Schlagwort-Archive: OLG Dresden

Zuständigkeit II: Umfangreicheres BtM-Verfahren, oder: Strafmaßprognose bestimmt die Gerichtszuständigkeit

© artefacti – Fotolia.com

In der zweiten Entscheidung, dem OLG Dresden, Beschl. v. 05.12.2022 – 2 Ws 230/22 – geht es auch um ide Problemati: AG oder LG?, und zwar in einem BtM-Verfahren. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen strafbar gemacht zu haben. Er soll am 15.05.2020 insgesamt sechs Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % Tetrahydrocannabinol (THC) für 33.000,00 EUR angekauft und gewinnbringend für mindestens 36.000,00 EUR weiterveräußert haben. Außerdem soll er im Zeitraum vom 25.05.2020 bis 28.05.2020 weitere fünf Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % THC erworben und für 26.000,00 EUR weiterverkauft haben. Schließlich wird dem Angeklagten angelastet, am 11.06.2020 abermals zwei Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % THC zu einem Preis von 10.000,00 EUR gekauft und anschließend für 11.000,00 EUR weiterverkauft zu haben. Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf bislang nicht geäußert. Er ist nach den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten.

Das LG hat die Anklage ohne Änderungen zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren aber abweichend vom Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem AG – Schöffengericht — eröffnet. Dagegen die sofortige Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte:

„Die Zuständigkeit des Landgerichts ist im vorliegenden Fall weder aufgrund der Straferwartung im Einzelfall noch deshalb eröffnet, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

a) Die Zuständigkeit des Landgerichts Leipzig ergibt sich nicht aus § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG.

Nach § 24 Abs. 1 GVG liegt die sachliche Zuständigkeit der ersten Instanz grundsätzlich bei den Amtsgerichten (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 1959 -1 BOR 295/58 = BVerfGE 23, 223 (227); Eschelbach in Beck-OK GVG, 16. Ed., 15. August 2022, § 24, Rn. 6). Eine Ausnahme von diesem Leitbild für den gesetzlichen Richter kann sich aus den Nr. 1 bis 3 der Vorschrift ergeben. Für die Verschiebung der Zuständigkeit nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG aufgrund der Begrenzung des Strafbanns für Amtsgerichte auf vier Jahre (§ 24 Abs. 2 GVG) ist maßgeblich, Ob im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre (Gesamt-)Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Das bedeutet, dass bei einer überschlägigen Prognoseentscheidung unter Abwägung der für die Strafzumessung maßgeblichen Umstände eine jedenfalls höhere Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass eine Strafe von mehr ais vier Jahren ausgesprochen wird, Es kommt insofern nicht darauf an – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung ausführt —es sei (lediglich) „nicht auszuschließen, dass eine Gesamtfreiheitsstrafe von über vier Jahren zu verhängen sein könnte“.

Die Strafmaßprognose zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit ist zunächst von der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung und sodann vom Gericht bei der Eröffnungsentscheidung einzelfallbezogen vorzunehmen. Dabei obliegt dem Gericht nicht nur eine Nachprüfung der Zuständigkeitsauswahl der Staatsanwaltschaft, sondern mit der Prüfung auch eine gerichtliche Entscheidung über den vorbestimmten gesetzlichen Richter (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 10). Für die zu treffende Prognoseentscheidung besteht ein weiter Beurteilungsspielraum (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2015 – 2 StR 405/14, juris), der im Rahmen seiner Entscheidung dem Landgericht zusteht.

