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Verkehrsrecht I: Trunkenheitsfahrt, oder: Wenn im AG-Urteil aber auch gar nichts stimmt

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Heute dann mal ein wenig Verkehrsrecht. Und den Reigen eröffne ich mit dem OLG Celle, Beschl. v. 26.09.2018 – 3 Ss 25/18 -, den mir der Kollege Stahl aus Parchim geschickt hat. Er behandelt eine Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt (§ 316 StB) durch das AG Burgdorf, bei der aber auch gar nichts gestimmt hat. Das OLG holt zum „Rundumschlag“ aus und gibt auch einige „weiterführende Hinweise“:

„Das Urteil des Amtsgerichts ist auf die allgemeine Sachrüge hin aufzuheben. Die Feststellungen sind lückenhaft und die Beweiswürdigung des Amtsgerichts hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand.

Die Würdigung der Beweise ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts, das sich unter dem um-fassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden hat (§ 261 StPO). Das Revisionsgericht ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Beweiswürdigung des Tatgerichts mit Rechtsfehlern behaftet ist, weil sie Lücken oder Widersprüche aufweist, mit den Denkgesetzen oder gesicherten Erfahrungswissen nicht übereinstimmt oder sich so weit von einer Tatsachengrundlage entfernt, dass sich die gezogenen Schlussfolgerungen letztlich als reine Vermutung erweisen. (BGH, Urteil vom 12. Januar 2017 — 1 StR 360/16 —, Rn. 10, juris m.w.N.).

Gemessen an diesem Maßstab erweist sich die Beweiswürdigung des Amtsgerichts in mehreren Punkten als rechtsfehlerhaft.

1. Es bestehen bereits Widersprüche zwischen den Feststellungen und der Beweiswürdigung. Soweit das Amtsgericht festgestellt hat, dass der Angeklagte gegen 3:00 Uhr im Rahmen der verfahrensgegenständlichen Fahrt öffentliche Straßen befuhr und im Rahmen der Beweiswürdigung hingegen den Rückschluss zieht, frühestens um 2:30 Uhr sei es zum Unfall gekommen, steht dieses in einem unauflösbaren Widerspruch zueinander. Wenn das Unfallereignis um 2:30 Uhr eingetreten ist, kann der Angeklagte nicht um 3:00 Uhr die Fahrt auf der angegebenen Strecke vorgenommen haben. Dieses ist insoweit auch nicht unerheblich, da der Zeitpunkt des Fahrtendes für die hier vorgenommene Rückrechnung entscheidend ist.

2. Die der Rückrechnung zugrundeliegenden Feststellungen erweisen sich – gemessen an den oben dargestellten Maßstäben — lediglich als Vermutungen.

Die Berechnung bzw. Feststellung des Alkoholisierungsgrades beruht zunächst auf der Fest-stellung, dass der Unfall um frühestens 2:30 Uhr stattgefunden hat und nicht zwischen 1:30 Uhr — 1:45 Uhr wie vom Angeklagten angegeben. Als Feststellungsgrundlagen hat das Gericht hier den Umstand, dass es sich um eine um diese Uhrzeit befahrene Straße handelt sowie das Qualmen des Motors beim Eintreffen des Zeugen herangezogen.

Das Amtsgericht teilt bereits schon nicht mit, welche indizielle Bedeutung der Umstand der Straßennutzung für die Überzeugungsbildung hatte. Auch die Feststellung des qualmenden Motors lässt einen Schluss auf den vom Gericht festgestellten Unfallzeitpunkt nicht zu. Ein Erfahrungssatz, wie lange Qualm maximal nach einem Unfall aus dem Motorraum aufsteigt, existiert nicht. Insoweit hätte festgestellt und nachvollziehbar dargelegt werden müssen, warum ein Qualmen nicht über einen längeren Zeitraum hätte erfolgen können. Dieses wäre ¬ggf. unter Beteiligung eines Sachverständigen — unter ergänzender Feststellung wesentlicher Anknüpfungstatsachen wie etwa der Grund des Qualmens aufzuklären gewesen.

