Schlagwort-Archive: Haftungsverteilung

Haftungsverteilung im Innenverhältnis, oder: Tätigkeit bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs

© rcx – Fotolia.com

Im Kessel Buntes dann heute zunächst das OLG Celle, Urt. v. 16.12.2020 – 14 U 77/19 – zur Frage des  Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 2 StVG betreffend einen aussteigenden Beifahrer.

Dazu folgender Sachverhalt: Der Beklagte zu 1) fuhr nachts mit dem bei der Beklagten zu 3) Kfz-haftpflichtversicherten Taxi, dessen Halter der Beklagte zu 2) war, eine BAB . Der Beklagte zu 1) beförderte die britischen Soldaten T., C. und H. Die Fahrgäste waren erheblich alkoholisiert, bei T. wurde später eine BAK von 1,79 ‰ festgestellt. Der Beklagte zu 1) stoppte das Fahrzeug auf dem Seitenstreifen, weil sich der hinten links sitzende H. übergeben musste. Der Beifahrer T. stieg aus und begab sich zur linken hinteren Tür, die H. zwischenzeitlich geöffnet hatte, um seinem Kameraden zu helfen. Kurze Zeit später näherte sich auf der rechten von drei Fahrspuren ein bei der Klägerin haftpflichtversicherter Sattelzug, der vom Zeugen W. gesteuert wurde. Er kollidierte mit der geöffneten Türe des Beklagtenfahrzeugs und erfasste T., der dabei schwer verletzt wurde und später infolge der Unfallverletzungen verstarb.

Die Klägerin regulierte die Schäden des Verstorbenen, dessen Erben und des Vereinigten Königreichs unter Annahme einer Mithaftungsquote des Getöteten von 25 %. Nunmehr macht die Klägerin gegenüber den Beklagten Regressansprüche geltend und begehrt Erstattung von 50 % ihrer Aufwendungen. Die Beklagten sehen eine Mithaftung gegenüber dem Getöteten nicht, insbesondere da die Haftung nach § 8 Nr. 2 StVG ausgeschlossen sei.

Das LG hatte die Klage abgewiesen, das OLG hat ihr dem Grunde nach stattgegeben, Zur Anwendung des § 8 StVG führt das OLG aus:

„dd) Die Haftung der Beklagten ist auch nicht nach § 8 Nr. 2 StVG ausgeschlossen.

Diese Vorschrift schließt die Gefährdungshaftung des Kfz-Halters aus, wenn der Verletzte bei dem Betrieb des Kraftfahrzeugs oder Anhängers tätig war. Erfasst werden Personen, die durch die unmittelbare Beziehung ihrer Tätigkeit zum Betrieb des Kraftfahrzeugs den von ihm ausgehenden besonderen Gefahren stärker ausgesetzt sind als die Allgemeinheit, auch wenn sie nur aus Gefälligkeit beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig geworden sind (König in: Hentschel/Dauer/König, a.a.O., § 8 StVG Rn. 3 f.). Der Sinn und Zweck des gesetzlichen Haftungsausschlusses besteht darin, dass der erhöhte Schutz des Gesetzes demjenigen nicht zuteilwerden soll, der sich durch seine Tätigkeit den besonderen Gefahren des Kraftfahrzeugbetriebs freiwillig aussetzt (u. a. Senat, Urteil vom 17. Februar 2000 – 14 U 32/99 –, Rn. 13 m. w. N, juris). Als Ausnahmevorschrift ist die Bestimmung des § 8 Nr. 2 StVG eng auszulegen BGH, Urteil vom 05. Oktober 2010 – VI ZR 286/09 –, Rn. 23, juris). Für die Anwendung des § 8 StVG kommt es nicht auf die Art der Tätigkeit zur Zeit eines Schadensfalles an, sofern sie nur der Förderung des Betriebes des Kfz dient. Doch setzt die Tätigkeit bei dem Betrieb eines Kfz im Allgemeinen eine gewisse Dauer voraus, wie sie beispielsweise der Fahrer im Verkehr ausübt. Fehlt es an einer Dauerbeziehung, wie es bei gelegentlichen Hilfeleistungen an dem Betriebe unbeteiligter Personen der Fall ist, so kann eine den Haftungsausschluss nach § 8 Nr. 2 StVG herbeiführende Tätigkeit nach Sinn und Zweck des Gesetzes nur angenommen werden, wenn sie in einer so nahen und unmittelbaren Beziehung zu den Triebkräften des Kfz steht, dass der Tätige nach der Art seiner Tätigkeit den besonderen Gefahren des Kfz-Betriebs mehr ausgesetzt ist als die Allgemeinheit (BGH, a. a. O.).