Die vorliegend getroffene Entscheidung bewegt sich im Rahmen dieses Beurteilungsspielraumes, Die Strafkammer hat – auch unter Beachtung der ergänzenden Ausführungen im Ver-merk vom 25. Juli 2022 – anhand sachlicher Erwägungen und unter Benennung der für die Strafzumessung bestimmenden Umstände eine nicht zu beanstandende Prognoseentscheidung getroffen. Die Kammer hat unter konkretem Verweis auf die beim Landgericht Leipzig für vergleichbare Fälle bestehende Spruchpraxis nachvollziehbar dargelegt, welche Einzelstrafen zu erwarten sein werden. Zwar binden in anderen Verfahren verhängte Einzelstrafen die Strafkammer für ihre Urteilsfindung nicht. Gleichwohl ist die Orientierung am im Gerichtsbezirk für vergleichbare Taten üblicherweise verhängten Strafmaß ein geeignetes Beurteilungskriterium für die zu treffende Prognose, Es bewegt sich deshalb im Rahmen des der Kammer zustehenden Beurteilungsspielraums, wenn diese unter Beachtung der im Vergleich zu anderen Verfahren deutlich geringeren Betäubungsmittelmengen der ,,weichen Droge“ Marihuana, vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte zwar nicht geständig, aber bislang auch nicht vorbestraft ist, Einzelstrafen von deutlich unter drei Jahren erwartet. Dass das Landgericht schließlich bei den innerhalb nur eines Monats liegenden Tatzeitpunkten für eine im verurteilungsfall zu bildende Gesamtstrafe auf einen engen zeitlichen, sachlichen und situativen Zusammenhang abstellt und unter Beachtung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren nicht prognostiziert, überschreitet die Grenze des Beurteilungsspielraums ebenfalls nicht.

b) Die Zuständigkeit des Landgerichts ergibt sich auch nicht aus § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

Voraussetzung des § 24 Abs, 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ist grundsätzlich, dass die Staatsanwaltschaft gerade wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung der Sache zum Landgericht anklagt. Die Vornahme dieser Einschätzung hat sie regelmäßig in der Anklageschrift darzulegen. Mitzuteilen sind die Umstände, aus denen die Staatsanwaltschaft den besonderen Umfang oder die besondere Bedeutung der Sache ableitet. Etwas anderes gilt nur, wenn die Anknüpfungspunkte dafür bereits offensichtlich sind (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 18; BGH, Beschluss vom 10. Februar. 1998 – 1 StR 760/97; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 24 GVG, Rn. 5; RiStBV Nr. 113 Abs. 2). Vorliegend wäre die Staats-anwaltschaft zu solchen Ausführungen verpflichtet gewesen, da sich unter Beachtung des Ausnahmecharakters des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ein besonderer Umfang oder eine besondere Bedeutung der Sache nicht aufdrängen.

Ungeachtet dessen ist der Senat nicht gehindert, die Eröffnungsentscheidung des Landgerichts auch unter diesem Gesichtspunkt zu überprüfen. Denn der „besondere Umfang“ und die „besondere Bedeutung des Falles“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Insofern hat die Staatsanwaltschaft auch keinen Beurteilungs- oder -Ermessensspielraum für eine Anklageerhebung zum Landgericht (vgl. BVerfGE 9, 223 (227), Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Auf ihre sofortige Beschwerde, mit der sie auch auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG abstellt, ist deshalb die umfassende Überprüfung der Zuständigkeitsentscheidung möglich (vgl. KG Berlin, Beschluss -vom 27. September 2004 – 5 Ws 255/04; OLG Hamburg, Beschluss vom 4. März 2005 – 2 Ws 22/05; Schuster in Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2018, § 24 GVG, Rn. 5).

Im Ergebnis. dieser Überprüfung sind weder ein besonderer Umfang noch eine besondere Bedeutung der vorliegenden Sache im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG gegeben.

Ein besonderer Umfang der Sache kann sich in einer Gesamtschau aus der Zahl der Angeklagten, der Zahl der vorgeworfenen Taten, aus dem Umfang des Aktenmaterials und der zu erwartenden Beweisaufnahme und Verfahrensdauer ergeben (vgl. Beck-OK GVG, Rn. 14, OLG Karlsruhe, StV 2011, 614; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Die besondere Bedeutung der Sache kann auf rechtlichen oder tatsächlichen Gründen beruhen, wobei das Ausmaß der Rechtsverletzung, die Auswirkungen der Straftat, eine Erhöhung des Unrechtsgehalts durch eine herausragende Stellung des Angeklagten oder des Verletzten in den Blick zu nehmen ist. Im Ergebnis dieser Betrachtung muss schließlich beurteilt werden, ob es sich um ein Verfahren handelt, welches sich aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen (auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität) heraushebt oder es um die Entscheidung einer für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle bedeutsame Rechtsfrage geht (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 16, Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 8).

