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Verkehrsrecht I: „Avanti“ und Abkürzung der Sperrfrist, oder: Nicht mit nur „formelhaften Redewendungen“

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Heute am Vatertag stelle ich verkehrsrechtliche Entscheidungen. Passt ja ganz gut 🙂 , aber: Please, take care today.

Ich beginne mit dem LG Berlin, Beschl. v. 05.05.2022 – 506 Qs 27/22. In dem hat das LG noch einmal zur Abkürzung der Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a Abs. 7 StGB) Stellung genommen.

Dem Verurteilten ist wegen einer Trunkenheitsfahrt die Fahrerlaubnis entzogen worden. Das AG hatte zudem eine Sperrfrist von acht Monaten angeordnet. Es wird dann eine Bescheinigung der Teilnahme an einem Kurs „avanti“ des TÜV-Nord vorgelegt und Abkürzung der Sperrfrist beantragt. Ohne Erfolg beim AG. Auch die Beschwerde bleibt dann beim LG ohne Erfolg:

„Gemäß § 69 a Abs.7 StGB ist die Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis aufzuheben, wenn der Verurteilte Umstände dargetan und glaubhaft gemacht hat, die Grund zu der Annahme geben, dass er zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist, und die Mindestdauer der Sperre von drei Monaten (§ 69a Abs. 7 S. 2 StGB) eingehalten ist. Die Aufhebung der Sperre für die Erteilung der Fahrerlaubnis hat dementsprechend zu erfolgen, wenn eine auf neue Tatsachen gestützte hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich der Verurteilte im Straßenverkehr nicht mehr als gefährlich erweisen wird. Die Beurteilung dieser Wahrscheinlichkeit darf dabei nicht schematisch erfolgen., sondern muss sämtliche, allein täterbezogene Umstände des Einzelfalls berücksichtigen. Sind solche Umstände festzustellen, steht dem Gericht kein Ermessen zu.

Diese Voraussetzungen liegen zum derzeitigen Zeitpunkt nicht vor.

Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die erfolgreiche Nachschulung aufgrund wissenschaftlich anerkannter Modelle, d.h. der Teilnahme an einer Verkehrstherapie oder einem Aufbauseminar, als neue Tatsache im Sinne der Norm herangezogen werden kann (vgl. Fischer, StGB 69. Aufl., § 69a Rn. 44 mwN), doch kann die Feststellung der Geeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen nur nach eingehender individueller Prüfung getroffen werden; allein die Teilnahme an einer Nachschulung reicht nicht aus. Vorliegend konnte eine derartige Feststellung zum jetzigen Zeitpunkt insbesondere deshalb nicht getroffen werden, da das dem Beschwerdeführer ausgestellte- Teilnahmezertifikat keine ausreichenden individuellen Anhaltspunkte dafür bietet, dass der Beschwerdeführer die von ihm begangene Alkoholfahrt aufgearbeitet und sich mit den Ursachen und Folgen auseinandergesetzt hat und nunmehr aufgrund des Kurses in der Lage ist, Alkoholkonsum und die Teilnahme am Straßenverkehr strikt zu trennen.

Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Bescheinigung sich weitestgehend in formelhaften Redewendungen erschöpft. Ausweislich dieser Bescheinigung habe der Beschwerdeführer „in intensiven Gesprächen und anleitenden Übungen (..:) im Rahmender Gruppe einvernehmlich die individuellen Gegebenheiten herausgearbeitet und. neue Ziele bestimmt“. Dabei habe der Beschwerdeführer „die für die nachfolgende Problembearbeitung notwendigen Wissensinhalte zu den Themenkreisen „Alkohol im Straßenverkehr, Alkoholwirkungen und Alkoholgefährdung“ erarbeitet und „im nächsten Schritt die erforderliche Problemeinsicht gewonnen, die motivationalen Verhaltensursachen, klären (…) und einen Zusammenhang zwischen Lebensstil, individuellen Einstellungen und Alkoholkonsum herstellen können“. Dabei habe der Beschwerdeführer“ Änderungsziele und —bereiche (…) festgelegt und bisherige Änderungsansätze ausgebaut und präzisiert.“ In einer mehrwöchigen Praxisphase des Programms habe der Beschwerdeführer „unter systematischer Beobachtung des Eigenverhaltens und der Reaktionsmuster, die angestrebten Veränderungen praktisch umgesetzt. Der Stand der Trinkgewohnheiten (…) [sei von ihm] aufgearbeitet, sinnvoll modifiziert und in Alltagsbezügen erprobt und gefestigt“ worden. Es seien „Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsentwicklung, Lebensstil und Verhaltensauffälligkeiten‘