Ausgehend von diesen Grundsätzen war der Getötete nicht bei dem Betrieb des Taxis tätig. Er fuhr als Beifahrer mit, wurde also lediglich befördert. Dies allein genügt nicht (vgl. auch König in: Hentschel/Dauer/König, a. a. O., Rn. 4 m. w. N.). Auch das Öffnen der Tür, Aussteigen und Hingehen zum Mitfahrer H., um diesem zu helfen, vermag die Annahme, der Getötete sei damit beim Betrieb des Kraftfahrzeugs tätig geworden, bei lebensnaher Betrachtung unter Berücksichtigung der gebotenen engen Auslegung des § 8 Nr. 2 StVG (s.o.) nicht zu begründen. Denn mit diesem Verhalten wird der Betrieb des Kfz nicht gefördert oder sonst in irgendeiner Weise auf den Betrieb des Fahrzeugs eingewirkt. Eine unmittelbare Beziehung zu den Triebkräften des Kfz besteht nicht. Auch war der Getötete dadurch den besonderen Gefahren des Kraftfahrzeugbetriebs nicht in maßgeblichem Umfang mehr ausgesetzt als zuvor als beförderter Beifahrer. Soweit das Oberlandesgericht München in einer Entscheidung aus dem Jahr 1966 annahm, der Insasse eines Kfz, der beim Aussteigen selbst die Tür öffnet, sei insoweit beim Betrieb des Kfz tätig; der Kraftdroschkenunternehmer hafte daher dem zahlenden Fahrgast nicht nach den Grundsätzen der Gefährdungshaftung, wenn dieser bei einem solchen Vorgang verletzt wird (vgl. OLG München, Urteil vom 24. Juni 1966 – 10 U 866/66 –, juris), folgt der Senat dem nicht (ebenfalls kritisch: König in: Hentschel/Dauer/König, a. a. O., Rn. 4).

ee) Der Verweis der Beklagten auf §§ 104, 106 SGB VII geht fehl. Der Beklagte zu 1) bzw. die Beklagten waren nicht Unternehmer im Sinne von §§ 104 Abs. 1, 136 Abs. 3 SGB VII. Der Unfall stellt keinen Versicherungsfall im Sinne von § 7 SGB VII – Arbeitsunfall oder Berufskrankheit – dar, was aber erforderlich wäre (vgl. (Hollo in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 104 SGB VII, Rn. 11, juris). Entgegen der auch in der Berufungserwiderung vertretenen Ansicht war der Geschädigte auch nicht gesetzlich unfallversichert, weil die Voraussetzungen des von den Beklagten angeführten § 2 Abs. 1 Nr. 13 a) Alt. 2 SGB VII nicht vorliegen. Gemäß dieser Vorschrift sind kraft Gesetzes versichert solche Personen, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retten. Die Beklagten vertreten die Ansicht, der Geschädigte habe den Zeugen H. vor gemeiner Gefahr schützen bzw. in Not Hilfe leisten wollen. Denn das Handeln des Geschädigten habe nur dazu gedient zu verhindern, dass der Zeuge H. aus dem Fahrzeug aussteige und auf die Autobahn torkele. Letzteres ist jedoch nicht erwiesen (dazu s.u. lit. ff) (3)) bzw. Spekulation. Dass ein sofortiges Einschreiten des Geschädigten objektiv erforderlich war, um den Zeugen H. zu schützen, ist nicht erwiesen. Der von den Beklagten angeführte Fall, den das Bundesozialgericht zu entscheiden hatte, ist nicht vergleichbar. Denn dort war eine Gefahrensituation gegeben, weil neben der Mittelleitplanke eine Stützradführungshülse lag, die bis an den Rand der Überholspur ragte; das Bundessozialgericht bejahte deshalb das Tatbestandsmerkmal der gemeinen Gefahr (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2012 – B 2 U 7/11 R –, juris).“