Solche Umstände liegen für das hiesige Verfahren, das einer Einzelfallbetrachtung zu unter-ziehen ist, nicht vor. Dies gilt auch unter Beachtung dessen, dass es sich um ein Verfahren aus den „Encrochat-Fällen handelt. Die Sachakten bestehen derzeit aus lediglich zwei Leitzordnem Sachakten mit insgesamt 573 Seiten sowie neun Sonderbänden (sechs Leitzordner und drei Aktenbände). Bedeutsame Rechtsfragen sind geklärt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 — 5 StR 457/21; OLG Dresden, Beschluss vom 16. Juni 2021 -3 Ws 37/21 und Beschluss vom 25. August 2021 – 3 Ws 63/21; OLG Delle Beschluss vom 12. August 2021 — 2 Ws 250121).“

StGB II: Beleidigung der Polizei bei der Kontrolle, oder: „Zum Kotzen eure Scheiß-Arbeit… so eine Lappalie…“

Bild von Alexas_Fotos auf Pixabay

Und als zweite Entscheidung zum StGB mal wieder etwas zur Beleidigung, und zwar der OLG Dresden, Beschl. v. 05.12.2022 – 1 OLG 22 Ss 550_22. In der Entscheidung nimmt das OLG zur Beleidigung von zwei Polizeibeamten Stellung. Das AG hatte den Angeklagten wegen Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 60,00 € verurteilt worden.

Das AG hatte folgende Feststellungen getroffen: Der mit einem Fahrzeug im Straßenverkehr fahrende Angeklagte sei infolge der Verwendung eines Mobiltelefons einer Kontrolle unterzogen worden und habe, nachdem er aus seinem Fahrzeug ausgestiegen sei, in Richtung der ihn kontrollierenden Polizeibeamten unter anderen geäußert „Zum Kotzen eure Scheiß-Arbeit, das alles wegen so einer Lappalie, was ist euer Scheiß-Problem“, um seine Missachtung auszudrücken. Da ein Gespräch mit dem Angeklagten nicht möglich gewesen sei, hätten die Polizeibeamten schließlich die Kontrolle beendet.

Das OLG sagt/meint: Das reicht nicht für § 185 StGB:

„Die Feststellung einer Strafbarkeit nach § 185 StGB erfordert daher regelmäßig eine fallbezogene Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen (BVerfGE 93, 266, 292). Ausgangspunkt dieser Abwägung ist die zutreffende Deutung des Aussageinhalts. Da schon auf der Deutungsebene Vorentscheidungen über die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Äußerungen fallen, ergeben sich aus dem Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht nur Anforderungen an die Auslegung und Anwendung des § 185 StGB, sondern auch an die Deutung der inkriminierten Äußerung. Bei dieser Deutung ist vom Wortlaut auszugehen. Zusätzlich bestimmt sich der Sinn einer Äußerung nach ihrem sprachlichen Kontext und den erkennbaren Begleitumständen, unter denen sie fällt. Ein Gericht verstößt bei der Anwendung des § 185 StGB insbesondere auch dann gegen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, wenn es bei einer mehrdeutigen Äußerung die zur Verurteilung führende Deutung zugrundelegt, ohne vorher andere mögliche Deutungen, die nicht völlig fernliegen, mit schlüssigen Argumenten ausgeschlossen zu haben (BVerfGE 93, 266, 295).

Zwar tritt die Meinungsfreiheit bei Äußerungen, die sich als Schmähung erweisen, regelmäßig hinter den Ehrschutz zurück (BVerfGE 93, 266, 303). Wegen seines die Meinungsfreiheit ver-drängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik jedoch eng zu definieren. Danach macht auch eine überzogene oder gar ausfällige ehrverletzende Kritik eine Äußerung für sich genom-men noch nicht zur Schmähung. Eine Äußerung nimmt diesen Charakter erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern – jenseits auch von polemischer oder überspitzter Kritik – die Diffamierung der Person im Vordergrund steht (BVerfGE 93, 266, 303). Das kann etwa bei der Verwendung besonders schwerwiegender Schimpfwörter der Fall sein (BVerfG, NJW 2009, 3016, 3017).

b) Bereits die Wertung des Amtsgerichts, die Äußerungen des Angeklagten seien Ausdruck (personenbezogenen) Miss- und Nichtachtung der beiden handelnden Polizeibeamten, hält der Nachprüfung anhand der vorgenannten Maßstäbe nicht stand. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden hat dazu in ihrer Antragsschrift vom 26. August 2022 unter anderem Folgendes aus-geführt:

„Zwar hat das Gericht festgestellt, dass in der Äußerung des Angeklagten auch eine Unzufriedenheit mit der Polizeikontrolle insgesamt zu erkennen sei, ging aber nachfolgend ausschließlich von einer personenbezogenen, herabsetzenden Äußerung aus. Dabei setzt es sich jedoch nicht mit dem gesamten Wortlaut der in Rede stehenden Äußerung auseinander, in deren Mittelteil ausschließlich auf die Maßnahme als solche abgestellt wird („das alles wegen so einer Lappalie“) und der insoweit die vor- und nachfolgenden Begriffe „Scheiß-Arbeit“ und „Scheiß-Problem“ diesem Kontext unterstellt. Auch findet sich in der Äußerung keine direkte Bezeichnung der handelnden Polizeibeamten, so dass die alleinige Sinnermittlung des Gerichts, im Rahmen der Äußerung sei eine Auseinandersetzung des Angeklagten in der Sache insgesamt nicht erkennbar, nicht haltbar ist“.

 

Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.“

Ersatz des Verdienstausfall nach Verkehrsunfall, oder: Was ist mit einer „falschen“ Krankschreibung?

Bild von Steve Buissinne auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung, die ich vorstellle, handelt es sich um das OLG Dresden, Urt. v. 13.07.2022 – 1 U 2039/21. Es behandelt eine Frage, die bisher in der obergerichtlichen Rechtsprechung noch nicht entschieden ist, nämlich die Frage nach Ersatz des Verdienstausfall: in Zusammenhang mit einer „falschen“ Krankschreibung.

Im entschiedenen Fall hatte das LG dem bei einem Verkehrsunfall verletzten Kläger Verdienstausfall für nur 2 1/2 Monate und nicht für die gesamte Zeit seiner Krankschreibung, die erheblich länger gedauert hatte, zugesprochen. Der Kläger hatte sich auf eine Krankschreibung bezogen, die aber nicht zutreffend war. LG und OLG haben das nicht ausreichen lassen.

Dazu der Leitsatz aus der umfangreichen begründeten OLG-Entscheidung:

Dem Geschädigten steht gegenüber dem Schädiger kein Anspruch auf Schadenersatz wegen Verdienstausfall zu, wenn er im berechtigten Vertrauen auf eine objektiv falsche Krankschreibung nicht arbeitet und deshalb einen Verdienstausfall erleidet. Der Geschädigte muss vielmehr nachweisen, dass er tatsächlich objektiv arbeitsunfähig war.

Das OLG hat im Übrigen die Revision gegen sein Urteil zugelassen:

„Die Revision war gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zuzulassen, soweit die Berufung des Klägers hinsichtlich der Erstattung eines weiteren Verdienstausfalles zurückgewiesen worden ist.

Der Rechtsstreit hat insoweit grundsätzliche Bedeutung. Es gibt – soweit ersichtlich – weder höchstrichterliche noch obergerichtlichen Entscheidungen zu der Frage, ob im Verhältnis zwischen Schädiger und Geschädigten letzterem ein Anspruch auf Verdienstausfall für die gesamte Zeit der Krankschreibung zusteht, wenn er – wie hier der Kläger – hierauf berechtigterweise vertraut, sich aber im Nachhinein herausstellt, dass eine Krankschreibung objektiv nicht oder zumindest nicht während der gesamten Zeit der Krankschreibung unfallbedingt und damit berechtigt war. Das Auftreten der Frage ist in einer unbestimmten Vielzahl von Fällen zu erwarten und berührt daher das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts (Zöller/Heßler, ZPO, 34. Aufl., § 543 Rdnr. 11). Zudem ist die rechtliche Würdigung der Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 16.10.2001 und vom 23.06.2020, die allerdings im Bereich des Drittleistungsrechts ergangen sind, wie sie der Kläger vornimmt, nämlich dass bereits das berechtigte Vertrauen des Geschädigten auf die Krankschreibung maßgebend für einen Anspruch auf Verdienstausfall wegen Arbeitsunfähigkeit ist, durchaus vertretbar.“

Bewährungsbeschluss fordert Drogenscreening, oder: Wer trägt die Kosten?

