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VW-Abgasskandal, oder: Zum merkantilen Minderwert, Sittenwidrigkeit, Applikationsrichtlinie

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Und heute dann „Kessel Buntes“. Zunächst stelle ich einige Entscheidungen zum VW-Abgasskandal vor, und zwar zu ggf. gegebenen Schadensersatzansprüchen, nämlich:

Zur Schätzung der Höhe eines merkantilen Minderwertes im Rahmen des sog. „Abgasskandals“

Aus der Applikationsrichtlinie vom 18.11.2015 ergeben sich betreffend den Motor vom Typ EA288 keine einen Anspruch gemäß § 826 BGB begründenden Umstände.

Das Inverkehrbringen eines Fahrzeugs mit einem Dieselmotor stellt nicht allein deshalb ein sittenwidriges Handeln i.S.d. § 826 BGB dar, wenn dieser Motor mit einer Software versehen ist, die ab dem Zeitpunkt, zu dem die Restmenge im AdBlue-Tank des SCR-Katalysators nur noch für eine Restreichweite von 2.400 km ausreicht, unter besonders dynamischen Fahrbedingungen die Eindüsungsrate geringfügig reduziert.

StGB II: Ist ein Tätowiergerät ein gefährliches Werkzeug?, oder: Es kommt darauf an.

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Bei der zweiten Entscheidung, die ich zum StGB vorstelle, handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 02.09.2021 – 4 RVs 84/21. Das OLG nimmt Stellung zur Frage, ob ein zum Tätowieren genutztes Tätowiergerät die Eigenschaft eines gefährlichen Werkzeugs i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB hat.

Nach den Feststellungen hatte die Angeklagte ihrer Tochter mit ihrem Tätowiergerät eine Tätowierung am rechten Unterarm beigebracht, ohne dass hierfür eine wirksame Einwilligung vorlag. Das LG hat in dem Tätowiergerät ein gefährliches Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gesehen. Es hat den Strafrahmen eines minderschweren Falles zu Grunde gelegt.

Das OLG hebt auf die Revision hin auf:

„Soweit das Landgericht die Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB verurteilt hat, tragen die bisher getroffenen Feststellungen eine solche nicht.

Ein gefährliches Werkzeug ist ein solches, das nach seiner objektiven Beschaffenheit und nach der Art seiner Benutzung im Einzelfall geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen zuzufügen (vgl. nur: Fischer, StGB, 68. Aufl., § 224 Rdn. 14). Die bisherigen Feststellungen ergeben nicht hinreichend, ob der konkrete Einsatz des Tätowiergeräts geeignet war, erhebliche Verletzungen hervorzurufen. Es reicht insoweit nicht die bloße Eignung, überhaupt Verletzungen hervorzurufen (welche hier nicht in Frage steht), sondern diese muss auch erheblich sein (Hardtung in: MK-StGB, 4. Aufl. § 224 Rdn. 20). Es muss also nach der konkreten Art der Verwendung die Eignung bestehen, die Funktionen oder das Erscheinungsbild des Körpers so einschneidend zu beeinträchtigen, dass der Verletzte schwer getroffen ist und beträchtlich darunter zu leiden hat (Paeffgen/Böse in: NK-StGB, 5. Aufl. 2017, StGB § 224 Rn. 16). Ein Tätowiergerät hat nicht per se eine solche Eignung, sondern es kommt auf die konkrete Art seiner Verwendung an. Eine Tätowierung kann nach den heute gesellschaftlich allgemein vorherrschenden Vorstellungen nicht an sich schon als erhebliche Beeinträchtigung des Erscheinungsbildes in dem o.g. Sinne angesehen werden. Auch der Vorgang des Tätowierens begründet nicht an sich schon ein erhebliches Leiden. Allerdings erscheint eine Eignung zum Hervorrufen erheblicher Verletzungen denkbar, etwa wenn das Tätowiergerät nicht hinreichend desinfiziert wurde und es deswegen zu schwerwiegenden Entzündungen kommt oder wenn sie in der Hand eines Ungeübten falsch verwendet wird und deswegen gravierendere Verletzungen (etwa durch falsche Aufstellung oder übermäßigen Druck in tieferen Gewebeschichten) hervorruft. Vorliegend ist lediglich festgestellt worden, dass die Angeklagte keine gelernte Tätowiererin ist, aber offenbar bei sich selbst bereits mehrere Tätowierungen angebracht hatte. Außerdem war ihr die Infektionsgefahr bei mangelnder Hygiene bewusst. Dies war gerade der Grund, warum sie selbst die Tätowierung bei ihrer Tochter vornehmen wollte. Es hätte vorliegend daher näherer Feststellungen zur Art des Gerätes bedurft (etwa, ob es so gebaut ist, dass auch bei ungeübter Verwendung ein Vordringen in tiefere Gewebeschichten ausgeschlossen ist) sowie auch zur Erfahrung und Übung der Angeklagten bei Anbringung von Tätowierungen, also insbesondere, ob die Tätowierungen aus der Laienhand der Angeklagten nicht zwangsläufig entstellend wirken und welche Hygienemaßnahmen sie ergriffen hat. Ferner kann für die konkrete Art der Verwendung von Bedeutung sein, in welcher Weise die Angeklagte das Tätowiergerät eingesetzt hat (etwa: Umfang der Druckausübung; Beeinträchtigung der Bedienfähigkeit nach Konsum berauschender Mittel etc.).“