Vorfahrtsregelung im Parkhaus, oder: Welche Sorgfaltsanforderungen bestehen?

entnommen wikipedia.org

Die zweite Entscheidung des Tages, das LG Saarbrücken, Urt. v. 23.12.2020 – 13 S 122/20 – ist auch nicht mehr ganz taufrisch, aber heute dann ebenfalls endlich 🙂 .

Entschieden hat das LG über einen Verkehrsunfall in einem Parkhaus. Der Kläger befuhr mit seinem Pkw auf dem 5. Parkdeck die zur Ausfahrt führende Parkgasse. Die Zeugin pp. fuhr mit ihrem Mercedes B 180, auf einer von rechts in die Fahrbahn des Klägers einmündenden Parkgasse. Über der Zufahrt dieser Gasse ist ein Verkehrszeichen 205 (Vorfahrt gewähren) angebracht. Als der Kläger die Einmündung passierte und die Zeugin nach rechts in die Fahrbahn des Klägers einbog, kam es zur Kollision. Dabei berührten sich das klägerische Fahrzeug am Kotflügel vorne rechts und das von der Zeugin geführte Fahrzeug am Kotflügel vorne links. Dem Kläger entstand ein Schaden von insgesamt 3.135,59 €, den der Beklagte zu 50 % regulierte.

Der Kläger ist von der vollen Haftung der Beklagten ausgegangen, die Beklagten nur von einem Anteil von 50 %. Sie haben nur in der Höhe reguliert. Der Kläger hat den Rest eingeklagt. Das AG hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte teilweise Erfolg:

„1. Zutreffend ist das Amtsgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl der Kläger als auch der Beklagte grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7, 17 Abs. 1, 2 StVG i.V.m. § 115 VVG, § 6 Abs. 1 AusPflVG – der beklagte Verein ist nach § 2 Abs. 1 b AuslPflVG an die Stelle des zuständigen Versicherers getreten – einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte.

a) Unabwendbar nach § 17 Abs. 3 StVG ist ein Ereignis nur dann, wenn es auch durch äußerste Sorgfalt – gemessen an den Anforderungen eines Idealfahrers, die erheblich über den Maßstab der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt i.S.v. § 276 BGB hinausgehen (BGH, Urteil vom 18. Januar 2005 – VI ZR 115/04, NZV 2005, 305) – nicht abgewendet werden kann (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, a.a.O., § 17 StVG, Rn. 14 f. m.w.N.). Die besondere Sorgfalt des Idealfahrers muss sich dabei nicht nur in der konkreten Gefahrensituation, sondern auch bereits im Vorfeld manifestieren.

b) Dem hierfür darlegungs- und beweispflichtigen Kläger ist es nicht gelungen, den Nachweis der Unabwendbarkeit des Unfalls zu erbringen. Ein umsichtiger und vorausschauender Idealfahrer hätte in der konkreten Verkehrssituation in seine Überlegung mit einbezogen, dass die Zeugin … ihn übersehen oder sich ihm gegenüber vorfahrtberechtigt glauben könnte. Er hätte den Einmündungsbereich daher erst dann passiert, wenn durch Verständigung eindeutig festgestanden hätte, dass die Zeugin ihm die Vorfahrt gewähren würde.

