiert hat, reicht es aus, wenn dieser ankündigt, im Moment der Bestellung als Pflichtverteidiger sein Wahlmandat niederzulegen (Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage, § 141 Rn. 4). Zwar enthält der Schriftsatz von Rechtsanwalt pp. vom 14. April 2022 eine solche Ankündigung nicht, dies steht der Beiordnung aber nicht entgegen. Denn auch der bloße Antrag des Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Bestellung zum Pflichtverteidiger enden (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 20.12.1982 – VI 5/82, StV 1983, 190; OLG München, Beschluss vom 06.03.1992 – 1 Ws 161/92, StV 1993, 65; Kämpfer/Travers in: MüKo, StPO, 2. Auflage, § 141 Rn. 4; Jahn in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 141 Rn. 9).

cc) Ein Absehen von der Pflichtverteidigerbestellung gemäß § 141 Abs. 2 Satz 3 StPO war entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht möglich. Nach dieser Vorschrift kann eine Bestellung unterbleiben, wenn beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen und keine anderen Untersuchungshandlungen als die Einholung von Registerauskünften oder die Beiziehung von Urteilen oder Akten vorgenommen werden soll. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt sich aber auf Fälle der Bestellung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen, § 141 Abs. 2 StPO. Auf Fälle einer Bestellung auf Antrag des Beschuldigten gemäß § 141 Abs. 1 ist sie nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Gegen eine unmittelbare Anwendung sprechen sowohl der Wortlaut als auch die systematische Stellung innerhalb des § 141 StPO. Eine entsprechende Anwendung kommt mangels einer Regelungslücke nicht in Betracht (Krawczyk in: BeckOK StPO, § 141 Rn. 23 mwN).

b) Obwohl zum Zeitpunkt der Antragstellung am 14. April 2022 die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung vorlagen, hat das Landgericht dem Beschwerdeführer nicht unverzüglich (§ 141 Abs. 1 Satz 1 StPO) Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beigeordnet, sondern bis zum 9. November 2022 zugewartet, um dann das Verfahren einzustellen und den Beiordnungsantrag abzulehnen. In Fällen, in denen wie vorliegend die sachlichen Voraussetzungen für die Bestellung eines Pflichtverteidigers vorlagen und der Antrag auf Bestellung noch vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt, aber aus justizinternen Gründen nicht verbeschieden wurde, ist es nach Auffassung des Senats ausnahmsweise möglich und geboten, rückwirkend auf den Zeitpunkt der Antragstellung einen Pflichtverteidiger zu bestellen.

aa) Die überwiegende obergerichtliche Rechtsprechung hat eine rückwirkende Beiordnung bislang mit dem Argument ausgeschlossen, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene der ordnungsgemäßen Verteidigung eines Angeklagten sowie der Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs. Sie erfolge nicht im Kosteninteresse eines Angeklagten oder im Interessen eines Verteidigers an einem Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse. Das Ziel einer effizienten Verteidigung könne nachträglich nicht mehr erlangt werden. Die rückwirkende Bestellung führe demnach nicht zu einem Mehr an Rechtsschutz des Angeklagten, sondern lediglich zur Schaffung eines Kostenanspruchs des Rechtsanwalts gegenüber der Staatskasse. Auch aus der Regelung des Art. 4 Abs. 1 der RL 2016/1919/EU (PKH-Richtlinie) folge nichts anderes, denn die Richtlinie sehe nicht vor, den Betroffenen in jedem Fall von Kosten freizuhalten. Der Anspruch auf Prozesskostenhilfe bestehe gemäß Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie nur, wenn die Bereitstellung finanzieller Mittel im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Ein solches Erfordernis bestehe aber in rechtskräftig abgeschlossenen Fällen nicht mehr (OLG Braunschweig, Beschluss vom 2. März 2021 – 1 Ws 12/21, BeckRS 2021, 3268 Rn. 9-11; OLG Brandenburg, Beschluss vom 9. März 2020 – 1 Ws 19/20, 1 Ws 20/20, NStZ 2020, 625; KG, Beschluss vom 9. April 2020 – 2 Ws 30/20, BeckRS 2020, 9383 Rn. 13; OLG Hamburg Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20, BeckRS 2020, 27077 Rn. 14; OLG Bremen, Beschluss vom 23. September 2020, NStZ 2021, 253 (offengelassen für den Fall rechtzeitiger Antragstellung)).

