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Fahrerlaubnis II: Trunkenheitsfahrt mit dem E-Scooter, oder: Entziehung der Fahrerlaubnis droht

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Die zweite Entscheidung, der LG Lüneburg, Beschl. v. 27.06.2023 – 111 Qs 42/23 -, behandelt noch einmal die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis nach einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter.

Dem Beschuldigten wird eine Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter am 16.04.2023 um 01.36 Uhr zur Last gelegt. Eine ihm um 02:00 Uhr entnommene Blutprobe habe einen Blutalkoholgehalt von 1,49 Promille ergeben. Der Führerschein wurde noch in der Vorfallsnacht am 16.04.2023 sichergestellt. Der Beschuldigte hat Beschwerde gegen die vorläufige Erziehung der Fahrerlaubnis eingelegt. Die hatte keinen Erfolg.

„Die zulässige Beschwerde bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Nach Aktenlage liegen dringende Gründe für die Annahme vor, dass dem Beschuldigten in einem Strafbefehl oder einer Hauptverhandlung die Fahrerlaubnis nach § 69 StGB für alle Arten von Kraftfahrzeugen entzogen werden wird.

Der von dem Beschuldigten benutzte E-Scooter ist ein Elektrokleinstfahrzeug im Sinne der Elektrokleinstfahrzeugeverordnung und als solcher ein Kraftfahrzeug im Sinne des § 1 Abs. 2 StVG. Bei der Bewertung einer Trunkenheitsfahrt mit einem E-Scooter gemäß § 316 StGB ist die Promillegrenze für die absolute Fahruntüchtigkeit wie bei allen Kraftfahrzeugen bei 1,1 o/oo anzusetzen. Auch wenn eine Vergleichbarkeit eines auf eine Geschwindigkeit jedenfalls bis 25 km/h begrenzten E-Scooters mit einem Pedelec diskutiert werden kann, ist dieser – anders als in § 1 Abs. 3 StVG für Pedelecs normiert – gesetzlich nicht als Fahrrad eingestuft. Dies ist auch für den rechtlichen Laien erkennbar, weil für einen E-Scooter eine Haftpflichtversicherung zwingend ist, weshalb für E-Scooter ein Kennzeichen ausgegeben wird, was ihn einem gering motorisierten Mofa, nicht aber einem Pedelec, gleichstellt.

Vorliegend ist der Beschuldigte nach dem um 02:00 Uhr gemessenen Blutalkoholwert von 1,49 o/oo jedenfalls einer fahrlässigen Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 Abs. 2 StGB dringend verdächtig und damit der Anwendungsbereich des § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB, der bei einer Trunkenheitsfahrt in der Regel eine Entziehung der Fahrerlaubnis nach sich zieht, eröffnet. Aber auch bei einem erfüllten Regelbeispiel nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB ist der Fahrerlaubnisentzug nicht zwingend, sondern unterliegt einer Ermessensentscheidung des Gerichts. Wegen des geringeren abstrakten Gefährdungspotentials für den öffentlichen Straßenverkehr im Vergleich zu einem „klassischen“ Kraftfahrzeug ist bei einer Trunkenheitsfahrt unter Benutzung eines E- Scooters das Vorliegen eines Ausnahmefalls eingehend zu prüfen. Die Umstände des hier vorliegenden Einzelfalls ergeben bei vorläufiger Würdigung aber keine Bagatellfahrt, die die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis unverhältnismäßig erscheinen lassen.

Der Beschuldigte wurde nach Aktenlage um 01.26 Uhr auf dem Radweg der H. H.-straße in C. in Höhe der Hausnummer 29 von einer Polizeistreife angetroffen. Er fuhr nach dem Bericht der PK`in S. mit leichten Schlenkbewegungen auf dem parallel zur Fahrbahn verlaufenden Radweg, allerdings auf der falschen Straßenseite, obwohl laut der Satellitenansicht in google maps ein gegenüberliegender Radweg vorhanden ist. Die H. H.-straße ist als Teil der B 3 eine Hauptverkehrsstraße, weshalb auch um 01.26 Uhr, zumal am Wochenende in einer Nacht von Samstag auf Sonntag, innerorts noch mit Verkehr zu rechnen ist. Zudem beabsichtigte der Beschuldigte nach seiner Einlassung, nicht nur eine kurze Strecke zu fahren. Denn er wollte mit dem E-Scooter zu seiner Wohnanschrift in der G.-H.-Straße fahren, die im Ortsteil S. etwa 6 km von dem Ort seines Antreffens entfernt liegt.“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Viermal topp, zweimal hopp