2. Im Rahmen der danach gebotenen Haftungsabwägung gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG ist die Erstrichterin davon ausgegangen, dass beide Fahrer den Unfall durch einen Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO verursacht haben. Hiergegen wendet sich die Berufung mit Erfolg.

a) Noch zutreffend hat das Erstgericht die StVO angewandt. Die StVO regelt und lenkt den Verkehr auf öffentlichen Wegen und Plätzen. Öffentlich ist ein Verkehrsraum, wenn er entweder ausdrücklich oder mit stillschweigender Duldung des Verfügungsberechtigten für jedermann oder aber für eine allgemein bestimmte größere Personengruppe zur Benutzung zugelassen ist und auch so benutzt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2011 – 4 StR 401/11, NZV 2012, 394; Kammerurteil vom 15. Februar 2019 – 13 S 115/19 mwN). Bei der Eröffnung eines der Allgemeinheit zugänglichen Parkhauses sind diese Voraussetzungen unabhängig davon erfüllt, ob die Geltung der StVO durch eine vorhandene Beschilderung ausdrücklich angeordnet ist (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 1985 – III ZR 53/84, VersR 1985, 835; BGH, Urteil vom 9. März 1961 – 4 StR 6/61, BGHSt 16, 7, 10; Kammer, st. Rspr.; vgl. Urteil vom 21. November 2014 – 13 S 132/14, Zfs 2015, 201).

b) Auch die Annahme der Erstrichterin, § 8 Abs. 1 StVO käme unter den gegebenen Umständen nicht zur Anwendung, begegnet keinen Bedenken. Nach vorherrschender Auffassung, der sich die Kammer in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat, ist § 8 Abs. 1 StVO auf Parkplätzen (bzw. in Parkhäusern) grundsätzlich nur dann anwendbar, wenn die angelegten Fahrspuren (eindeutig) Straßencharakter haben (vgl. Nachweise im Kammerurteil vom 15. Februar 2019 – 13 S 115/19). Zu bejahen ist ein solcher, wenn durch die bauliche Ausgestaltung oder durch die Fahrbahnmarkierung eine gekennzeichnete Straßen- oder Wegeführung gegeben ist, die der Zu- und Abfahrt der Fahrzeuge dient. Erforderlich ist eine hinreichende Abgrenzung von den Parkboxen. Merkmale für die Abgrenzung sind neben der Markierung auch die Fahrbahnbreite und die Verkehrsführung. Dienen die Fahrspuren nicht dem „fließenden Verkehr“, sondern dem Suchverkehr, ist das Merkmal zu verneinen (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 8 StVO, Rn. 71). Unter Beachtung dieser Grundsätze hat die Erstrichterin den (eindeutigen) Straßencharakter der hier in Rede stehenden Fahrgassen zu Recht verneint. Denn die streitgegenständlichen, zwar durch Markierung von den Parkboxen abgegrenzten Fahrgassen dienen ausweislich der in der Akte befindlichen Lichtbilder in erster Linie der Zufahrt zu weiteren Parkboxen. Dass die Beschilderung und auf der Fahrbahn befindliche Fahrtrichtungspfeile auch auf die Ausfahrt des Parkhauses hinweisen, ändert hieran nichts.