3. Die Feststellungen des Amtsgerichts zu der alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Angeklagten sind zudem unzureichend und halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Nach den von der Rechtsprechung aufgestellten Maßstäben ist die Annahme einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit vorliegend rechtsfehlerhaft.

Relative Fahruntüchtigkeit ist gegeben, wenn die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit zwar unterhalb des Grenzwertes liegt, aber aufgrund zusätzlicher Tatsachen der Nachweis alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit geführt werden kann (BGH, Urteil vom 22. April 1982 — 4 StR 43/82 —, BGHSt 31, 42-46, Rn. 6).

Dabei sind die an eine konkrete Ausfallerscheinung zu stellenden Anforderungen umso geringer, je höher die Blutalkoholkonzentration und je ungünstiger die objektiven und subjektiven Bedingungen der Fahrt des Angeklagten sind (BGH, Urteil vorn 22. April 1982 — 4 StR 43/82 BGHSt 31, 42-46, Rn. 8). Für die Annahme alkoholbedingter Ausfallerscheinungen ist eine Gesamtwürdigung sämtlicher Tatumstände unter Einbeziehung des Unfallhergangs und von Darlegungen zu der Kausalität zwischen der festgestellten Alkoholisierung und dem Unfallereignis erforderlich (Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 24. August 2015 — 2 Rv 104/15 —, Rn. 9, juris). Das Amtsgericht stellt insoweit darauf ab, dass aufgrund der auf dem Lichtbild erkennbaren Fahrspuren und dem nicht geplatzten Reifen ein alkohol-bedingter Fahrfehler gegeben sei. Insoweit hätte das Amtsgericht im Hinblick auf die hier vergleichsweise geringe Alkoholisierung klären müssen, dass es sich nicht um einen Fahrfehler handelt, der auch einem nicht alkoholisierten Fahrzeugführer hätte passieren können. Das Amtsgericht hätte daher weitere Feststellungen wie etwa zum Straßenverlauf, zur gefahrenen Geschwindigkeit und zu den Lichtverhältnissen treffen müssen.

Soweit das Amtsgericht hinsichtlich der Spurenlage anhand der Inaugenscheinnahme von Lichtbildern die Überzeugung hinsichtlich eines alkoholbedingten Fahrfehlers gewinnt, genügen diese Ausführungen bereits nicht den Darstellungserfordernissen an ein Urteil.

Das Amtsgericht teilt lediglich mit, dass auch die auf den Lichtbildern erkennbaren Fahrspuren deutlich ein Schleudern des Fahrzeuges erkennen lassen. Insoweit kann der Senat nicht nachvollziehen, aufgrund welcher Fahrspuren hier ein alkoholbedingter Fahrfehler gegeben sein soll.

Auch ist es dem Senat insoweit verwehrt, selbst Einblick in Lichtbilder zu nehmen. Eine ordnungsgemäße Verweisung gern. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO enthält das Urteil nicht. Hinsichtlich der Fahrspuren führt das Amtsgericht lediglich aus, dass Lichtbilder in Augenschein genommen worden seien. Es teilt bereits nicht mit, um welche Lichtbilder es sich handelt und verweist in diesem Zusammenhang auch auf keine Lichtbilder.

Soweit das Amtsgericht unter II. des Urteils im Rahmen der Feststellungen hinsichtlich der Unfallsituation gern. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO auf die Lichtbilder BI. 125 a,b,c, verweist, ist eine Verweisung in dieser Form nicht zulässig. § 267 Abs. 1 S. 3 StPO erlaubt wegen der weiteren Einzelheiten auf Abbildungen, die sich bei den Akten befinden, zu verweisen. Die Formulierung, dass hinsichtlich der Unfallsituation Bezug genommen werde, ist indes eine pauschale Bezugnahme auf eine Gesamtsituation und nicht auf Einzelheiten. Die Schilderung des „Aus-sagegehaltes“ der Abbildung darf nicht entfallen. Zudem ist eine Beschreibung des Wesentlichen in knapper Form erforderlich (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 267, Rn. 10 m.w.N.).