Vor dem Hintergrund des Umgangs mit Alkohol deutlich“ geworden. Der Beschwerdeführer habe „sich von Beginn an einsichtig im Fehlverhalten [gezeigt], sodass in der Folge selbstkritisch individuelle Ursachen, Hintergründe, Zusammenhänge des deliktbegünstigenden Alkoholkonsums und der daraus resultierenden Verkehrsteilnahme erkannt und diese als Symptom einer teilweise ungünstigen Lebensführung identifiziert werden konnten.“ (Anmerkung der Kammer: alle Zitate stammen von S. 2 der Bescheinigung, Bl. 89 d.A.)

Bei näherer Betrachtung. erweist sich die Teilnahmebescheinigung als inhaltsleer. Die Bescheinigung, die so für jeden Kursteilnehmer ausgestellt werden könnte (und wohl auch ausgestellt wird), teilt an keiner Stelle mit, welche individuellen Gegebenheiten bei dem Beschwerdeführer vorlagen, insbesondere welche Auffälligkeiten in Lebensstil. und Verhalten bei ihm konkret existierten, welche konkreten Änderungsziele der Beschwerdeführer festgelegt und auf welche Weise mit welchen Mitteln er hieran gearbeitet hat. Es ist aus der Teilnahmebestätigung insbesondere nicht ersichtlich, Welche konkreten Ursachen der Beschwerdeführer für seine Alkoholfahrt benennen konnte und welche konkreten Veränderungen in der Lebensführung er sich erarbeitet hat, die nunmehr eine risikobewusste Einstellung zum Verhalten im Straßenverkehr verdeutlichen könnten. Es• sind auch keine Angaben darüber enthalten, ob und wie sich die Trinkgewohnheiten des Beschwerdeführers mittlerweile. aufgrund der Aufarbeitung während des Kurses verändert haben. In Ermangelung. (zumindest rudimentärer) konkret-individueller Ausführungen zu der Person des Beschwerdeführers und der von ihm erbrachten Leistungen während des Kurses kann die Kammer nicht überprüfen, ob die seitens des Kursträgers gezogene Schlussfolgerung einer wiederbestehenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen tatsächlich‘ zutrifft.

Auch sonst liegen keine neuen Tatsachen vor. Dass die der aus der Entziehung der Fahrerlaubnis ergebenden beruflichen Konsequenzen den Beschwerdeführer zu einem nachhaltigen Umdenken und einer Änderung der Lebensführung bewegt haben sollen, vermag die Kammer nicht zu erkennen. Vielmehr hätte bereits das einmonatige Fahrverbot Anlass geboten, sein Fahrverhalten insgesamt zu überdenken. Stattdessen hat der Beschwerdeführer nur ‚wenige Monate später die gegenständliche Tat begangen und damit deutlich gezeigt, dass die vom Fahrverbot ausgehende „Denkzettelfunktion“ seine Wirkung bei ihm verfehlt hat. Außerdem lagen die beruflichen Umstände, aufgrund der er auf die Fahrerlaubnis angewiesen war und ist, bereits bei Tatbegehung vor.

Auch unter Berücksichtigung der — bereits bei Strafbefehlserlass bekannten und bei Bemessung der Dauer der Maßregel berücksichtigten — Unbestraftheit des Beschwerdeführers und des lediglich fahrlässig begangenen Verkehrsverstoßes besteht nach Abwägung aller Umstände daher kein Raum für eine Verkürzung der — im Übrigen sehr maßvoll bemessenen — Sperrfrist.“

Nichts Neues, aber die Entscheidung zeigt noch einmal sehr deutlich, dass mit diesen/einem Allerweltsgutachten „kein Krieg zu gewinnen ist.“

Nebenklage II: AE beim Vergewaltigungsvorwurf, oder: Gefährdung des Untersuchungszwecks?

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Und als zweite Entscheidung stelle ich dann den LG Berlin, Beschl. v. 21.04.2022 – 511 Qs 36/22 – vor. Thematik/Problematik: Dauerbrenner Akteneinsicht der Nebenklägerin versus Gefährdung des Untersuchungszwecks.