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Im zweiten Posting dann der Dauerbrenner im Recht der Pflichtverteidigung, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Pflichtverteidigers nach Erledigung des Verfahrens. Wie immer zwei Gruppen, „gute“ und „schlechte“ Entscheidungen:

Zunächst hier die „guten“ Entscheidungen, und zwar.

1. Eine nachträgliche Beiordnung eines Pflichtverteidigers kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn trotz Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 140, 141 StPO über den rechtzeitig gestellten Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung aus justizinternen Gründen nicht entschieden worden ist bzw. die Entscheidung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Insofern sieht das geltende Recht zur effektiven Ausgestaltung des Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand vor, dass ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung unverzüglich dem Gericht zur Entscheidung vorzulegen ist. Um eine Untergrabung dieses Rechts zu verhindern, kann dem Beschuldigten bei Missachtung dieser Abläufe – der ansonsten richtige – Grundsatz der Unzulässigkeit einer nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegengehalten werden, wenn das konkrete Verteidigungsbedürfnis nach dieser angemessenen Entscheidungszeit wegfällt. Es ist in solchen Fällen dann regelmäßig auf die Begründetheit des Antrags vor Wegfall – etwa durch Verfahrenseinstellung – abzustellen.
2. Eine Pflichtverteidigerbestellung hat nach pflichtgemäßem Ermessen zu erfolgen, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte selbst nicht hinreichend verteidigen kann. Zwar genügt die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Die Verteidigungsfähigkeit bemisst sich nach den geistigen Fähigkeiten, dem Gesundheitszustand und den sonstigen Umständen des Einzelfalles. Eine Beiordnung ist indes bereits regelmäßig angezeigt, wenn an der Verteidigungsfähigkeit des Beschuldigten erhebliche Zweifel bestehen.

Rückwirkende Pflichtverteidigerbestellungen sind im Falle rechtzeitig gestellter Beiordnungsanträge auch noch nach Erledigung des Verfahrens – schon zur Verwirklichung des Rechts auf ein faires Verfahren – geboten.

Zur (bejahten) Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers.

Eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung ist dann angebracht, wenn der Antrag auf Pflichtverteidigerbeiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen und die Entscheidung über die Beiordnung nicht unverzüglich erfolgte, sondern wegen justizinterner Vorgänge unterblieben ist, auf die der (ehemalige) Beschuldigte keinen Einfluss hatte.

Und dann hier die „schlechten“ Entscheidungen, nämlich:

Die rückwirkende Bestellung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist nicht zulässig.

Corona II: Vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung, oder: (Unrichtiges) Gesundheitszeugnis, ja oder nein?

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Die zweite Entscheidung zum „Corona-Strafrecht“, der LG Lüneburg, Beschl. v. 08.09.2022 – 22 Qs 55/22 – verhält sich noch einmal zu § 279 StGB.

Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, gegen die Angeschuldigte einen Strafbefehl wegen des Gebrauchs eines unrichtigen Gesundheitszeugnisses gem. § 279 StGB zu erlassen und eine Geldstrafe festzusetzen. Sie wirft der Angeschuldigten ihr vor, über ein Internetportal gegen Entgelt eine auf ihren Namen lautende vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung einer ehemaligen Ärztin erworben und anschließend dem Gesundheitsamt Harburg vorgelegt zu haben, um den Anschein einer Impfunfähigkeit zu erwecken. Dabei sei der Angeschuldigten bewusst gewesen, dass die vorläufige Impfunfähigkeit ohne eine vorhergehende medizinische Untersuchung durch die ausstellende Ärztin attestiert wurde.