AE III: Akteneinsicht des Nebenklägers, oder: Aussage-gegen-Aussage

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Und als dritte Entscheidung dann noch der OLG Hamm, Beschl. v. 06.09.2021 – 4 Ws 153/21 – zur Akteneinsicht an die Vertreterin der Nebenklägerin in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Dazu das OLG:

„Der Senat kann dahinstehen lassen, ob in Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, bei Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin generell eine Gefährdung des Untersuchungszwecks i.S.v. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO zu gewärtigen ist (OLG Hamburg, Beschl. v. 21.03.2016 – 1 Ws 40/16 – juris; Eisenberg JR 2016, 390, 394; Hinderer StraFo 2016, 76 ff.) oder ob eine solche erst nach Betrachtung der Umstände des Einzelfalls angenommen werden kann (so etwa: KG Berlin StraFo 2019, 116 f.; OLG Braunschweig StraFo 2016, 75, 76; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.02.2021 – 2 Ws 27/21 – juris). Auch wenn man der zweiten Auffassung folgt, führt die Ausübung des durch die Norm eingeräumten Ermessens, zu dessen Überprüfung der Senat mangels gesetzlicher Beschränkung der Überprüfungskompetenz (wie etwa in § 453 Abs. 2 StPO) in vollem Umfang berufen ist (vgl. § 309 Abs. 2 StPO), dazu, im vorliegenden Fall nur eine eingeschränkte Akteneinsicht in dem vom Landgericht vorgenommenen Umfang zu gewähren. Der Angeklagte bestreitet die Tat und es liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor. Es wird daher im Hauptverfahren auf eine eingehende Würdigung der den Angeklagten belastenden Aussage der Nebenklägerin einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte und Aussagekonstanz ankommen. Zwar drängt die Kenntnis der Verfahrensakten nicht zur Annahme der Unrichtigkeit von Aussagen und mit der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts geht nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (BGH JR 2016, 390 und BGH JR 2016, 391). Auch ist vorliegend angesichts des geringen Alters der Nebenklägerin und der Zusicherung der Nebenklägervertreterin, ihr den Akteninhalt nicht zugänglich zu machen, nicht zu gewärtigen, dass die Nebenklägerin ihre verschriftlichte Aussage bzw. Teile der verschriftlichten Aussage ihrer Mutter gleichsam „zum Auswendiglernen“ erhält. Andererseits war die Aussage der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren bei der Polizei so detailarm (und Angaben zum Tatgeschehen erfolgten eher mühsam und auf immer erneute Vorhalte), dass die Kenntnis der Akteninhalte – und sei dies auch nur durch entsprechende Vorhalte im Rahmen eines vorbereitenden Gesprächs mit der Nebenklägervertreterin – sehr wohl die Würdigung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Hauptverfahren erschweren und damit den Untersuchungszweck gefährden könnte. Demgegenüber ist die Beeinträchtigung der Rechte der Nebenklägerin gering, denn – wie der Nichtabhilfebeschluss zutreffend ausführt – ihrer anwaltlichen Vertreterin kann unmittelbar nach ihrer Vernehmung bzw. der Vernehmung ihrer Mutter und noch vor Entlassung dieser Zeugen Akteneinsicht gewährt werden, so dass diesen entsprechende Vorhalte – nach einer zunächst von etwaigen Kenntnissen der Akteninhalte unbeeinflussten Aussage – gemacht werden können. Sollte eine längere Verhandlungspause innerhalb eines Verhandlungstages für die Wahrnehmung der Akteneinsicht nicht ausreichen, wird das Landgericht ggf. auch die Anberaumung eines weiteren Fortsetzungstermins in Erwägung ziehen müssen.“

Voraussetzungen einer DNA-Identitätsfeststellung, oder: Straftat von erheblicher Bedeutung