Das AG hatte Akteneinsicht in einem Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung verweigert, das LG gewährt:

„Zwar kann die Akteneinsicht der Nebenklägerin gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO versagt werden, soweit der Untersuchungszweck hierdurch gefährdet erscheint. Dies ist namentlich anzunehmen, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird.

Die Rolle des Nebenklägers als Zeuge im Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ der Aussage anhand des Akteninhalts reichen jedoch für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. KG, Beschluss vom 5. Oktober 2015, 4 Ws 83/15). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher. Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit Akteneinsicht durch den Nebenklägervertreter die Glaubhaftigkeit der Angaben des Nebenklägers stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2016, 5 StR 40116); gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406d ff. StPO entzogen (vgl. KG, Beschluss vom 2. Oktober 2015, 2 Ws 83/16).

Hinsichtlich der Beurteilung der Gefährdung besteht seitens des entscheidenden Gerichts auch ein weiter Entscheidungsspielraum (vgl. KG, Beschluss vorn 21. November 2018, 3 Ws 278/18, m.w.N.). Maßgeblich für die Prüfung der Gefährdung des Untersuchungszwecks ist deshalb stets eine Würdigung der Verfahrens- und Rechtslage im Einzelfall (vgl. KG aaO).

Vorliegend ist zwar eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation gegeben, denn abgesehen von den belastenden Angaben der Nebenklägerin H. in ihrer Strafanzeige und ihren Vernehmungen finden sich in der Verfahrensakte keine weiteren Beweismittel, die das unmittelbare Tatgeschehen betreffen.

Die Ausübung des auf der Rechtsfolgenseite eröffneten Ermessens führt jedoch im vorliegenden Fall dazu, dass die Akteneinsicht dennoch im vollen Umfang zu gewähren war.

Die Akteneinsicht durch die Nebenklagevertreterin gefährdet die gerichtliche Wahrheitsfindung vorliegend nicht in dem Maße, dass die Akteneinsicht deshalb ganz oder teilweise zu versagen wäre. Dabei waren im Rahmen der Ermessensausübung der Grad der Gefährdung der gerichtlichen Wahrheitsermittlung und der Gefährdung der Freiheitsrechte des Angeklagten gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 GG als Ausfluss dieser gegen die Informationsrechte der Nebenklägerin sowie ihre Rechte auf Fürsorge, Gleichbehandlung und Schutz ihrer Menschenwürde abzuwägen (vgl. OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629).

Nach diesen Maßstäben sind die. Voraussetzungen des § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO nicht erfüllt. Dem Interesse der nach Aktenlage einer Vergewaltigung ausgesetzten Nebenklägerin an der Akteneinsicht kommt ein hohes Gewicht zu, zumal unter Umständen zivilrechtliche Ansprüche —etwa Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche — durchgesetzt werden müssen. Schließlich sind bei der Abwägung der Interessen auch die besonderen Verfahrensrechte eines Nebenklägers im Strafprozess zu berücksichtigen, die über diejenigen eines bloßen „Verletzten“, für den § 40ee Abs. 2 Satz 1 StPO auch und unmittelbar Anwendung findet, weit hinausgehen. Ein Überwiegen des Geheimhaltungsinteresses des Angeklagten kann danach nicht festgestellt werden.

Aufgrund der Gefährdung des Ermittlungserfolges kann nach der Gesetzesbegründung die Akteneinsicht in nur „sehr seltenen“ Ausnahmefällen beschränkt werden, als Beispiel wird der selbst einer Tatbeteiligung verdächtige Angehörige eines Getöteten genannt (Vgl. BT-Drs. 16/13671; Seite 1). Ein derart seltener Ausnahmefall, in dem die Gefährdung des Ermittlungserfolges Vorrang vor dem Informationsinteresse des Nebenklägers hat, liegt vorliegend ersichtlich nicht vor.

Desweiteren wird die Gefahr, die die Gewährung der Akteneinsicht für die gerichtliche Wahrheitsfindung darstellt, vorliegend dadurch gemindert, dass die Nebenklagevertreterin anwaltlich versichert hat, dass sie die Verfahrensakte ihrer Mandantin nicht zu Kenntnisnahme überlassen werde. Zwar ist die Einhaltung dieser Zusicherung nicht durchsetzbar. Das Gericht darf jedoch grundsätzlich auf die Integrität und Zuverlässigkeit eines Rechtsanwaltes als vertrauenswürdiges Organ der Rechtspflege vertrauen (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 21. März, 2002, 1 BvR 2119/01; OLG Braunschweig aaO), zumal das Gericht die zur Wahrheit verpflichtete Nebenklägerin im Rahmen der Hauptverhandlung auch danach befragen kann, ob sie im Vorfeld Zugang zu dem. Inhalt ihrer vorherigen Vernehmungen hatte.

