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Verkehrsrecht II: Langer Zeitablauf nach Unfallflucht, oder: Vorläufige Entziehung ist keine Retourkutsche

entnommen openclipart.org

Als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Stuttgart, Beschl. v. 04.08.2023 – 9 Qs 39/23 – vor.

Das LG hat über die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 111a StPO) entschieden. Zugrunde lag ein unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB). Insoweit ist offenbar, da das LG dazu nichts ausführt, nichts problematisch. Problematisch ist aber der Zeitablauf. Denn: Tatzeit war der 02.06.2022. Danach passiert im Hinblick auf die Fahrerlaubnis nichts. Am 20.06.2023 beantragt die Staatsanwaltschaft dann einen Strafbefehl und beantragt, der Angeklagten nach § 111a StPO vorläufig die Fahrerlaubnis zu entziehen. Das AG erlässt am 23.06.2023 den Strafbefehl, hinsichtlich der Fahrerlaubnis passiert nichts. Der Verteidiger äußert sich  am 10. Juli 2023 zur beantragten vorläufigen Entziehung und legt am 17.07.2023 zudem für die Angeklagte Einspruch gegen den zwischenzeitlich zugestellten Strafbefehl ein.

Zwei Tage später, am 19.07.2023, beschließt das AG die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis. Zwar liege das verfahrensgegenständliche Unfallereignis bereits mehr als 13 Monate zurück, jedoch überwiege das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs die Interessen der Angeklagten als Fahrerlaubnisinhaberin.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hat:

„1. Zwar ist die Angeklagte der ihr zur Last gelegten Tat dringend verdächtig. Dagegen erscheint auf der Rechtsfolgenseite insbesondere aufgrund der seither vergangenen Zeit fraglich, ob die von § 111a Abs. 1 StPO vorausgesetzten dringende Gründe für die Annahme, dass der Angeklagten mit Abschluss des Verfahrens die Fahrerlaubnis entzogen werden wird, gegeben sind.

Das Amtsgericht hat sich in dem angefochtenen Beschluss lediglich mit der seit dem verfahrensgegenständlichen Unfallereignis vergangenen Zeit knapp auseinandergesetzt, ansonsten aber ausschließlich belastende Umstände in den Blick genommen.

Unberücksichtigt geblieben ist hingegen der Umstand, dass sich die Angeklagte, soweit ersichtlich, seither im Straßenverkehr beanstandungsfrei verhalten hat. Darüber hinaus hat das Amtsgericht nicht in seine Erwägungen einbezogen, dass die Angeklagte sich am 3. Juni 2022, mithin lediglich rund 14 Stunden nach dem Unfallereignis, auf das Polizeirevier Nagold begeben und dort ihre Unfallbeteiligung eingeräumt hat.

Angesichts dieses Ablaufs spricht einiges dafür, dass trotz des möglicherweise beträchtlichen Sachschadens ein die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB widerlegender Ausnahmefall gegeben ist. Denn in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass dies insbesondere in Betracht kommt, wenn im Hinblick auf einen die Feststellungen nachträglich ermöglichenden Täter die Anwendung des § 142 Abs. 4 StGB daran scheitert, dass der Sachschaden nicht unerheblich war oder es sich um einen Unfall im fließenden Verkehr gehandelt hat und tätige Reue deshalb ausscheidet (vgl. LG Aurich, NZV 2013, 53; LG Gera, StV 2001, 357; LG Zweibrücken, Beschl. v. 11.3.2003 -Qs 31/03; AG Bielefeld, NZV 2014, 378; s. auch Fischer, StGB, 70. Aufl., § 142, Rn. 30).

2. Jedenfalls unterliegt der Beschluss aber deshalb der Aufhebung, weil die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis, die mehr als 13 Monate nach dem Unfallereignis erfolgte, aufgrund dieser Zeitspanne nicht verhältnismäßig ist und die bisherige Sachbehandlung zudem eklatant gegen das Beschleunigungsgebot verstößt.

a) Zwar kann die Fahrerlaubnis grundsätzlich auch noch in einem späteren Verfahrensabschnitt vorläufig nach § 111a StPO entzogen werden. Eine feste Grenze, ab deren Erreichen oder Überschreiten die Anordnung der Maßnahme ausscheidet, existiert nicht. Erfolgt die vorläufige Entziehung erst längere Zeit nach der Tatbegehung ist jedoch, da es sich bei § 111a StPO um eine Eilentscheidung handelt, die Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes besonders sorgfältig zu prüfen.

b) Von diesen Maßstäben ausgehend ist die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis nicht gerechtfertigt. Denn obwohl die Fahrereigenschaft der Angeklagten bereits einen Tag nach dem Unfallereignis feststand und sich der Verdacht eines erheblichen Sachschadens schon aufgrund des Schadensbildes vor Ort geradezu aufdrängte, wurde das Verfahren insbesondere nach dem Abschluss der polizeilichen Ermittlungen aus allein von der Justiz zu verantwortenden Gründen über Monate hinweg nicht betrieben.