Die vorgelegte Bescheinigung ist mit „Gutachten zur Bescheinigung einer vorläufigen Impfunfähigkeit“ überschrieben. Weiter heißt es darin:

„Aufgrund meiner ärztlichen Einschätzung und Bewertung komme ich nach freiem Ermessen zu folgender privatgutachterlichen Einschätzung:

Bis zum Ausschluss einer möglichen schwerwiegenden Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in der EU zugelassenen Impfstoffe gegen Covid-19 (…) durch eine fachärztliche allergologische Abklärung soll bei I.K. keine Impfung gegen das SARS-CoV-2-Virus erfolgen.

Bis zur Vorstellung und Abklärung durch ein allergologisches Zentrum und/oder abschließende Beurteilung durch einen Amtsarzt ist I.K. daher vorläufig impfunfähig.

Diese Bescheinigung gilt bis zur o.g. Abklärung, spätestens bis zum 08.09.2022.“

Das AG hat den Erlass des Strafbefehls gem. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO mit der Begründung abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die beim LG keinen Erfolg hatte:

1. Die Bescheinigung der ehemaligen Ärztin Dr. med. pp. vom 08.03.2022 stellt nach Aktenlage kein unrichtiges Gesundheitszeugnis dar.

Gemäß § 279 StGB wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer, um eine Behörde oder eine Versicherungsgesellschaft über seinen oder eines anderen Gesundheitszustand zu täuschen, von einem Zeugnis der in den §§ 277, 278 StGB bezeichneten Art Gebrauch macht. Gemäß § 278 StGB gilt: Ärzte und andere approbierte Medizinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum Gebrauch bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen ausstellen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Ein Zeugnis im Sinne dieser Vorschrift meint dabei insbesondere eine Bescheinigung über den gegenwärtigen Gesundheitszustand eines Menschen. Erfasst sind dabei auch die von einem Arzt ausgestellten Krankenscheine und Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (vgl. nur Heine/Schuster in Schönke/Schröder, 30. Aufl. 2019, StGB § 277 Rn. 2). Nicht erforderlich ist, dass die Bescheinigung eine Diagnose enthält (OLG Stuttgart, Urteil vom 25.09.2013 – 2 Ss 519/13). Unrichtig ist das Zeugnis im Sinne des § 278 StGB auch dann, wenn die miterklärten Grundlagen der Beurteilung in einem wesentlichen Punkt nicht der Wahrheit entsprechen. Dies ist etwa in der Regel der Fall, wenn die für die Beurteilung des Gesundheitszustands erforderliche Untersuchung nicht durchgeführt wurde (vgl. nur Fischer StGB, 68. Aufl. 2021, § 278 Rn. 4 m.w.N.). Das Vertrauen in das ärztliche Zeugnis beruht nämlich darauf, dass eine ordnungsgemäße Informationsgewinnung stattgefunden hat; ihre Vornahme wird konkludent miterklärt (vgl. Heine/Schuster, aaO § 278 Rn. 2, vgl. auch Schuhr in Spickhoff Medizinrecht, 3. Aufl. 2018, StGB § 278 Rn. 11). Das Unterlassen einer Untersuchung, die eine zusätzliche Beurteilungsgrundlage ergeben hätte, macht aber ein Zeugnis noch nicht unrichtig; es kommt darauf an, welches Maß an Genauigkeit im Einzelfall erforderlich gewesen wäre (vgl. nur Fischer aaO). Welche Form der Untersuchung erforderlich und so konkludent miterklärt wird, ist demnach einzelfallabhängig und nach medizinischen bzw. medizinrechtlichen Gesichtspunkten zu entscheiden.

Gemessen daran stellte die vorläufige Impfunfähigkeitsbescheinigung der ehemaligen Ärztin Dr. med. pp.  vom 08.03.2022 nach Aktenlage kein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen im Sinne des § 279 StGB dar.

Denn es wurde hierin kein Gesundheitszustand des Angeschuldigten bescheinigt. Die ausstellende Ärztin hat lediglich erklärt, dass sie nach freiem Ermessen zu der Einschätzung komme, dass bis zur Abklärung, ob bei der Angeschuldigten eine mögliche schwerwiegende Allergie gegen einen der Inhaltsstoffe der in der EU zugelassenen Impfstoffe gegen COVID-19 bestehe, keine Impfung erfolgen solle und die Angeschuldigte daher vorläufig impfunfähig sei. Aus der gewählten Formulierung ergibt sich gerade nicht, dass bereits eine Untersuchung stattgefunden hat. Der „vorläufigen Unfähigkeitsbescheinigung“ lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass eine ärztliche Abklärung noch erfolgen müsse, um ausschließen zu können, ob Bestandteile des jeweils zu verabreichenden Impfstoffs gegen Covid-19 eine allergische Reaktion bei der Angeschuldigten auslösen können, weshalb das „Gutachten“ auch lediglich von einer vorläufigen Impfunfähigkeit spricht.