Zudem kann der Sachaufklärung und Wahrheitsfindung im Übrigen weiterhin dadurch ausreichend Rechnung getragen werden, dass der Umstand der umfassenden Akteneinsicht der Nebenklägerin und eine hierdurch mögliche Anpassung der Aussage erforderlichenfalls im Rahmen der Beweiswürdigung ihrer Zeugenaussage berücksichtigt wird (vgl. KG aaO).“

Na ja, ich habe da immer Bedenken…..

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Zweimal unschön

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Und dann zum Tagesschluss noch einmal zwei Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, allerdings dreimal unschön. Denn: In beiden Entscheidungen wird die rückwirkende Bestellung abgelehnt. Die Argumente kennen wir, Also nichts Neues.

Die Argumente sind und bleiben falsch und ganz sicher nich nachvollziehbar ist es, wenn auf „alte“ Rechtsprechung abgestellt wird. Man kann nur hoffen, dass hoffentlich bald mal der BGH mit der Frage befasst wird….

Zudem wird es mal Zeit, dass mehr darauf geachtet wird, dass der Sinn und Zweck der gesetzlichen Neuregelung, nämlich eine frühzeitige Bestellung eines Pflichtverteidigers, endlich auch umgesetzt und StA und Gerichte sich teilweise nicht darum scheren.

Bei den beiden Entscheidungen handelt es sich um:

 

Verkehrsrecht I: Noch einmal Kraftfahrzeugrennen, oder: Zu schnelles Konvoifahren?

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Hier gab es lange keinen Verkehrssrechttag 🙂 mehr gemacht. Heute habe ich drei landgerichtliche Entscheidungen zu der Problematik. Nichts wesentlich Neues, aber Fortschreibung der Rechtsprechung…..

Ich beginne mit dem LG Berlin, Beschl. v. 21.12.2020 – 502 Qs 102/20. Das „Weihnachtsgeschenk 2020“ für einen Beschuldigten, dem die Fahrerlaubnis wegen verbotener Kraftfahrzeugrennen vorläufig entzogen worden war. Das LG hat aufgehoben.

Folgender Sachverhalt:

„Dem Beschuldigten wird von der Amtsanwaltschaft Berlin vorgeworfen, mit dem von ihm geführten Fahrzeug Fahrzeug Audi A3 Sportback, pp., am 01. September 2020 gegen 21:50 Uhr vom Bereich der Kreuzung Rhinstr./Landsberger Allee in 12681 Berlin über den KreuzungsbereichRhinstraße/Pyramidenring bis hin zum     Kreuzungsbereich Rheinstraße/Rheinstraße gefahren zu sein. Dabei soll er vorausgefahren und der Mitbeschuldigte soll ihm mit dessen Fahrzeug VW Tiguan, pp.,  gefolgt sein. Im Bereich der Kreuzung Rhinstraße/Pyramidenring sei es zu einem Fahrstreifenwechsel beider Fahrzeuge gekommen, wobei ein vorausfahrendes Fahrzeug rechts ohne vorheriges Setzen von Fahrtrichtungsanzeigern überholt worden und eine derart hohe Geschwindigkeit erreicht worden sei, dass das verfolgende Polizeifahrzeug mit einer Geschwindigkeit von 110 km/h den Abstand nur gering habe verringern können. Die gefahrene Gesamt-strecke habe ca. 770-800 m betragen. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf dem befahrenen Abschnitt der Rhinstraße beträgt 60 km/h (https://daten.berlin.de/datensaetze/tempolimits-wms-2). Die Beschuldigten hätten schließlich im Bereich der Kreuzung Rhinstraße/Rhinstraße aufgrund der rot abstrahlenden Lichtzeichenanlage scharf bremsen müssen und seien zum Stillstand gekommen.