c) Hiervon ausgehend hatten beide Beteiligten die allgemeinen Sorgfaltsanforderungen nach § 1 Abs. 2 StVO zu beachten, die sich nach den konkreten Anforderungen der Verkehrslage und den jeweiligen örtlichen Verhältnissen richten. Diese wurden vorliegend durch die eindeutige Beschilderung („Vorfahrt-gewähren“) aus Fahrtrichtung der Zeugin … seitens des Parkhausbetreibers besonders ausgestaltet bzw. konkretisiert. Die Verwendung von Verkehrszeichen außerhalb des öffentlichen Straßenverkehrs z.B. zur Verkehrsregelung auf privaten Grundstücken ist nicht nur zulässig, sondern sogar erwünscht (vgl. BGH, Beschluss vom 22. April 2004 – I ZB 15/03 -, BPatGE 47, 297). Zwar geht von Ihnen keine bindende Wirkung i.S. einer straf- oder ordnungswidrigkeitsrechtlichen Haftung aus. Zivilrechtlich können sie allerdings eine Mithaftung begründen, da ihr Regelungsgehalt jedenfalls im Rahmen des gegenseitigen Rücksichtnahmegebots entsprechend zu beachten ist (vgl. z.B. LG Düsseldorf, Urteil vom 21. August 2014 – 16 O 126/13, juris; AG Düsseldorf, Urteil vom 12. September 2007 – 35 C 6864/07, Schaden-Praxis 2007, 424; Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 04. Dezember 2015 – 2 U 326/15; OLG Köln, Urteil vom 23. Juni 1993 – 13 U 59/93, Schaden-Praxis 1994, 178; Freymann in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., Einleitung – Grundlagen des Straßenverkehrsrechts, Rn. 30; Wern in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 39 StVO, Rn. 24). Dementsprechend trifft die Zeugin … vorliegend ein erheblicher Sorgfaltsverstoß, weil sie das aus ihrer Sicht gut erkennbare Verkehrszeichen missachtet und so den Unfall mit dem auf der bevorrechtigten Fahrgasse fahrenden Klägerfahrzeug verursacht hat.

d) Ein Verstoß des Klägers gegen die Sorgfaltspflichten des § 1 Abs. 2 StVO ist demgegenüber nicht feststellbar. Zwar ist es zutreffend, dass der Kläger mit von rechts kommendem Fahrzeugverkehr jederzeit rechnen und sein Fahrverhalten hierauf einstellen musste. Dies gilt umso mehr als er die Zeugin … unstreitig schon vor ihrer Einfahrt in seine Fahrgasse wahrgenommen hatte. Vorliegend ist allerdings nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme davon auszugehen, dass die Zeugin ihr Fahrzeug an der Einmündung zunächst angehalten und so ein Vertrauen des in Kenntnis der örtlichen Verkehrsreglung heranfahrenden Klägers darauf begründet hatte, sie werde sein Vorfahrtsrecht achten. Dem diesbezüglichen Vortrag des Klägers ist die Zeugin nicht entgegengetreten, sondern ging selbst davon aus, angehalten zu haben (Bl. 102 d.A.). Da vorliegend auch nicht ersichtlich ist, dass die Missachtung der Vorfahrt durch die Zeugin … bereits zu einem Zeitpunkt für den Kläger erkennbar wurde, in dem er die Kollision noch durch ein Ausweichmanöver oder ein Abbremsen hätte vermeiden können, kann ein unfallursächlicher Sorgfaltsverstoß des Klägers nicht als erwiesen angesehen werden. So lässt sich auch die Vermutung des Beklagten, der Kläger könne schon deshalb nicht mit angepasster Geschwindigkeit bzw. jederzeit bremsbereit gefahren sein, da es zur Kollision gekommen sei, nicht beweiswürdig nachvollziehen. Der Einholung eines von der Beklagtenseite angebotenen Unfallrekonstruktionsgutachtens bedarf es insoweit nicht, da greifbare Anhaltspunkte dafür fehlen, wann eine entsprechende Reaktionsaufforderung an den Kläger erging.

3. Vor diesem Hintergrund steht im Rahmen der gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der Verursachungsbeiträge dem Sorgfaltsverstoß der Zeugin … lediglich die einfache Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber, die hier nicht zurücktritt. Dies käme nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn das Verschulden des Unfallgegners durch besondere Umstände erschwert wäre. Solche Umstände, die das Verschulden der Zeugin … als besonders schwerwiegend erscheinen lassen könnten, liegen hier allerdings nicht vor, zumal die einzuhaltenden Sorgfaltspflichten auf Parkflächen einander angenähert sind (vgl. z.B. Kammer, Urteil vom 3. Juli 2020 – 13 S 41/20 und vom 19. Juli 2013 – 13 S 61/13, zfs 2013, 564, jeweils m.w.N.) und der Kläger die Einmündung ohne eine Rückversicherung, dass die Zeugin … ihn gesehen hatte, passierte. Vor diesem Hintergrund trägt eine Haftungsverteilung von 75% zu 25% zu Lasten des Beklagten den Verursachungsanteilen angemessen Rechnung.“