Das „Gutachten“ ist auch nicht unrichtig, da die darin getroffene Aussage, dass keine Untersuchung stattgefunden hat, der Wahrheit entspricht.“

Mündliche Durchsuchungsanordnung, oder: Hat die Durchsuchung beim Beschuldigten 2 1/2 Stunden gedauert?

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Den Auftakt mache ich in dieser Woche mit dem LG Lüneburg, Beschl. v. 07.12.2015 – 26 Qs 281/15, auf den mich der Kollege Yalti, Celle, – der hat den Beschluss erstritten – hingewiesen hat. Es geht in dem Beschluss um eine Durchsuchungsproblematik, nämlich um die Frage der Rechtswidrig – bzw. Rechtsmäßigkeit einer mündlichen richterlichen Durchsuchungsanordnung. Eine Frage, mit der sich die Rechtsprechung nich täglich, aber immer mal wieder befassen muss.

Dem Beschluss lässt sich folgender zeitlicher Ablauf für den „Durchsuchungstag“, den 07.10.2015, entnehmen:

  • Gegen 13:18 Uhr kontrollieren Polizeibeamte den Beschuldigten, den sie aufgrund der Angaben eines Zeugen eines versuchten Diebstahls eines E-Bikes verdächtigten.. Beim Beschuldigten werden u.a. ein Bolzenschneider, Kneifzangen und Schraubendreher sowie ein durchgekniffenes Seilringschloss und ein als gestohlen gemeldetes Smartphone aufgefunden
  • Um 13:35 Uhr Festnahme des Beschuldigten
  • Bei der Durchsuchung des Beschuldigten auf der Wache finden die Polizeibeamten noch eine Subutex Tablette und eine Rivotril Tablette gefunden.
  • Vernehmung des Beschuldigten von 14:30 Uhr bis 15:00 Uhr
  • 15.00 Uhr mündliche Anordnung der Durchsuchung durch eine Richterin am Amtsgericht Celle
  • Beginn der Durchsuchung um 16:30 Uhr.
  • 17.35 Uhr Entlassung des Beschuldigten aus dem Gewahrsam.

Dem LG reicht das nicht, um die Rechtsmäßigkeit der Durchsuchungsmaßnahme festzustellen. Es sagt, dass die Anordnung nicht hätte mündlich und ohne jegliche Dokumentation in den Akten ergehen dürfen:

„Grundsätzlich hat eine Durchsuchungsanordnung schriftlich zu erfolgen; in Eilfällen kann sie jedoch auch mündlich erlassen werden (M-G/S StPO, 57. Auflage, § 105 Rn. 3; KK-StPO, 7. Auflage, § 105 Rn. 3; BVerfG, 2 BvR 2267/06; BGH, NStZ 2005, 392). ….

Ein eine mündliche Anordnung rechtfertigender Eilfall kann dagegen etwa gegeben sein, wenn bei einer erst schriftlichen Anordnung durch den Richter ein Beweismittelverlust droht. Ein solcher drohender Beweismittelverlust ergibt sich vorliegend aus den Akten nicht ohne weiteres, insbesondere fehlt ein die Eilbedürftigkeit begründender Vermerk der Ermittlungsrichterin (oder wenigstens der Ermittlungsbehörden). Der Beschuldigte wurde gegen 13:18 Uhr kontrolliert und das aufgebrochene Schloss auch zu diesem Zeitpunkt bereits aufgefunden. Seine Verhaftung erfolgte um 13:35 Uhr. Um 15:00 Uhr erging die mündliche Durchsuchungsanordnung. Den Akten ist bereits nicht zu entnehmen, wann die Ermittlungsrichterin über den Sachverhalt und den Antrag der Staatsanwaltschaft informiert wurde bzw. ggf. warum ein entsprechender Antrag nicht bereits nach der Festnahme des Beschuldigten gestellt wurde. Aus den Akten ergibt sich auch nicht, weshalb sich die Ermittlungsrichterin zeitlich gehindert hätte sehen können, den Beschluss – bei dem einfach gelagerten Sachverhalt – vor der Durchsuchung schriftlich abzufassen und der Polizei per Telefax zu übermitteln, zumal die Durchsuchung erst um 16:30 Uhr erfolgt ist. Immerhin sah sich die Ermittlungsrichterin um 15:00 Uhr zum Erlass eines mündlichen Beschlusses in der Lage. Weshalb für die schriftliche Ausformulierung des Beschlusses in Hinblick auf einen drohenden Beweismittelverlust eine „längerfristige Festnahme“ des Beschuldigten erforderlich gewesen sein sollte, erschließt sich ebenfalls nicht, zumal er erst um 17:35 Uhr, und damit mehr als zweieinhalb Stunden nach dem mündlichen Beschluss, aus dem Gewahrsam entlassen worden ist.