4. Soweit das Amtsgericht angeführt hat, dass der Angeklagte jedenfalls bei der Entnahme der Blutprobe eine lallende Aussprache, ein schwankendes Gleichgewicht und eine verzögerte Reaktion hatte, ist nicht auszuschließen, dass diese Umstände ebenfalls für die Bewertung einer relativen Fahruntüchtigkeit herangezogen wurden. Sofern das Amtsgericht davon ausgeht, dass ein Nachtrunk in der angegebenen Höhe stattgefunden hat, kann es die im Rahmen der Blutprobe dokumentierten Ausfallerscheinungen nicht heranziehen. Diese alkoholbedingten Ausfallerscheinungen stünden dann in einem kausalen Zusammenhang mit dem erheblichen Nachtrunk.“

Die „Segelanweisungen“ dann bitte im Volltext nachlesen…..,

Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach Freispruch, oder: Sicherungsverteidiger

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Die zweite gebührenrechtliche Entscheidung kommt auch vom OLG Celle. Es handelt sich um den OLG Celle, Beschl. v. 10.09.2018 – 1 Ws 71/18. Der ist – fast hätte ich geschrieben: ausnahmsweise 🙂 – richtig.

Es geht im Beschluss um die Erstattung von Wahlanwaltsgebühren für zwei (Pflicht)Verteidiger nach einem Freispruch. Dem ehemaligen Angeklagten ist im Verfahren ein versuchter Mord in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zur Last gelegt worden. Ihm wurde bereits im Ermittlungsverfahren im Rahmen der Haftbefehlsverkündung Rechtsanwalt Dr. T als Pflichtverteidiger beigeordnet. Im weiteren Verlauf ordnete der Kammervorsitzende des LG dem Angeklagten Rechtsanwalt Dr. M. als zweiten Pflichtverteidiger bei. Eine nähere Begründung findet sich in dem Beiordnungsbeschluss nicht. In einem Vermerk legte der Vorsitzende jedoch dar, dass aufgrund der zu erwartenden Dauer der Hauptverhandlung die Beiordnung eines zusätzlichen Verteidigers zur Sicherung des Verfahrens insbesondere vor dem Hintergrund des in Haftsachen zu beachtenden Grundsatzes der Beschleunigung geboten sei. Nach 21-tägiger Hauptverhandlung wurde der frühere Angeklagte durch Urteil des LG freigesprochen, wobei die Strafkammer die notwendigen Auslagen der Landeskasse auferlegte.

Beider Verteidiger haben dann aus abgetretenem Recht beantragt, die dem früheren Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen unter Berücksichtigung bereits erhaltener Pflichtverteidigergebühren festzusetzen. Dem ist der Rechtspfleger des LG bei der Dr. M. weitgehend nachgekommen – er war der erste. Bei der Rechtsanwalt Dr. T ebenfalls sind die zu erstattenden notwendigen Auslagen nur zu einem geringen Teil festgesetzt worden. Zur Begründung hat das LG ausgeführt, dass eine Erstattung der notwendigen Auslagen nach § 467 Abs. 1 StPO i.V.m. § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO nur insoweit in Betracht komme, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen oder in der Person des Rechtsanwalts ein Wechsel eintreten musste. Demzufolge setzte es Gebühren ab, die bereits gegenüber dem weiteren Verteidiger Dr. M festgesetzt worden waren.Das hat das OLG anders gesehen.

„3. Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg.

a) Im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 464b StPO wird die Höhe der Kosten und Auslagen festgesetzt, die ein Beteiligter einem anderen zu erstatten hat (vgl. Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, aaO, Rn. 1). Dabei geht das Landgericht zunächst zutreffend davon aus, dass nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO i.V.m. § 91 Abs. 2 Satz 2 ZPO die Kosten mehrerer Verteidiger grundsätzlich nur insoweit zu erstatten sind, als sie die Kosten eines Rechtsanwalts nicht übersteigen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, 61. Auflage, § 464a StPO Rn. 13). Dieser Grundsatz gilt auch für umfangreiche und schwierige Verfahren, insbesondere auch in Schwurgerichtssachen (vgl. KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online m.w.N.) und wird weder durch das durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistete Recht des Angeklagten auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren noch das Recht auf Hinzuziehung von bis zu drei Verteidiger gemäß § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO relativiert (vgl. BVerfG NJW 2004, 3319, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO aaO).