bb) Teilweise wird die Ansicht vertreten, die rückwirkende Beiordnung sei jedenfalls dann zulässig, wenn der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtzeitig vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens gestellt werde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung nach § 140 StPO gegeben seien und die Entscheidung aus allein in der Sphäre der Justiz liegenden Gründen nicht vor Verfahrensabschluss erfolge. Dies ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie, wonach Verdächtige und beschuldigte Personen, die nicht über ausreichende Mittel zur Bezahlung eines Rechtsbeistandes verfügten, ein Anspruch auf Prozesskostenhilfe zustehe, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei. Prozesskostenhilfe bedeute in diesem Zusammenhang die Bereitstellung finanzieller Mittel für die Unterstützung durch einen Rechtsbeistand, so dass das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand wahrgenommen werden könne (Art. 3 PKH-Richtlinie). Geregelt sei nunmehr also, dass nicht nur die tatsächliche Verteidigung, sondern auch die Bezahlung des Rechtsbeistands gesichert werden solle. Ziel und Zweck der Regelung sei eine effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten. Dieser Zweck würde unterlaufen, wenn eine Pflichtverteidigerbestellung nur deswegen versagt werden könne, weil über den Antrag nicht vor Abschluss des Verfahrens entschieden werde. Nicht ohne Grund habe der Gesetzgeber in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO das Unverzüglichkeitsgebot geschaffen. In der Vorschrift komme der besondere Beschleunigungsbedarf zum Ausdruck, den der Gesetzgeber für eine Pflichtverteidigerbestellung sehe. Auch ein Vergleich mit den Regelungen bzgl. der Bewilligung von Prozesskostenhilfe spreche für die Möglichkeit einer rückwirkenden Beiordnung. So komme nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO eine rückwirkende Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach Abschluss der kostenverursachenden Instanz grundsätzlich nicht in Betracht, etwas anderes gelte aber für den Fall, dass vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens ein Bewilligungsantrag mit den erforderlichen Unterlagen gestellt worden sei, der nicht bzw. nicht vorab verbeschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20, BeckRS 2021, 8406 Rn. 4). Gründe, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers anders zu behandeln als einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe, seien nicht ersichtlich (OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21, BeckRS 2021, 14711 Rn. 14-19; OLG Nürnberg, Beschluss vom 6. November 2020 – Ws 962/20, Ws 963/20, BeckRS 2020, 35193 Rn. 22-26).

cc) Der Senat schließt sich der letztgenannten Ansicht an. Soweit von der gegenteiligen Auffassung eingewandt wird, Art. 4 Abs. 1 PKH-Richtlinie mache den Anspruch auf Prozesskostenhilfe davon abhängig, dass die Bewilligung im Interesse der Rechtspflege erforderlich sei und eine solche Erforderlichkeit bei rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren nicht mehr bestehe, überzeugt dies insbesondere im Hinblick auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK nicht, der ausdrücklich den mittellosen Beschuldigten erwähnt und damit auch das Kosteninteresse des Beschuldigten in seinen Schutzzweck aufnimmt (Kämpfer/Travers in: MüKOStPO, 2. Auflage, § 142 Rn. 14). Auch in Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK wird das Recht einer angeklagten Person, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, davon abhängig gemacht, dass dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. Die „Erforderlichkeit im Interesse der Rechtspflege“ wird in diesem Zusammenhang aber im Anschluss an die englische Sprachfassung („interests of justice“) nicht auf die Gesichtspunkte der Rechtspflege im Sinne objektiv-organisatorischer Erfordernisse reduziert, sondern vielmehr im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Angeklagten verstanden (Gaede in: MüKoStPO, 1. Auflage, EMRK Art. 6 Rn. 209). Ein Anlass, den Begriff der „Erforderlichkeit der Rechtspflege“ in der PKH-Richtlinie anders zu interpretieren besteht nicht, zumal in den Vorbemerkungen der Richtlinie ausdrücklich auf Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK Bezug genommen wird. Zur Verfahrensgerechtigkeit in diesem Sinne gehört es aber, die Entscheidung über die Bestellung eines Pflichtverteidigers danach zu treffen, ob ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und ein entsprechender Antrag rechtzeitig gestellt wurde.“

Damit sind es dann insgesamt drei OLG, die die Frage zutreffend entscheiden.

Aus der übrigen, also der LG und AG-Rechtsprechung habe ich dann noch den LG Magdeburg, Beschl. v. 11.01.2023 – 25 Qs 712 Js 39489/22 (91/22). Das LG Magdeburg hat es schon immer richtig gemacht.