Darüber hinaus ist die mündliche Anordnung der Durchsuchung durch die Ermittlungsrichterin auch überhaupt nicht und durch die Ermittlungsbehörden – soweit dies ausnahmsweise ausreichend sein könnte (BVerfG, 2 BvR 2267/06; BGH, NStZ 2005, 392) – nur unzureichend dokumentiert. Dies macht die Anordnung zwar nicht unwirksam (BGH, NStZ 2005, 392), aber aus Sicht der Kammer jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem gerade eine schriftliche Anordnung erforderlich gewesen wäre, in Hinblick auf Art. 13 Abs. 1 GG und Art. 19 Abs. 4 GG rechtswidrig.

Für die Kammer ist anhand der Aktenlage mangels einer Dokumentation der Anordnungsentscheidung nicht nachvollziehbar, von welchem Sachverhalt und welchem Vorwurf gegen den Beschuldigten die Ermittlungsrichterin zum Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchungausgegangen ist und welche Räume nach welchen Gegenständen durchsucht werden sollten und durften, zumal vorliegend Maßnahmen in Hinblick auf das E-Bike, ein anderes Fahrrad oder auch Betäubungsmittel in Betracht kamen. Auch die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Eilfalls ist der Kammer hierdurch letztlich versagt. Die Möglichkeit einer solchen umfassenden Überprüfung soll jedoch gerade die schriftliche Anordnung, jedenfalls aber die schriftliche Dokumentation der Entscheidung des Gerichts sicherstellen.

Die nachträgliche Dokumentation im Rahmen der Nichtabhilfeentscheidung, vorliegend ca. 7 Wochen nach der Anordnung, vermag vorliegend die Rechtswidrigkeit nicht mehr zu beseitigen. Nach Auffassung der Kammer birgt die verspätete Dokumentation nicht nur hinsichtlich des zeitlichen Ablaufs (BVerfG, NJW 2015, 2787; BVErfG, 2 BvR 1444/00) die Gefahr von Ungenauigkeiten und Erinnerungsfehlern oder gar einer Umgehung, so dass eine Überprüfung nicht mehr gleichermaßen effektiv ist wie bei einer zeitnahen schriftlichen Darlegung (so auch LG Tübingen, 1 Qs 38/07), sondern auch etwa hinsichtlich des zum Zeitpunkt der Anordnung dem Ermittlungsrichter bekannten Sachverhalts. Gerade der Ermittlungsrichter bei einem Amtsgericht hat zudem oft in kurzer Zeit über mehrere Durchsuchungsanordnungen zu entscheiden, so dass die Erinnerung an einzelne Entscheidungen nach mehreren Tagen oder gar Wochen eingeschränkt sein dürfte. Zudem führt die Pflicht zur Dokumentation – wie auch das Abfassen einer schriftlichen Entscheidung – dazu, dass sich der Anordnende in besonderem Maße der Rechtmäßigkeit der Maßnahme vergewissert (BVErfG, 2 BvR 1444/00). Auch ist nicht sichergestellt, dass zu einem späteren Zeitpunkt noch der Ermittlungsrichter zuständig ist, der die Anordnung auch erlassen hatte. All dies gebietet eine Dokumentation – je nach Einzelfall – vor, bei oder jedenfalls unmittelbar nach einer mündlichen Anordnung, sofern deren Voraussetzungen überhaupt vorliegen.“

Der „erzwungene“ Stimmenvergleich, oder: Wer kennt den „Nemo-tenetur-Satz“?