Bild von Philippe Delavie auf Pixabay

Im Rahmen der Strafvollstreckung kann sich die Frage stellen, wer für die Kosten, die sich aus der Erfüllung einer (Bewährungs)Weisung nach § 56c StGB ergeben, aufkommt. Zur Auswahl stehen die Staatskasse und der Verurteilte. Zu der Frage/Auswahl nimmt der OLG Dresden, Beschl. v. 31.08.2022 – 2 Ws 144/22 – Stellung.

Folgender Sachverhalt: Die Verurteilte ist wegen diverser Drogendelikte mehrfach verurteilt worden. Nach einer Teilverbüßung einer der Strafen habe die beteiligten Staatsanwaltschaften als zuständige Vollstreckungsbehörden die (teilweise weitere) Strafvollstreckung mit Zustimmung der jeweiligen erstinstanzlichen Gerichte gemäß § 35 Abs. 1 BtMG zur Aufnahme einer Drogenabstinenztherapie zurückgestellt. Im Sommer 2019 sind dann die nach Anrechnung der erfolgreichen Therapiezeit verbliebenen Strafreste gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG zur Bewährung ausgesetzt worden. Die Weisungsanordnungen der Gerichte sahen jeweils u.a. vor, dass sich die Verurteilte zur Kontrolle ihrer weiteren Drogenabstinenz bis zu 4 x (zw. bis zu 6 x  entsprechenden Untersuchungen von Urin- und/oder Haarproben zu unterziehen habe, deren Intervalle von der Bewährungshilfe vorgegeben würden. Die hierfür anfallenden Kosten seien von der Verurteilten selbst zu tragen.

Mit Schreiben vom 26.01.2022 teilte die Bewährungshilfe in Rahmen eines Berichts aus besonderem Anlass mit, dass die Lebensumstände der Verurteilten derzeit kaum feststellbar konstant seien. Die Strafvollstreckungskammer hat daraufhin die in den Ausgangsbeschlüssen getroffenen Weisungen dahin abgeändert, dass sich die Verurteilte den jeweiligen Urinkontrollen durch den „TÜV Thüringen zu unterziehen [habe], wobei die Kosten für die Screenings der Staatskasse auferlegt werden, solange die Verurteilte Arbeitslosengeld II bezieht.“ Gegen diese Entscheidungen wendet sich die Verurteilte Zur Begründung ist ausgeführt, sie habe keine Veranlassung gegeben, „weitere Weisungen“, erteilt oder verschärft zu bekommen, zumal sie den bisherigen Anordnungen beanstandungsfrei nachgekommen sei. Insbesondere die Verpflichtung, die künftigen Drogenfreiheitsnachweise ausschließlich über den TÜV Thüringen erbringen zu können, sei wegen der damit verbundenen wesentlich höheren Kosten unverhältnismäßig. Ihre bisherigen – negativ ausgefallenen – Nachweise habe ihre Krankenkasse übernommen, zumal dies im Therapieabschlussbericht vorgegeben worden sei. Sofern ihre derzeitige Suche nach einem Arbeitsplatz Erfolg zeitigen und sie deshalb ihre Bezugsberechtigung für ALG II verlieren sollte, wäre sie mit erheblichen Mehrkosten belastet, was bei der Anzahl von bis zu sechs Screenings pro Jahr unzumutbar sei. Ein Änderungsbedarf  habe nicht vorgelegen. Die Strafvollstreckungskammer hat den Beschwerden nicht abgeholfen und die Sachen dem OLG zur Entscheidung vorgelegt. Die Beschwerde war erfolgreich. Das OLG führt zu der hier interessierenden Frage aus:

„c) Eine gesetzliche Regelung zur Übernahme der Kosten für diese Anordnungen besteht nicht. Zwar bestimmt § 465 StPO grundsätzlich, dass die Kosten eines Strafverfahrens vom Verurteilten zu tragen sind; hierzu gehören auch die Kosten der Vollstreckung (§ 464a Abs. 1 Satz 2 StPO). Aufwendungen zur Erfüllung einer Weisung nach § 56c StGB zählen aber nicht hierzu, da es sich dabei nicht um Kosten für die Vollstreckung der gerichtlichen Sanktion handelt. Allerdings hat die Verurteilte diese Aufwendungen grundsätzlich nach dem Veranlassungsprinzip zu tragen, weil sie die Drogenscreenings mit ihren Straftaten erst erforderlich gemacht hat (vgl. Senat, Beschluss vom 02. November 2011 – 2 Ws 433/11, juris, Rdnr. 9 ff. [dort zu § 68b StGB]; OLG Nürnberg, Beschluss vom 23. März 2009 – 1 Ws 94/09, juris; OLG Jena NStZ-RR 2011, 296; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2014, 62; OLG Koblenz, Beschluss vom 08. Mai 2014 – 2 Ws 216/14, juris).