Dazu das LG:

„1. Ein dringender Verdacht für eine Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 2 StGB kommt nach Ansicht der Kammer bei vorläufiger Bewertung der Aktenlage nicht in Betracht, da das Verhalten des Beschuldigten nicht als Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen zu qualifizieren ist. Denn als Rennen im Sinne der Norm sind Wettbewerbe zur Erzielung von Höchstgeschwindigkeiten oder höchsten Durchschnittsgeschwindigkeiten mit mindestens zwei teilnehmenden Kraftfahrzeugen zu verstehen (vgl. m.w.Nw. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01 November 2020, § 315d, Rn. 11, MüKoStGB/Peget, 3. Aufl. 2019, § 315d, Rn. 7). Das Fahren im Konvoi muss dem Renncharakter zwar nicht widersprechen (BT-Drs.18/12964, S. 5), jedoch fehlt es hier an objektiven Indizien zur Feststellung eines wettbewerbsmäßigen Verhaltens des Beschuldigten. Zwar kann auch ein konkludentes Übereinkommen zur Durchführung eines wettbewerbsmäßigen Rennens ausreichen. Hierfür finden sich jedoch nach gegenwärtigem Ermittlungsstand keine objektiven Indizien (etwa das Ver-wenden von renntypischen Begrifflichkeiten, der Festlegung gemeinsamer Start-, Etappen- und Zielorte, das Nehmen der Zeit oder die Vorgabe konkreter Fahrtstrecken). Hier stellt sich der Sachverhalt lediglich als übereinstimmendes – für den Innenstadtbereich mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 60 km/h deutlich zu schnelles – Hintereinanderfahren unter Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung und der Regeln zum Überholen dar, ohne dass es äußere Anhaltspunkte für einen zwischen den Fahrzeugen ausgetragenen Wettbewerb gibt.

2. Auch liegen nicht genügend tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat nach § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB vor. Danach macht sich strafbar, wer sich im Straßenverkehr als Kraftfahrzeugführer mit nicht an-gepasster Geschwindigkeit grob verkehrswidrig und rücksichtslos fortbewegt, um eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Diese Tatvariante soll nach dem gesetzgeberischen Willen primär Einzel-raser erfassen (BT-Drs.18/12964, S. 5), die für sich oder ein virtuelles Publikum ein Rennen nachstellen. Die Norm ist über die Erfassung des Einzelrasers hinaus von ihrem Wortlaut auch geeignet, als Auffangtatbestand für Fälle herzuhalten, in denen eine Subsumtion unter den Rennbegriff mangels Nachweises der wechselseitigen Übereinkunft nicht gelingt (s. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01. November 2020, § 315d, Rn. 32), die jedoch aufgrund ihrer abstrakten Gefährlichkeit strafwürdig erscheinen. Diese Tatvariante ist auch nicht aufgrund mangelnder. Bestimmtheit oder aufgrund der Verschleifung mit den anderen Tatbestandsvarianten verfassungswidrig, muss jedoch restriktiv ausgelegt werden (vgl. KG Be-schluss vom 20. Dezember 2019 – (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362; sich anschließend OLG Köln, Beschluss vom 5. Mai 2020 -111-1 RVs 45/20, NStZ-RR 2020, 224 ff.).

a) In objektiver Hinsicht hat der Beschuldigte sein Kraftfahrzeug in nicht angepasster Geschwindigkeit im Straßenverkehr fortbewegt, da er den Audi A3 Sportback im öffentlichen Straßenland mit einer teils deutlich überhöhten Maximalgeschwindigkeit – die zeitweise zumindest nicht deutlich unter 110 km/h lag, wo-bei der Beschuldigte einräumte, jedenfalls zu schnell gefahren zu sein – geführt hat. Diese erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung im innerstädtischen Bereich stellt eine nicht an die konkrete Verkehrssituation angepasste Geschwindigkeit dar, da sie deutlich über der im befahrenen Straßenabschnitt zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h liegt, die Fahrt bei nächtlichen Lichtverhältnissen erfolgte und ein vorschriftswidriger Überholvorgang eines unbeteiligten Fahrzeugs in einem Kreuzungsbereich statt-fand, so dass davon auszugehen ist, dass vom Beschuldigten sein Fahrzeug in der konkreten Situation (Überholmanöver im Kreuzungsbereich) nicht mehr sicher beherrscht werden konnte.