Das Polizeipräsidium – Verkehrspolizeiinspektion – Ludwigsburg legte der Staatsanwaltschaft Stuttgart die Verkehrsunfallanzeige am 18. August 2022 vor. In der Folge wurde der Verteidigung Akteneinsicht gewährt, woraufhin mit Schriftsatz vom 23. September 2022 eine Stellungnahme erfolgte. Anschließend wurde auch einem für eine Versicherungsgesellschaft tätigen Rechtsanwalt Akteneinsicht gewährt. Dieser reichte die Akten am 13. Oktober 2022 zurück.

In den folgenden acht Monaten geschah nichts. Nachvollziehbare oder gar in der Sphäre der An-geklagten oder der Verteidigung liegende Gründe hierfür sind nicht ersichtlich. Insoweit unterscheidet sich der vorliegende Sachverhalt grundlegend von jenem, der der vom Amtsgericht zitierten Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Beschluss vorn 22. Oktober 2021 – 1 Ws 153/21) zugrunde lag. Denn dort hatten sowohl der Angeklagte als auch dessen Verteidiger durch eine Vielzahl von Verschleppungshandlungen (Erschwerung von Zustellungen durch Geltendmachung verschiedener Meldeadressen, unterlassene Rücksendung von Empfangsbekenntnissen und dadurch erzwungene Terminsaufhebung, offensichtlich unbegründete Ablehnungsgesuche usw.) einen Abschluss des Verfahrens in missbräuchlicher Weise zu verhindern versucht.

Vorliegend hingegen haben die Angeklagte und ihre Verteidiger nichts dergleichen getan, sondern im Gegenteil bereits einen Tag nach dem verfahrensgegenständlichen Ereignis die Fahrereigenschaft offenbart und überdies auch eingeräumt, dass die Angeklagte den Unfall verursacht hat. In der Folge erfolgte eine weitere Sacheinlassung. Verzögerungshandlungen sind demgegenüber nicht ansatzweise erkennbar.

Dies gebietet die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, zumal hinzukommt, dass die Angeklagte nicht vorbestraft ist, seit dem verfahrensgegenständlichen Ereignis keine neuen Verkehrsübertretungen bekannt geworden sind und sich der Tatvorwurf im Laufe des Verfahrens abgeschwächt hat, nachdem die Staatsanwaltschaft den ursprünglich ebenfalls im Raum stehenden Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung fallen gelassen hat und insoweit nach § 170 Abs. 2 StPO verfuhr.“

Soweit, schon mal gut. Das LG „setzt aber noch einen drauf“ und gibt dem AG mit auf den Weg:

„c) Die Strafkammer weist überdies darauf hin, dass es grundsätzlich bedenklich erscheint, wenn eine Maßnahme nach § 111a StPO nicht bereits dann ergriffen wird, sobald der dringende Verdacht insbesondere einer Katalogtat nach § 69 Abs. 2 StGB vorliegt, sondern – bei unveränderter Sachlage – viele Monate später in einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Einlegung eines Einspruchs gegen einen zwischenzeitlich erlassenen Strafbefehl. Denn durch die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis soll die Allgemeinheit vor den Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer schon vor dem Urteil geschützt werden (statt aller Meyer-Goßner/Schmitt, 66. Aufl, 2023, § 111a, Rn. 1). Das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit hängt indes nicht davon ab, ob gegen einen Strafbefehl Einspruch eingelegt wird oder nicht.“

Das Letzte ist sehr vornehm ausgedrückt. Man hätte auch anders schreiben können. Nämlich. „Retourkutschen“ halten wir nicht. Und dass die vorläufige Entziehung eine „Retourkutsche“ war, liegt m.E. auf der Hand. Dafür spricht der Ablauf. Monatelang passiert nichts. Aber dann wird – zwei Tage nach Einspruchslegung – die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

U-Haft II: Zusätzliche Beschränkungen in der U-Haft, oder: Das geht nicht „standardmäßig“

© Joachim B. Albers – Fotolia.com

Und als zweite Entscheidung zu Haftfragen dann hier der LG Stuttgart, Beschl. v. 18.04.2023 – 9 Qs 22/23. Das ist einer der Beschlüsse, bei dem man nach dem Lesen weiß, dass das AG „nicht glücklich“ damit ist/sein wird.