Die Zurechnung der Kosten findet ihre Grenze allerdings im verfassungsrechtlich verankerten Übermaßverbot und der Zumutbarkeitsklausel des § 56c Abs. 1 Satz 2 StGB. Als Folge einer erforderlichen Weisung können bei fehlender finanzieller Leistungsfähigkeit die Kosten subsidiär der Staatskasse auferlegt werden. Die Kostentragungspflicht des Staates ergibt sich in diesem Fall als Annex zu den Entscheidungen nach § 56c StGB (Senat a.a.O. Rdnr. 13; OLG Koblenz, Beschluss vom 18. Juli 2011 – 1 Ws 381/11; OLG Nürnberg a.a.O.; OLG Jena a.a.O.; OLG Karlsruhe NStZ-RR 2011, 30; NStZ-RR 2014, 62; OLG München NStZ-RR 2012, 324; OLG Braunschweig, Beschluss vom 18. November 2013 – 1 Ws 333/13 –, juris; s.a. BVerfG, Beschluss vom 27. Juni 2006 – 2 BvR 1392/02, juris = JR 2006, 480; OLG Bremen NStZ 2011, 216).

Wenngleich die Strafvollstreckungskammer die finanzielle Belastung der Verurteilten mit Blick auf die Anforderungen der Zumutbarkeit (vgl. BT-DrS 16/1993, Seite 19; Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 68b Rdnr 16) insofern gering halten wollte, als sie die anfallenden (hohen) Untersuchungsgebühren des Privatunternehmens TÜV Thüringen KG der Staatskasse aufbürdet, „…solange die Verurteilte Arbeitslosengeld II bezieht“, greift diese Regelung im Ergebnis zu kurz. Denn ungeachtet dessen, dass vom Hausarzt durchzuführende Screenings ärztlich empfohlen, als weiterführende Maßnahmen im Abschlussbericht der Reha-Klinik aufgeführt und daher gegenwärtig von der Krankenkasse übernommen werden, kann die von der Strafvollstreckungskammer derzeit gebrauchte Wendung zu einer nicht ausgeglichenen, sprunghaft starken Belastung der Verurteilten führen, sollte ihre Bezugsberechtigung für ALG II entfallen.

Aus dem vorgenannten Grund ist der Verurteilten die Möglichkeit einzuräumen, eine Kostenübernahme im Einzelfall herbeizuführen, wenn sie im Zeitpunkt der Aufforderung zu einem Drogenscreening nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten dieser Maßnahme (ganz oder teilweise) selbst zu tragen. Diese Verhältnisse hat die Verurteilte bei formloser Antragstellung unter Vorlage von Belegen darzutun. Als Maßstab für die daran anknüpfende Beurteilung der Unzumutbarkeit könnte die Strafvollstreckungskammer etwa die Regelungen analog der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (§§ 114 ff. ZPO) heranziehen. Eine nachgewiesene Leistungsunfähigkeit kann im Übrigen der Strafvollstreckungskammer unter weiteren Umständen auch Anlass geben, die Intervalle des Drogenscreenings zu verlängern oder von einer Fortführung dieser Maßnahme ganz abzusehen.“

Verkehrsrecht II: Nochmals Fahrverbot nach § 44 StGB, oder: Nebenstrafe als „gerechter Schuldausgleich“

© stockWERK – Fotolia.com

Als zweite Entscheidung des Tages stelle ich den OLG Dresden, Beschl. v. 07.07. 2022 – 2 OLG 22 Ss 299/22 – zum Fahrverbot nach § 44 StGB vor, und zwar eine Fortführung vom OLG Dresden, Beschl. v. 16.04.2021 – 2 OLG 22 Ss 195/21.