Ich starte in die neue Woche mit einigen Entscheidungen zur DNA-Identitätsfeststellung (§ 81g StPO). Zunächst hier der OLG Hamm, Beschl. v. 14.04.2021 – 4 Ws 36/21 – zur Straftat von erheblicher Bedeutung

„Der Angeklagte ist einer Straftat von erheblicher Bedeutung, nämlich des vierzehnfachen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, verdächtig (§§ 29, 30 Abs. 1 Nr. 1 BtMG). Er hat über fast drei Monate hinweg mit zwei Mittätern den Handel von mehreren Kilo Marihuana organisiert betrieben, so dass sich aus Art und Ausführung der Tat – insbesondere aus der Verflochtenheit mit anderen Rauschgifthändlern – bereits die Annahme ergibt, dass gegen ihn künftig Strafverfahren von ähnlicher Bedeutung zu führen sein werden. Der Umstand, dass der Angeklagte noch nicht vorbestraft ist, vermag angesichts der Anzahl bandenmäßig begangener Verbrechen an dieser Einschätzung nichts zu ändern (so auch OLG Brandenburg, BeckRS 1999, 03153).“

OWi I: Leivtec XV 3 ist nicht mehr standardisiert, oder: OLG Hamm stellt auch ein

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So, heute dann noch einmal/wieder OWi-Entscheidungen.

Zunächst noch einmal Leivtec XV 3, und zwar im OLG Hamm, Beschl. v. 16.09.2021 – 1 RBs 115/21. Das OLG hat ein Verfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung eingestellt.

„Der Senat hält eine Einstellung des Verfahrens gemäߧ 47 Abs. 2 OWiG, zu der die Generalstaatsanwaltschaft und die Betroffene bzw. ihr Verteidiger angehört worden sind, aus den nachfolgenden Gründen für sachgerecht:

Der Senat schließt sich der Bewertung der Oberlandesgerichte Oldenburg (Beschlüsse vom 20.04.2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 -, vom 19.07.2021 – 2 Ss (OWi) 170/21 -, und vom 26.08.2021 – 2 Ss (Owi) 199/21 -, jeweils veröffentlicht bei juris), Celle (Beschluss vom 18.06.2021 — 2 Ss (OWi) 69/21-, juris) und Stuttgart (Beschluss vom 10.06.2021 — 6 Rb 26 Ss 133/21 -, beck-online) an, dass es sich bei einer Geschwindigkeitsmessung mit einem Messgerät vom Typ Leivtec XV3 angesichts der von der PTB bestätigten unzulässigen Messwertabweichungen in speziellen Konstellationen (vgl. hierzu: Zwischenstand im Zusammenhang mit mutmaßlichen Messwertabweichungen beim Geschwindigkeitsüberwachungsgerät Leivtec XV3, Stand: 27.05.2021, Physikalisch-Technische Bundesanstalt, D01: 10.7795/520.20210527 und Abschlussstand im Zusammenhang mit unzulässige Messwertabweichungen beim Geschwindigkeitsüberwachungsgerät Leivtec XV3, Stand: 09.06.2021, Physikalisch-Technische Bundesanstalt, D01: 10.7795/520.20210609) insgesamt nicht mehr um ein standardisiertes Messverfahren im Sinne der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs handelt. Die hiervon abweichende Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig vom 17. August 2021 (II OLG 26/21, juris), in welcher die fortbestehende Qualifizierung der Messgeräte vom Typ Leivtec XV3 als standardisiertes Messverfahren primär damit begründet wird, dass bei Messungen mit Fahrzeugen, die – wie in den Versuchsreihen der PTB – mit Reflektoren im Innenraum versehen sind, unter gleichen Bedingungen gleiche Ergebnisse – wenn auch ggf. mit Werten, die nicht der gefahrenen Geschwindigkeit entsprächen – zu erwarten seien, überzeugt nicht. Insofern wird auf den Beschluss des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 26.08.2021 (2 Ss (Owi) 199/21, juris) verwiesen, der sich mit der zeitlich vorausgegangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Schleswig ausführlich und für den Senat überzeugend auseinandersetzt.“

Die Kostenentscheidung, die lautete:

 „Im Rahmen der Kostenentscheidung hat der Senat gemäß §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 4 StPO davon abgesehen, der Staatskasse die notwendigen Auslagen der Betroffenen aufzuerlegen, da der Tatnachweis im Hinblick auf die Höhe der der Betroffenen zur Last gelegten Geschwindigkeitsüberschreitung nach wie vor unter Einholung eines Sachverständigengutachtens geführt werden könnte. „

ist m.E. Murks.