Es geht um die Anordnung Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO in einem Verfahren wegen vorsätzlichen Handeltreibens mit einer Schusswaffe u.a. Das AG hatte neben der U-Haft wegen Fluchtgefahr zusätzlich angeordnet, dass Besuche sowie die Telekommunikation des Beschuldigten der Erlaubnis bedürfen und zu überwachen sind. Auch sei der Schrift- und Paketverkehr zu überwachen. In den Beschlussgründen wurdeausgeführt, dass die Anordnungen „wegen des Vorliegens der Haftgründe erforderlich und zumutbar seien. Zudem entsprächen die Anordnungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Insbesondere bestehe die Gefahr, dass der Beschuldigte Fluchtversuche unternimmt, da er schon vor der Festnahme untergetaucht gewesen sei.

Dagegen die Beschwerde, die beim LG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde hat in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für den Erlass beschränkender Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO liegen nicht vor.

1. Nach der Rechtsprechung des Oberlandesgerichts Stuttgart, der die Strafkammer folgt, sind Haftbeschränkungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur zulässig, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht, die nicht anders als durch die in Rede stehenden Beschränkungen abgewehrt werden können (OLG Stuttgart, Beschluss vom 8. Februar 2022 — 1 Ws 21/22, juris Rn. 8). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll aus grundrechtlichen Erwägungen jede Beschränkung auf ihre konkrete Erforderlichkeit geprüft und begründet werden, eine standardmäßige Beschränkung der Rechte des Untersuchungsgefangenen ist nicht zulässig (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 25. Januar 2021 — 3 Ws 7-9/21). Bei der Anwendung des § 119 Abs. 1 StPO ist insbesondere dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein Untersuchungsgefangener noch nicht rechtskräftig verurteilt ist und deshalb nur unvermeidlichen Einschränkungen seiner Grundrechte unterworfen werden darf (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2014 — 2 BvR 1513/14, juris Rn. 18).

Hieraus folgt insbesondere, dass beschränkende Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO nur dann zulässig sind, wenn aufgrund konkreter Anhaltspunkte eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke besteht; die bloße Möglichkeit, dass ein Untersuchungsgefangener seine Freiheiten missbrauchen könnte, genügt hingegen nicht (OLG Stuttgart a.a.O.; OLG Düsseldorf a.a.O.; OLG Bremen, Beschluss vom 10. Mai 2022 —1 Ws 30/22).

2. Von diesen Maßstäben ausgehend hält der angefochtene Beschluss der rechtlichen Überprüfung nicht stand. Konkrete Anhaltspunkte für eine reale Gefahr für die gesetzlichen Haftzwecke werden in der Entscheidung des Amtsgerichts nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Angeklagte, sei es aus der Justizvollzugsanstalt heraus oder mithilfe von auf freiem Fuß befindlichen dritten Personen, Fluchtvorbereitungen getroffen hätte.

a) Dabei hat die Strafkammer nicht übersehen, dass sich der Beschuldigte einem vor dem Amts-gericht Ellwangen geführten Strafverfahren durch Flucht entzogen hatte und erst nach mehreren Monaten und umfangreichen Fahndungsmaßnahmen festgenommen werden konnte. Dieser Umstand rechtfertigt die Anordnung von Haftbeschränkungen jedoch nicht, wenn es, wie vorliegend, an konkreten Anhaltspunkten für aktuelle Fluchtplanungen fehlt. Denn in solchen Fällen wird der Gefahr der Flucht eines Beschuldigten bereits durch dessen Inhaftierung hinreichend begegnet, zumal ein Entweichen aus der Untersuchungshaft anderer Planungen bedarf als das Untertauchen eines Beschuldigten, der sich auf freiem Fuß befindet (OLG Stuttgart a.a.O., juris Rn. 11).

b) Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Beschuldigte strafrechtlich nicht unerheblich vorbelastet ist und nach polizeilichen Erkenntnissen der rechten Szene angehört.