b) In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist jedoch anerkannt, dass dieser Grundsatz dann eine Ausnahme erfährt, wenn die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden Gründen – wie etwa zur Sicherung des Fortgangs des Verfahrens – erfolgt (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 25. Oktober 2012 – 2 Ws 176/12 –, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. September 2011 – 1 Ws 417/11 –, juris; OLG Dresden, Beschluss vom 19. Oktober 2006 – 1 Ws 206/06 –, juris; OLG Köln, Beschluss vom 09. August 2002 – 2 Ws 191/02 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 2014 – III-1 Ws 305/14 –, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04. Mai 2005 – III-3 Ws 62/05 –, juris; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 13, beck-online; aA Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 10. November 1993 – 1b Ws 255/93 –, juris).

Der überwiegenden Ansicht liegt die Erwägung zugrunde, dass der Freigesprochene durch den Umstand einer ihm nicht zuzurechnenden Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nicht benachteiligt werden darf. Dies steht auch in Einklang mit der verfassungsrechtlichen Vorgabe, wonach bei der Auslegung der gesetzlichen Verweisung in § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO auf § 91 Abs. 2 ZPO der Sinnzusammenhang aller einschlägigen Regelungen der Strafprozessordnung zu berücksichtigen ist und § 91 Abs. 2 ZPO lediglich als Grundsatzregel zu verstehen ist, die Ausnahmen zugänglich ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

c) Der Senat schließt sich der herrschen Ansicht an. Da jede Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 52 Abs. 1 Satz 1 RVG für diesen den vollen gesetzlichen Vergütungsanspruch entstehen lässt, auch wenn sie gegen den Willen des Angeklagten erfolgt (vgl. BeckOK RVG/Sommerfeldt/Sommerfeldt RVG § 52 Rn. 1, beck-online; KK-StPO/Gieg StPO § 464a Rn. 9-14, beck-online), wäre eine Versagung eines Erstattungsanspruchs nach § 464a Abs. 2 Nr. 2 StPO dann nicht gerechtfertigt, wenn die Umstände nicht in der Sphäre des Angeklagten liegen, sondern auf anderen ihm nicht zuzurechnenden Faktoren – wie etwa der Verfahrenssicherung – beruhen. Nur auf diese Weise wird dem Umstand hinreichend Rechnung getragen, dass bei einem freigesprochenen Angeklagte vorangegangenes strafbaren Verhaltens nicht als Grund für eine finanzielle Haftung in Betracht kommt und dieser daher nicht mit Kosten belastet werden darf, die aus von ihm selbst nicht zu vertretenen Gründen entstanden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. März 1984 – 2 BvR 275/83 –, BVerfGE 66, 313-323, Rn. 28).

Gemessen an diesen Grundsätzen waren vorliegend die Auslagen in Höhe der Wahlverteidigergebühren unter Anrechnung bereits erhaltener Vergütung als Pflichtverteidiger als notwendige Auslagen des Angeklagten dem Grunde nach erstattungsfähig. Zwar findet sich im Beiordnungsbeschluss vom 20. Juli 2017 keine Begründung für die Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers. Dem zuvor gefertigten Vermerk des Vorsitzenden Richters vom 18. Juli 2017 lässt sich diese hingegen zureichend entnehmen. Danach erfolgte die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers vor allem deshalb, um dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot unter Berücksichtigung der Interessen des Angeklagten an der Verteidigung durch den von ihm gewünschten Verteidiger seines Vertrauens hinreichend Rechnung zu tragen. Die zusätzliche Beiordnung war demnach nicht einem Verhalten des früheren Angeklagten, sondern dem Umstand geschuldet, dass der zunächst beigeordnete Verteidiger seines Vertrauens erklärt hatte, an einigen avisierten Hauptverhandlungsterminen verhindert zu sein. Die Verfahrenssicherung erfolgte damit aus Fürsorgegesichtspunkten zur Sicherung eines reibungslosen Verfahrens.“

Pflichtverteidiger bei richterlicher Vernehmung, nur Terminsgebühr, oder: Verteidigung zum Nulltarif

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Gebührenfreitag ist. Und das bedeutet: Es gibt gebührenrechtliche Entscheidungen. Die erste ist der OLG Celle, Beschl. v. 10.09.2018 – 3 Ws 221/18. Für mich ein Ärgernis.