b) Der Bewertung des Verhaltens des Beschuldigten als grob verkehrswidrig begegnen keine Zweifel. Anhand der Beschreibung des Geschehens durch den Zeugen PM pp. ist hinreichend sicher anzunehmend, dass es im Kreuzungsbereich Rhinstraße/Pyramidenring zu dem Überholvorgang von rechts ohne Verwendung des Fahrtrichtungsanzeigers gekommen ist und dass nur kurz nach dem Kreuzungs-bereich der Einsatzwagen der Polizeikräfte ca. 110 km/h schnell fahren musste, wodurch der Abstand zu dem Fahrzeug des Beschuldigten nur gering reduziert wurde. Es ist demnach gegenwärtig davon auszugehen, dass der Beschuldigte mit einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit, die jedenfalls nicht deutlich unter 110 km/h gelegen hat, das Überholmanöver ausgeführt und den Kreuzungsbereich passiert hat. Dies lässt die Wertung zu, dass der Beschuldigte einen erheblichen Geschwindigkeitsverstoß in einem Kreuzungsbereich begangen hat, der — was die Einordnung eines solchen Verstoßes in § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB indiziert — einen besonders schweren und typischerweise besonders gefährlichen Verstoß gegen eine Verkehrsvorschrift darstellt. Das falsche Überholen unter Verstoß gegen § 5 Abs. 1 StVO stellt zudem einen Verstoß des Katalogs des § 315c Abs. 1 Nr. 2 b) StGB dar, was ebenso ein gewichtiges Indiz für die Bestimmung eines schwerwiegenden Verkehrsverstoßes darstellt (vgl. BeckOK StGB/Kulhanek, 48. Ed. 01. November 2020, § 315d, Rn. 36).

c) Der Beschuldigte handelte zudem rücksichtslos. Rücksichtslos handelt, wer sich im Bewusstsein seiner Verkehrspflichten aus eigensüchtigen Gründen über diese hinwegsetzt oder sich aus Gleichgültigkeit nicht auf seine Pflichten als Fahrzeugführer besinnt und unbekümmert um die Folgen seines Ver-haltens fährt. Das Verhalten des Beschuldigten ist unter diesen Prämissen als rücksichtslos zu bewerten, da er gegenüber den Polizeibeamten PM pp., POK pp. und PK pp. angegeben haben soll, dass er zu schnell gefahren ist. Sein zur Schau gestellter Eigennutz, der im schnelleren Vorankommen unter Missachtung der Gefährlichkeit des zu schnellen Fahrens und der Regeln des Überholens zu sehen ist, sprechen dafür, dass der Beschuldigte rücksichtslos handelte und nicht nur aus Gedankenlosigkeit oder Nachlässigkeit die Verkehrsregeln missachtete (vgl. zu diesem Maßstab KG Beschluss vom 20. Dezember 2019 (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362 Rn. 22).

d) Es liegen jedoch keine dringlichen Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beschuldigte in der Absicht handelte, eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen. Mit dieser hohen subjektiven Anforderung, der nur ein dolus directus ersten Grades genügt, soll der Renncharakter des Verhaltens auch bei § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB tatbestandlich verankert werden, womit auch an die mit einem solchen Verhalten verbundene erhöhte abstrakte Gefährlichkeit angeknüpft wird. Das subjektive Merkmal der Absicht des Er-reichens einer höchstmöglichen Geschwindigkeit dient der Abgrenzung von bußgeldbewehrten Geschwindigkeitsverstößen einerseits und dem Nachstellen eines Rennens andererseits (vgl. BT-Drs. 18/12964, S. 6; KG Beschl. v. 20.12.2019 — (3) 161 Ss 134/19 (75/19), BeckRS 2019, 35362 Rn. 9, beck-online). Das erstrebte Erzielen der höchstmöglichen Geschwindigkeit umfasst die fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit, das subjektive Geschwindigkeitsempfinden, die Verkehrslage und die Witterungsbedingungen (BT-Drs. 18/12964, S. 5).

Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist über das subjektive Vorstellungsbild des Beschuldigten nur bekannt, dass er wusste, dass er zu schnell gefahren ist. Dass er die maximale fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit erreichen wollte, ist damit nicht belegt und ist angesichts der technischen Möglichkeiten eines Audi A3 Sportback auch durch die tatsächlich erzielte Geschwindigkeit von unter 110 km/h nicht indiziert. Dass der Beschuldigte durch die Verkehrslage, die Witterungsbedingungen oder andere Umstände an dem Erzielen einer Höchstgeschwindigkeit an der äußeren Manifestation einer solchen Absicht gehindert worden wäre, ist bisher nicht ermittelt worden und angesichts der Fahrtstrecke von 770-800 m — in der auch eine Beschleunigung auf eine deutliche höhere Geschwindigkeit bei entsprechender Absicht möglich erscheint — nicht wahrscheinlich. Auch die sonstigen objektiven Umstände lassen keinen ausreichend sicheren Schluss auf eine solche Absicht zu.“

Akteneinsicht I: Akteneinsicht für die Nebenklägerin?, oder: Umfang der Akteneinsicht und rechtliches Gehör

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Heute dann mal ein Tag der „Akteneinsichtsentscheidungen“, und zwar quer Beet, also Straf-, Bußgeld- und Auslieferungsverfahren.