Zwar kann zur Feststellung einer Gefahr, die die Anordnung von haftgrundbezogenen Beschränkungen rechtfertigen kann, auch auf tatsachengestützte allgemeine Erfahrungssätze zurückgegriffen werden (OLG Bremen, Beschluss vom 7. September 2022 — 1 Ws 97/22). Ein Erfahrungssatz dahingehend, dass ein Beschuldigter, der sich vor seiner Inhaftierung der Festnahme durch Flucht zu entziehen versuchte, auch aus der Haft heraus Fluchtvorbereitungen trifft, besteht jedoch nicht (vgl. OLG Düsseldorf a.a.O.). Auch folgt eine konkrete Fluchtgefahr nicht allei-ne aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene.

c) Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Vollzug der Untersuchungshaft für den Be-schuldigten schon allein aus Gründen der Sicherheit und Ordnung in der Vollzugsanstalt nach den einschlägigen justizvollzugsrechtlichen Vorschriften des Landes Baden-Württemberg mit di-versen Beschränkungen verbunden ist, ohne dass es hierfür gesonderter Anordnungen nach § 119 Abs. 1 StPO bedarf. So ermächtigen etwa die §§ 13, 14, 17, 19, 20 und 21 JVollzGB II die zuständige Justizvollzugsanstalt zu umfangreichen Überwachungsmaßnahmen im Zusammen-hang mit den Verkehr mit der Außenwelt und die §§ 43 bis 53 JVollzGB II rechtfertigen Maßnah-men zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in der Anstalt.“

Pflichti I: Kleines Potpourri der Beiordnungsgründe, oder: Strafvollstreckung, Betreuung, Ausländer

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Heute dann zur Wochenmitte mal wieder ein „Pflichti-Tag“.

Ich beginne in diesem Posting mit drei Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Die Mitwirkung eines Verteidigers im Verfahren zur Erledigung einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist regelmäßig in entsprechender Anwendung des § 140 Abs. 2 StPO erforderlich, wenn die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wegen fehlender Erfolgsaussicht trotz Fortbestehens des Therapiewillens des Untergebrachten gem. § 67d Abs. 5 StGB für erledigt erklärt wird.

1. Insbesondere bei einem unter Betreuung mit dem „Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden“ stehenden Angeklagten ist regelmäßig von einer Einschränkung der Verteidigungsfähigkeit auszugehen, so dass ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO zu bestellen ist.

2. Gegen die Bestellung der Pflichtverteidigerin spricht nicht der Umstand, dass das Verfahren zum Zeitpunkt der Entscheidung nach § 154f StPO eingestellt ist.

Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert“ werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann.

 

StGB III: Fotografieren einer bekleideten Frau, oder: „Fotoshooting“ im Vorraum einer Toilette strafbar?

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Und dann noch die dritte StGB-Entscheidung. Das ist der LG Stuttgart, Beschl. v. 13.02.2023 – 5 Qs 8/23.

Es geht um die Frage der  Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereiches durch Bildaufnahmen gem. § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB, und zwar betreffend folgenden Sachverhalt: Nach den polizeilichen Ermittlungen hatte sich der Angeschuldigte unberechtigt in die Damentoilette eines Einkaufszentrum begeben und dort die 15jährige Geschädigte unbefugt mit seinem Handy fotografiert, nachdem diese nach dem Toilettengang im Vorraum der Damentoilette gerade die Hände gewaschen hatte.

Die Staatsanwaltschaft hat wegen dieses Vorfalls den Erlass eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten beantragt. Das AG hat das wegen mangelnde Tatverdachts (aus rechtlichen Gründen) abgelehnt. Dagegn hat die Staatsanwaltschaft dann sofortige Beschwerde eingelegt, die beim LG keinen Erfolg hatte:

„Die zur Last gelegte Tat ist jedoch nicht strafbar gemäß § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dabei kann offenbleiben, ob der Vorraum einer Damentoilette ein gegen Einblick besonders geschützter Raum im Sinne der Norm ist oder ob von der Norm nur Räumlichkeiten erfasst werden, die von vornherein dazu bestimmt sind, einen Menschen vor den Blicken eines jeden anderen und damit auch vor Bildaufnahmen zu schützen (in diesem Sinne OLG Koblenz, Beschluss vom 11.11.2008, 1 Ws 535/08, NStZ 2009, 268, 269). Es fehlt vorliegend jedenfalls an der Strafbarkeitsvoraussetzung der Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der Geschädigten des Erfolgsdelikts des § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB.