Das OLG nimmt noch einmal zum Sinn und Zweck des Fahrverbotes nach § 44 StGB Stellung:

„Der Revisionsführer beanstandet zu Unrecht, dass sich das Tatgericht mit den Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 2 StGB nicht auseinandergesetzt habe. Die Revision unterliegt diesbezüglich einem Missverständnis dieser Vorschrift, die keinen Zeitfaktor enthält und nunmehr auch Nicht-Verkehrsstraftaten erfasst.

Wie der Senat bereits ausgeführt hat (Beschluss vom 16. April 2021 – 2 OLG 22 Ss 195/21 – juris), wurde der Anwendungsbereich des Fahrverbots nach § 44 StGB mit der Gesetzesnovellierung 2017 wesentlich erweitert (BT-Drs 18/11272, Seite 14 ff.). Seine bis dahin allgemein anerkannte, auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Fahrverbot nach § 25 StVG zurückgehende Bedeutung als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme für Straftaten im Zusammenhang mit dem Straßenverkehr (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Juli 1969 – 2 BvL 11/69 –, juris Rdnr. 15) hat an Gewicht verloren. Statt dessen wurde den Tatgerichten mit der Erweiterung des Anwendungsbereichs ein „zielgenaueres“ (vgl. BT-Drs a.a.O., Seite 17) Mittel bereitgestellt, welches einerseits auch außerhalb von Verkehrsdelikten Anwendung finden kann und andererseits eine besser dosierte Gesamtsanktion aus Kombination und in Wechselwirkung mit der Hauptstrafe ermöglicht (BT-Drs a.a.O.).

Im Lichte des Zwecks dieser Novellierung ist die Gesetzesformulierung „zur Einwirkung auf den Täter erforderlich“ (§ 44 Abs. 1 Satz 2 StGB) daher nicht im Sinne der Denkzettelfunktion auszulegen (“noch“ erforderlich), sondern – korrespondierend mit der gesetzgeberischen Betonung der Pönalisierungsfunktion – als eine auf die Angemessenheit des Gesamtübels bezogenen Strafzumessungsrichtlinie. Die Rechtsfolge, bestehend aus Haupt- und/oder Nebenstrafe, soll im Verhältnis zum begangenen Unrecht gerechter Schuldausgleich sein. Die Nebenstrafe ist deshalb – losgelöst von einem präventiven Aspekt – „zur Einwirkung auf den Täter erforderlich“, wenn die Hauptstrafe allein nicht als gerechter Schuldausgleich ausreicht.

Der Senat vermag aus den genannten Gründen auch nicht den Überlegungen von Staudinger (jurisPR-StrafR 14/2021 Anm. 5 zum Senatsbeschluss vom 16. April 2021 (a.a.O.) zu folgen, der mit Blick auf die sich zum Fahrverbot nach § 25 StVG verhaltende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (a.a.O.) das Fahrverbot nicht als Kriminalstrafe verstanden wissen will. Seine Bezugnahme auf diese zum Ordnungswidrigkeitenrecht ergangene Rechtsprechung erscheint angesichts der amtlichen Begründung zur Gesetzesnovellierung 2017 (BT-Drs 18/11272, Seite 14 ff.) für eine Qualifizierung der hiervon zu unterscheidenden Kriminalsanktion nach StGB nicht überzeugend. Vielmehr wurde gerade die Pönalisierungsfunktion (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 03. Juni 2004 – Az.: 2 Ss 112/04 –, [juris Rdnr. 14] mit Verweis auf BT-Drs IV/651, Seite 12) dieser „echten“ (Neben-)Strafe stärker betont (BT-Drs  a.a.O. Seite 17).

Gemessen hieran werden die Urteilsgründe den an sie zu stellenden Anforderungen gerecht. Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache allein des Tatgerichts, dessen Aufgabe es ist, aufgrund der Hauptverhandlung die wesentlichen belastenden und entlastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Sie lässt vorliegend noch hinreichend erkennen, dass sich die Kammer der untrennbaren Wechselwirkung zwischen Haupt- und Nebenstrafe bewusst war, zumal sie „mit Blick auf die Höhe“ (UA S. 5) der wegen § 331 StPO begrenzten Geldstrafe (UA a.a.O.) ein zusätzliches Fahrverbot – ebenso wie bereits die Vorinstanzen – für erforderlich erachtet hat.“