Das OLG hat über folgenden Sachverhalt entschieden: Gegen den Beschuldigten war ein Verfahren wegen eines versuchten Tötungsdelikts anhängig. Für den Beschuldigten meldete sich Rechtsanwalt WX, der dem Beschuldigten gem. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO als Pflichtverteidiger beigeordnet wurde. Er erklärte er, der Beschuldigte werde von seinem Schweigerecht Gebrauch machen; weitere Einlassungen würden nur über ihn erfolgen. Rechtsanwalt WX beantragte außerdem, dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger gemäß § 141 Abs. 3 Satz 2 StPO für die anstehende Verkündung des Haftbefehls als Pflichtverteidiger beigeordnet zu werden. Sollte eine Terminsabstimmung mit ihm nicht möglich sein, benenne er Rechtsanwalt YZ oder Rechtsanwalt L. als Pflichtverteidiger für den anstehenden Vernehmungstermin. Zum Termin zur Verkündung des Haftbefehls erschien Rechtsanwalt L., ausweislich des Protokolls als Verteidiger/Terminsvertreter, und beantragte vorab Akteneinsicht, die ihm gewährt wurde. Hierzu wurde die Verhandlung für 5 Minuten unterbrochen. Die Akten hatten zu diesem Zeitpunkt einen Umfang von etwa 200 Seiten. Der Beschuldigte machte zur Sache keine Angaben. Rechtsanwalt L. beantragte sodann Aufhebung des Haftbefehls. Der Vollzug der Untersuchungshaft wurde aufrechterhalten. Sodann wurde Rechtsanwalt WX dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger beigeordnet und wurde Rechtsanwalt L. „für die heutige Haftbefehlsverkündung als notwendiger Verteidiger“ beigeordnet. Im weiteren Verfahren war Rechtsanwalt L. nicht mehr tätig.

Rechtsanwalt L. hat für seine Teilnahme am Termin zur Verkündung des Haftbefehls eine Grundgebühr nach Nr. 4100, 4101 VV RVG, eine Terminsgebühr nach Nummer Nr. 4102, 4103 VV RVG, eine Verfahrensgebühr nach Nummer 4104 VV RVG sowie eine Auslagenpauschale nach Nummer 7002 VV RVG geltend. Festgesetzt worden ist lediglich die Terminsgebühr. Die Erinnerung hatte keinen Erfolg.

Der Leitsatz der OLG-Entscheidung:

„Wird ein Rechtsanwalt nach § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO für die Verkündung eines Haftbefehls (oder eine sonstige richterliche Vernehmung) beigeordnet, entsteht regelmäßig nur eine Terminsgebühr nach Nr. 4103 VV RVG; Verfahrens- und Grundgebühr sowie die Auslagenpauschale fallen in solchen Fällen regelmäßig nicht an.“

Wer mag, kann die falsche Begründung des OLG im Volltext nachlesen. Ich erspare es mir hier und stelle lieber meine Kommentierung der Entscheidung im RVGreport und im StRR ein:

1. „Alle Jahre wieder“ oder „Und immer grüßt das Murmeltier“ – so könnte man die Entscheidung auch überschreiben. Denn mit ihr wird eine alte Diskussion an einer Stelle wieder aufgefrischt, an der sie noch weniger passt als an der ursprünglichen Stelle. Nämlich die Frage: Erhält ein Terminsvertreter für einen beigeordneten Rechtsanwalt in der Hauptverhandlung nur die Terminsgebühr und/oder auch die Grundgebühr und die Verfahrensgebühr? Das OLG Celle und einige andere OLG haben dazu in der Vergangenheit die Auffassung vertreten: Nur die Terminsgebühr (vgl. u.a. OLG RVGreport 2009, 226: wegen weiterer Nachweise Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Vorbem. 4.1 VV Rn 25 ff.). Dass das falsch ist, habe ich bereits dargelegt (vgl. Burhoff/Volpert/Burhoff, RVG, Nr. 4100 VV Rn 8 ff.). Die Argumentation gilt auch für den „Terminsvertreter“ bei einer richterlichen Vernehmung. Das OLG führt in seiner Entscheidung zu § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO nicht ein einziges neues Argument an, sondern zieht sich letztlich auf die „Argumentation“ „Das haben wir immer schon so gemacht“ zurück. Seine Auffassung wird auch nicht davon getragen, dass es offenbar meint, dass der bestellte Rechtsanwalt nicht in die Akten Einsicht nehmen müsse. Das Gegenteil ist der Fall und ist hier ja auch geschehen. Zudem verkennt das OLG, dass es eine isolierte Terminsgebühr nicht gibt. Mit der Tätigkeit des Rechtsanwalts ist das „Geschäft betrieben worden, was zur Grundgebühr und Verfahrensgebühr führt (Vorbem. 4 Abs. 2 VV RVG; Anm. zu Nr. 4100 VV RVG).

2. Wenn das OLG in seiner Entscheidung darauf hinweist, dass für den Fall einer ungewöhnlich umfangreichen Tätigkeit bei Teilnahme an einer richterlichen Vernehmung die Möglichkeit offen stehe, insoweit eine Pauschgebühr geltend zu machen, ist das schon fast zynisch. Denn, wenn der Verteidiger die Pauschgebühr nach § 51 Abs. 1 Satz 1 RVG beantragt, wird man ihm angesichts der restriktiven Praxis zur Gewährung eines Pauschgebühr sicherlich entgegenhalten, die gesetzliche Gebühr Nr. 4102 VV RVG in Höhe von 166 € sei zumutbar.

3. Wenn außerdem darauf hingewiesen wird, dass es „in praktischer Hinsicht auch im Hinblick auf die hierdurch ausgelösten Gebühren angeraten [erscheint], im Falle einer Beiordnung nach Maßgabe von § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO klarzustellen, dass diese lediglich für die Teilnahme an der richterlichen Vernehmung. resp. am Termin zur Verkündung eines Haftbefehls erfolgt“, ist eine solche Beschränkung überflüssig. Es ist dem OLG offenbar entgangen, dass die Bestellung nach § 141 Abs. 3 Satz 4 StPO immer nur für die Dauer der jeweiligen richterlichen Vernehmung erfolgt (Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 8. Aufl., 2019, Rn. 3426 ff.; Schlothauer StV 2017, 557; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 141 Rn 5d). Im Übrigen würde die Beschränkung auch nicht das gebührenrechtliche Probleme lösen.

4. Ich rufe nicht oft nach dem Gesetzgeber, hier tue ich es aber mal. Es geht nämlich m.E. nicht an, dass im Strafverfahren – u.a. im Hinblick auf die Vorgaben der EU – immer weitere Rechte des Beschuldigten geschaffen und weitere Termine eingeführt werden, sich aber offenbar niemand im BMJV Gedanken darüber macht, wie eigentlich die Teilnahme von Rechtsanwälten an solchen Terminen honoriert werden: Aufgrund der immer mehr anzutreffend Knauserigkeit und Sparsamkeit der Gerichte nämlich im Zweifel gar nicht bzw. wird der (Pflicht)Verteidiger mit dem nicht zielführenden Hinweis auf die Möglichkeit eines Pauschgebühr abgespeist. Das führt letztlich in vielen Fällen zu einer Verteidigung zum „Nulltarif“. Daher wäre es m.E. mehr als an der Zeit, in dem anstehenden KostRMoG nun endlich auch diese Fälle zu lösen und dafür zu sorgen, dass auch Verteidiger für ihre Tätigkeit angemessen entlohnt werden. Der „Gemeinsame Katalog von DAV und BRAK“ (vgl. RVGreport 2018, 202 ff.) bringt dazu allerdings leider nicht viel Neues. Er ist in meinen Augen viel zu „zivilverfahrenslastig“. Die Verteidiger und/oder das Strafverfahren kommen mal wieder zu kurz.“