Nach der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 15/2466, S. 5) kann sich der Begriff des höchstpersönlichen Lebensbereichs inhaltlich an dem durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verwendeten und in der zivilrechtlichen Rechtsprechung näher ausgeformten Begriff der Intimsphäre orientieren. Die Intimsphäre stellt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dabei den engsten Persönlichkeitsbereich dar. Sie beschreibt den Kernbereich der höchstpersönlichen Lebensgestaltung und umfasst den letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit (vgl. BVerfGE 32, 373, Rn. 22f. in juris). Nach der Gesetzesbegründung (a.a.O.) sind der Intimsphäre vor allem die Bereiche Krankheit, Tod und Sexualität zuzuordnen. Die Intimsphäre umfasst aber grundsätzlich auch die innere Gedanken- und Gefühlswelt mit ihren äußeren Erscheinungsformen wie vertraulichen Briefen und Tagebuchaufzeichnungen sowie die Angelegenheiten, für die ihrer Natur nach Anspruch auf Geheimhaltung besteht, beispielsweise Gesundheitszustand, Einzelheiten über das Sexualleben sowie Nacktaufnahmen.

Gemessen hieran ist die Fotografie einer vollständigen bekleideten Person – ohne das Hinzutreten weiterer, hier nicht gegebener Umstände – nicht als Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs der abgebildeten Person anzusehen (vgl. OLG Koblenz, a.a.O., Rn. 8 in juris). Dafür spricht, wenngleich nicht zwingend, auch die Gesetzesbegründung (a.a.O.), die das Beispiel „Benutzung von Toiletten“ in den Zusammenhang mit den dort aufgeführten weiteren Beispielen gynäkologischer Untersuchungen sowie Umkleidekabinen stellt; diese Beispiele lassen erkennen, dass es dem Gesetzgeber in erster Linie um den Schutz einer zumindest teilweise entkleideten Person geht. Der Schutz vor Nacktaufnahmen bildet damit korrespondierend auch einen zentralen Aspekt des Schutzes der Intimsphäre in der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BGH, Urteil vom 22.01.1985, VI ZR 28/83, NJW 1985, 1617; vgl. auch die Gesetzesbegründung a.a.O.). Die Geschädigte war demgegenüber zur Tatzeit vollständig einschließlich geschlossenem Anorak bekleidet und trug zudem eine Mund-Nasen-Bedeckung.

Die – nach dem Wortlaut der Gesetzesbegründung mögliche – Argumentation der Staatsanwaltschaft Stuttgart, wonach die in der Gesetzesbegründung als Beispiel genannte „Benutzung von Toiletten“ auch den Vorraum der Toilette und Bildaufnahmen einer vollständig bekleideten Person insgesamt erfasse, und nicht auf die Benutzung der Toilettenkabine beschränkt sei, überdehnt demgegenüber den Begriff der Intimsphäre. Bei dem von der Staatsanwaltschaft angeführten Waschen, Kämmen und Schminken im Toilettenvorraum handelt es sich nicht um Tätigkeiten des vollständig unantastbaren Kernbereichs privater Lebensgestaltung. Betroffen ist insoweit vielmehr das in Abgrenzung zur Intimsphäre bestehende Recht auf Achtung der Privatsphäre, das jedermann einen autonomen Bereich der eigenen Lebensgestaltung zugesteht, in dem er seine Individualität unter Ausschluss anderer entwickeln und wahrnehmen kann. Dazu gehört in diesem Bereich auch das Recht, für sich zu sein, sich selber zu gehören und den Einblick durch andere auszuschließen (Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.09.2012, VI ZR 291/10, NJW 2012, 3645, Rn. 12 in juris). Eine Verletzung der Privatsphäre ist zwar rechtswidrig und zivilrechtlich verfolgbar; sie erfüllt aber nicht den Tatbestand des § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB.

Die zur Last gelegte Tat ist auch nicht nach § 33 KunstUrhG strafbar, weil ein zur Verwirklichung des Tatbestandes erforderliches „Verbreiten“ oder „öffentlich zur Schau stellen“ der Bildaufnahme der Geschädigten durch den Angeschuldigten nicht stattgefunden hat.

Eine Strafverfolgung wegen Hausfriedensbruchs gemäß § 123 StGB kommt schon mangels zwingend erforderlichen Strafantrags nicht in Betracht.“

Verfahrenseinstellung wegen Verfolgungsverjährung, oder: Wille des Gesetzgebers

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Und dann vor dem morgigen „Kessel Buntes“ heute noch Gebühren-/Kosten-/Auslagenentscheidungen.