Ich beginne mit dem Strafverfahren und stelle zunächst drei Entscheidungen zur Akteneinsicht des Nebenklägers/Verletzten vor, und zwar:

Beim AG Tiergarten ist ein Verfahren mit dem Vorwurf der Vergewaltigung anhängig. In dem hat das AG mit dem AG Tiergarten, Beschl. v. 11.10.2021 – (255 Ls) 284 Js 4525/19 – der Nebenklägerin in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vollständige Akteneinsicht gewährt. Dagegen die Beschwerde des Angeklagten. Das LG gewährt dann mit dem LG, Beschl. v. 03.11.2021 – 538 Qs 131/21 – nur beschränkte Akteneinsicht:

„Gemäß § 406e Abs. 2 Satz 2 StPO kann dem durch eine Straftat Verletzten, die Akteneinsicht unter anderem dann versagt werden, wenn und soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Dies ist grundsätzlich auch nach Erhebung der öffentlichen Klage möglich (vgl: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 406e Rn. 11).

Die Möglichkeit, dass durch die Aktenkenntnis des Verletzten eine. auf den Akteninhalt präparierte Zeugenaussage folgt, reicht für die Annahme einer Gefährdung des Untersuchungszwecks noch nicht aus, Bei Aussage gegen Aussage Konstellationen ist jedoch durch die Aktenkenntnis des Verletzten regelmäßig eine Beeinträchtigung der gerichtlichen Sachaufklärung (§ 244 Abs, 2 StPO) zu besorgen, weil die Kenntnis des Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt der Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 22. Juli 2015 — 1 Ws 88/15 —) und die Beurteilung im Hinblick auf die Konstanz der Aussage als wesentliches Glaubhaftigkeitskriterium erschwert. In diesen Fällen ist jedenfalls eine unbeschränkte Akteneinsicht des Verletzten mit der gerichtlichen Pflicht zur bestmöglichen Sachaufklärung unvereinbar (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg a.a.O.).

Jedoch bedeutet dies nicht, dass der Nebenklägerin die Akteneinsicht gänzlich zu versagen ist. Mildere Mittel, die diese Besorgnis hinreichend ausräumen, sind vorrangig zu prüfen. Insoweit genügt es, die Versagung der Akteneinsicht lediglich. auf die Protokolle der Vernehmung der Nebenklägerin zu beschränken (vgl. Kammergericht, Beschluss vom 5. Oktober 2016 -. 3 Ws 517/16 — m.w.N.).

Die unbeschränkte Akteneinsicht ist daher im derzeitigen Verfahrensstadium zu versagen, bleibt aber zu einem späteren Zeitpunkt (nach Abschluss der Vernehmung der Nebenklägerin im gerichtlichen Verfahren) unbenommen.“

Zu dieser ganzen Problematik gibt es ja auch eine umfangreiche Rechtsprechung des BVerfG, das sich jetzt gerade erst im BVerfG, Beschl. v. 08.10.2021 – 1 BvR 2192/21 – noch einmal geäußert hat, allerdings „nur“ im Rahmen einer Entscheidung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das BVerfG weist aber schon in dieser Entscheidu ng auf seine bisherige Rechtsprechung hin, so dass nach wie vor folgendern Leitsatz gilt:

„Die Gewährung von Akteneinsicht nach § 406e Abs. 1 StPO ist regelmäßig mit einem Eingriff in Grundrechtspositionen des Beschuldigten, namentlich in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, verbunden. Die Staatsanwaltschaft ist vor Gewährung der Akteneinsicht deshalb zu einer Anhörung des von dem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten verpflichtet. Die unterlassene Anhörung stellt einen schwerwiegenden Verfahrensfehler dar, der durch die Durchführung des Verfahrens auf gerichtliche Entscheidung nicht geheilt werden kann.