Reststrafenaussetzung/Zwei-Drittel-Entscheidung, oder: Zwingend erforderliche mündliche Anhörung

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Bei der zweiten Entscheidung aus dem Bereich der Strafvollstreckung, die ich heute vorstelle, handelt es sich um den OLG Celle, Beschl. v. 22.08.2018 – 2 Ws 313/18. Problem: Notwendigkeit einer (nochmaligen) Anhörung im Verfahren der Reststrafenaussetzung nach § 57 StGB.

Die Strafvollstrekungskammer hatte den Antrag des Verurteilten als unzulässig verworfen. Das ging, so das OLG, nicht:

Der angefochtene Beschluss ist in einem Verfahren ergangen, das nicht frei von Rechtsfehlern ist. Die Strafvollstreckungskammer war nach Auffassung des Senats im derzeitigen Verfahrensstadium bereits gehindert, abschließend über die beantragte Aussetzung der Reststrafen zur Bewährung zu befinden. Insbesondere durften die entsprechenden Anträge des Verurteilten – ohne dessen persönliche Anhörung – nicht als unzulässig zurückgewiesen werden.

„1. Die erneuten Anträge des Verurteilten, die Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung auszusetzen, waren entgegen der Rechtsauffassung der Strafvollstreckungskammer nicht unzulässig.

Zutreffend hat die Strafvollstreckungskammer erkannt, dass ihre mit Beschluss vom 14.11.2017 gesetzte Sperrfrist nach § 57 Abs. 7 StGB von sechs Monaten Dauer bei Einreichung des Antrages durch die Verteidigerin am 13.06.2018 bereits abgelaufen war. Auch der Antrag des Verurteilten vom 01.05.2018 erforderte mit dem Ablauf der Sperrfrist am Tagesende des 13.05.2018 eine Entscheidung der Strafvollstreckungskammer in der Sache (vgl. zum Ganzen: Fischer, StGB, 65. Auflage 2018, § 57 Rn. 35 m.w.N.).

Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Verfahrensrecht. Die Vorschrift des § 454 Abs. 1 S. 3 StPO verpflichtet grundsätzlich zur mündlichen Anhörung des Verurteilten. Ein gesetzlich enumerierter Fall des § 454 Abs. 1 S. 4 Nr. 1-3 StPO, in dem der von der Anhörung abgesehen werden kann, liegt nicht vor. Der Verurteilte hat mit seinem Antrag auf neue Umstände hingewiesen. Solche ergeben sich zudem aus der aktuellen Stellungnahme der JVA … vom 24.05.2018. Soweit die Strafvollstreckungskammer auf einen Standardkommentar (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Auflage 2018, § 454 Rn. 52) Bezug nimmt, ergibt sich aus der Fundstelle gerade kein Fall der Unzulässigkeit der Antragstellung. Vielmehr ist rund acht Monate nach der letzten Anhörung und Entscheidung durch die Strafvollstreckungskammer auf Antrag des Verurteilten eine Entscheidung in der Sache zwingend geboten.

Das Landgericht hätte daher eine mündliche Anhörung des Verurteilten durchführen und – grundsätzlich – in der Sache über die Begründetheit des Antrages entscheiden müssen.“

Die Zustellungsvollmacht des Verteidigers, oder: Anwaltliche Versicherung reicht nicht

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Erst gestern hat mit der Kollege Frank Schneider aus Bad Harzburg den OLG Celle, Beschl. v. 30.08.2018 – 3 Ss (OWi) 157/18 – übersandt, den ich dann mal gleich heute „einstellen“ will. Thematik (mal wieder: Zustellungsvollmacht. Der Kollege hatte im Verfahren keine schriftliche Vollmacht vorgelegt, sondern nur seine Bevollmächtigung anwaltlich versichert. Dennoch war ihm das amtsgerichtliche Urteil zugestellt worden. Das OLG sagt: Zustellung ist unwirksam und muss nachgeholt werden.