Ich beginne mit dem LG Stuttgart, Beschl. v.28.02.2022 – 6 Qs 1/22. In dem Beschluss geht es um die Einstellung wegen Verfahrenshindernisses. Die materiellen Fragen lasse ich mal außen vor. Hier geht es nur um die Frage der Auslagenerstattung.

Es waren gegen den Angeklagten verschiedene Tatvorwürfe erhoben worden, u.a. wegen Betruges. Insoweit hat das AG das Verfahren wegen Verjährung eingestellt, aber die Auslagenerstattung abgelehnt. Das LG hat diese Entscheidung aufgehoben:

„2. a) Das Verfahrenshindernis der Verjährung liegt hinsichtlich des Tatvorwurfs des Betruges vor. Der Lauf der gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB fünf Jahre betragenden Verjährungsfrist hat mit Vollendung der angeklagten Tat am 11.02.2015 begonnen. Der Lauf der Verjährungsfrist wurde zuletzt durch den Erlass des Beschlusses über die vorläufige Einstellung gemäß § 205 StPO am 01.12.2016 unterbrochen. Mangels anschließender Verjährungsunterbrechung im Sinne von § 78c Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 StGB ist mit Ablauf des 30.11.2021 daher Verfolgungsverjährung eingetreten.

Der Eintritt der Verjährung wäre für das Amtsgericht leicht vermeidbar gewesen, indem die Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung am 15.11.2018 (Bl. 436) durch den Referatsrichter und nicht lediglich, ohne richterliche Anordnung, von der Geschäftsstelle vorgenommen worden wäre. Dass es insoweit an einer richterlichen Anordnung fehlte, ergibt sich daraus, dass die am 01.12.2016 verfügte Wiedervorlage für den 01.12.2018 ausdrücklich nur an die Geschäftsstelle erfolgte und eine Vorlage an den Referatsrichter erst für den 15.11.2021 vorgesehen war (Bl. 411). Selbst wenn eine richterliche Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung im November oder Dezember 2018 nicht erfolgt wäre, hätte die richterliche Anordnung der Verlängerung der Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung bei fristgerechter Wiedervorlage der Akten am 15.11.2021 noch mit verjährungsunterbrechender Wirkung vorgenommen werden können.

b) Insoweit war jedoch die Entscheidung über die notwendigen Auslagen der Angeklagten abzuändern.

Nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO kann das Gericht davon absehen, diese der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Voraussetzung hierfür ist, dass bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit von einer Verurteilung auszugehen ist. Teilweise wird auch ein niedrigerer Verdachtsgrad als ausreichend erachtet (KK-StPO/Gieg, § 467 Rn. 10a m.w.N.). Insoweit kann eine Entscheidung aber dahinstehen.

Denn jedenfalls im Rahmen der zu treffenden Ermessensentscheidung verbleibt es bei der Auslagenerstattung durch die Staatskasse. Auf den Umstand, dass ohne das Verfahrenshindernis eine Verurteilung erfolgt wäre oder ein bestimmter Verdachtsgrad vorlag, kann dabei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes nicht mehr abgestellt werden, da dies bereits tatbestandliche Voraussetzung des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO ist (BVerfG, NJW 2017, 2459; BGH, NStZ-RR 2018, 294, 295 f.). Erforderlich ist vielmehr, dass zum Verfahrenshindernis als alleinigem eine Verurteilung hindernden Umstand weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, die Auslagenerstattung zu versagen (BVerfG, a.a.O.). Auf die dem Verfahren zugrundeliegende Tat, etwa die Schwere der Schuld, darf dabei ebenfalls nicht abgestellt werden (BGH, a.a.O.).

Im Ergebnis kann daher ein Abweichen vom Regelfall der Auslagenerstattung nur bei strafprozessual vorwerfbarem Verhalten des Angeklagten gerechtfertigt werden (KK-StPO/Gieg, a.a.O. Rn. 10b). Derartiges ist vorliegend aber – insbesondere unter Berücksichtigung des unter a) geschilderten Verfahrensganges – nicht ersichtlich.

Dass bei Beachtung dieser Grundsätze § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nur in seltenen Ausnahmefällen anwendbar ist, entspricht dem Willen des Gesetzgebers (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 64. Auflage 2021, § 467 Rn. 18).“