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In der vergangenen Woche habe ich von dem Kollegen, der ihn erstritten hat, den LG Lüneburg, Beschl. v. 06.11.2014 – 26 Qs 274/14 – übersandt bekommen. Der ist schon etwas älter, daher will ich mit der Veröffentlichung nicht zu lange warten.

Im Verfahren geht es um die Anordnung einer Gegenüberstellung und eines Stimmvergleichs durch das AG Lüneburg mit dem AG Lüneburg, Beschl. v. 05.09.2014 – 15 Gs 554/14. Gestützt wird das auf § 58 Abs. 1 und 2 StPO. Das AG und die beantragende Staatsanwaltschaft erhoffen sich durch diese Maßnahme – wenn sie durchgeführt wird – die weitere Aufklärung eines Raubüberfalls. Bei dem hatte der Täter eine Angestellte zur Herausgabe von Geld aufgefordert. Das AG meint: „Eine Wahlgegenüberstellung mit Stimmvergleich erscheint auch erfolgversprechend, da die Geschädigte mehrfach angegeben hat, sich die Stimme des Täters eingeprägt zu haben.“ Das ist es, viel mehr steht in dem AG-Beschluss nicht drin.

Das LG Lüneburg sieht das – Gott sei Dank – anders und hebt auf:

„…..Die vom Amtsgericht mit dem angefochtenen Beschluss angeordnete Wahlgegenüberstellung mit Stimmenvergleich kann nicht auf § 58 Abs. 2 StPO i. V. m. § 81 a StPO gestützt werden.

1. Nach § 58 Abs. 2 StPO kann der Beschuldigte zum Zwecke der Identifizierung Zeugen gegenübergestellt werden. Sind die Voraussetzungen des § 58 Abs. 2 StPO erfüllt, so hat der Beschuldigte die Gegenüberstellung zu dulden. Er ist jedoch nicht verpflichtet, an ihr aktiv mitzuwirken. Gegen seinen Willen kann ihm deshalb nicht abverlangt werden, vor dem Zeugen auf eine bestimmte Weise zu gehen, oder bestimmte Worte zu sprechen. Dies folgt aus dem allgemeinen Grundsatz der Aussage- und Selbstbelastungsfreiheit, der als Bestandteil des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK folgt. Deshalb kann nur das freiwillig gesprochene Wort des Beschuldigten Gegenstand eines Stimmenvergleichs sein; verpflichtet zur Mitwirkung an einem solchen ist der Beschuldigte nicht. Da der Beschuldigte ausdrücklich erklärt hat, er sei nicht bereit, an einer Wahlgegenüberstellung mit Stimmenvergleich freiwillig mitzuwirken, ist die Anordnung eines Stimmenvergleichs unzulässig.“

Aufgehoben wird auch die angeordnete Gegenüberstellung. Der Täter war maskiert, was ein Wiedererkennen nach Auffassung des LG unmöglich macht.

Bei solchen Beschlüssen frage ich mich immer: Warum braucht es eigentlich erst eine große Strafkammer eines LG, um den GS-Richter/Ermittlungsrichter daran zu erinnern/ihm vor Augen zu führen, dass unserem Strafverfahren der „nemo tenetur-Grundsatz immanent ist und der Beschuldigte nicht verpflichtet ist, aktiv an der eigenen Überführung mitzuwirken. Das sollte, wenn man im Strafverfahren tätig ist, auch ein GS-Richter beim AG wissen.. Die meisten wissen es ja auch – Gott sei Dank. Man fragt sich, was sich der GS-Richter beim AG Lüneburg eigentlich vorgestellt hat, wie es weitergeht, wenn der Beschuldigte nicht mitwirkt beim Stimmenvergleich. Zwangsmittel gegen den Beschuldigten? Und wenn ja, welche? Aber – dem LG Lüneburg sei Dank – muss er/sie sich darüber ja keine Gedanken mehr machen. Sonst wäre vielleicht noch Beugehaft angeordnet worden.