„Der Senat ist zu einer Entscheidung über die Rechtsbeschwerde (noch) nicht berufen, da die Zustellung des Urteils noch nicht wirksam erfolgt ist. Eine Zustellung erfolgte zwar auf Verfügung des Gerichts vom 22.06.2018 an den Verteidiger, diese Zustellung dürfte jedoch nicht wirksam sein, da eine Bevollmächtigung des Verteidigers zum Empfang von Zustellungen nicht ersichtlich ist.

Insbesondere befindet sich keine schriftliche Vollmacht bei den Akten, so dass die gesetzlich fingierte Zustellungsvollmacht gern. § 51 Abs. 3 OWiG nicht gegeben ist. Auch aus dem Protokoll der Hauptverhandlung vom 01.03.2018 ergibt sich keine Zustellungsvollmacht.

Unabhängig von der gesetzlichen Fiktion des § 51 Abs. 3 OWiG ist eine rechtsgeschäftliche Verteidigervollmacht durchaus möglich. Die Regelung der §§ 145a StPO, 51 Abs. 3 OWiG schließt eine rechtsgeschäftlich erteilte Vollmacht keineswegs aus, sondern schafft nur daneben eine zusätzliche – fingierte —Rechtsmacht zur Entgegennahme von Zustellungen durch einen Strafverteidiger. Auch einem Verteidiger kann aber – zusätzlich – durch Rechtsgeschäft eine Zustellungsvollmacht erteilt werden. Diese bedarf dann keiner besonderen Form (§ 167 BGB), so dass sie bspw. auch mündlich erteilt werden kann (OLG Braunschweig, Beschluss vom 13. Mai 2013 — 1 Ss (OWi) 83/13 —, Rn. 21, juris).

So kann etwa auch durch eine Bestätigung der Empfangslegitimation seitens der Verteidigung auf dem Empfangsbekenntnis der Nachweis einer rechtsgeschäftlichen Zustellungsvollmacht gegeben sein (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 08. Oktober 2015 — 2 (7) SsBs 467/15 —, juris). Auch kann ein Nachweis durch anwaltliche Versicherung erfolgen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 145a, Rn. 2a m.w.N.). Das Auftreten in der Hauptverhandlung reicht hingegen nicht aus‘ (BGH, Beschluss vom 03. Dezember 2008 — 2 StR 500/08 —, juris). Eine mit Abschluss des Verteidigervertrages als Geschäftsbesorgungsvertrag entstandene rechtsgeschäftliche Zustellungsvollmacht muß, notfalls auch nachträglich, nachgewiesen werden (BGH, Beschluss vom 18. Februar 1997 — 1 StR 772/96 Rn. 1, juris). Der Umfang ist im Einzelfall zu bestimmen (Göhler, OVVIG, § 51, Rn. 44a).

Zwar hat der Verteidiger in seinem Schriftsatz vom 04.02.2018 eine Bevollmächtigung des Betroffenen angezeigt und anwaltlich versichert. Diese anwaltliche Versicherung umfasst jedoch nicht die Erklärung, dass der Verteidiger rechtsgeschäftlich zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt ist. Nach außen erkennbar ist aufgrund der anwaltlichen Versicherung nur die Bevollmächtigung hinsichtlich der vom Verteidiger vorgenommenen Verteidigungshandlungen. Die Zustellungsvollmacht hat hingegen passiven Charakter. Aus dem Verhalten des Verteidigers kann hier eine entsprechende Bevollmächtigung daher nicht geschlossen werden. Auch die Regelungen der §§ 145a StPO, 51 Abs. 3 OWiG deuten darauf hin, dass ein bevollmächtigter Verteidiger aüch über keine Zustellungsvollmacht verfügen könnte. Andernfalls wäre die gesetzliche Fiktion der §§ 145a StPO, 51 Abs. 3 OWiG überflüssig.“

Ein weiteres „Mosaiksteinchen“ in der Reihe der Vollmachtsentscheidungen…