Anscheinsbeweis auch bei (Ketten)Auffahrunfall nach Starkbremsung?, oder: Haftungsverteilung

Bild von LillyCantabile auf Pixabay

Bei der zweiten Entscheidung des Tages handelt es sich mal wieder um ein OLG-Urteil, das sich nach einem Verkehrsunfall mit der Frage der Haftungsverteilung befasst.

Das OLG Celle, Urt. v. 16.12.2020 – 14 U 87/20 – hat einen Auffahrunfall zum Gegenstand, also eine Unfallsituation, die man schon auch als Dauerbrenner bezeichnen kann. Es handelt sich allerdings um einen sog. „Kettenauffahrunfall“. Gestritten worden ist u.a. auch um die Frage, ob auch in den Fällen der Anscheinsbeweis gilt.

Das das Urteil recht umfangreiche begründet ist, stelle ich hier dann mal nur die Leitsätze ein, den Rest dann bitte im Volltext selbst lesen:

1. Gegen den Auffahrenden spricht der Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Unfallverursachung, sofern nicht besondere Umstände vorliegen, die gegen die Typizität des Geschehens sprechen.

2. Auch im Falle eines Kettenauffahrunfalls kann nach den Umständen des Einzelfalls ein Anscheinsbeweis gegen den ersten Auffahrenden sprechen.

3. Der Hintermann muss grundsätzlich, wenn keine atypische Konstellation vorliegt, mit einem plötzlichen scharfen Bremsen des Vorausfahrenden rechnen; der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis ist in dem Fall nicht erschüttert.

4. Der Auffahrende haftet auch bei unverhofft starkem Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund in der Regel überwiegend (hier 70 : 30).

Kollision mit einem Liegenbleiber ohne Warnlicht, oder: Haftungsverteilung beim Zweitunfall

Bild von https://megapixel.click – CC0 photos for free auf Pixabay

Die zweite „Unfallentscheidung“ kommt auch vom OLG Celle. Das hat im OLG Celle, Urt. v. 05.08.2020 – 14 U 37/20 – über die Haftungsverteilung bei Kollision eines Fahrzeugs mit einem infolge eines vorangegangenen Unfalls liegengebliebenen Fahrzeugs zu entscheiden, also sog. „Zweitunfall“.

Um Unfalltag war es auf der Kreuzung einer Bundesstraße mit zwei weiteren Straßen zunächst zu einer Kollision des Beklagtenfahrzeugs mit dem Fahrzeug eines Zeugen gekommen, als der Beklagte zu nach links auf die Bundesstraße abbiegen wollte und dabei den ihm entgegenkommenden, geradeaus fahrenden Zeugen übersah. Das Beklagtenfahrzeug blieb mittig und quer zur Fahrbahn liegen, das Fahrzeug des Zeugen am Straßenrand und teilweise auf dem Grünstreifen unmittelbar neben den dortigen Fahrtrichtungsschildern. Der Beklagte zu 1) verließ sein Fahrzeug, die Warnblinkanlage schaltete er nicht ein. Kurz darauf kollidierte der Kläger mit seinem Pkw mit dem Beklagtenfahrzeug. Der Kläger wurde verletzt, beide Fahrzeuge wurden erheblich beschädigt.

Die Parteien streiten vornehmlich um die Haftungsquote – beide Seiten haben erstinstanzlich die vollständige Haftung der jeweils anderen geltend gemacht – und zur Höhe insbesondere um den Nutzungsausfallschaden.

Das LG hat nach Beweisaufnahme eine Haftungsquote von 30 : 70 zu Lasten des Klägers zugrunde gelegt. Zur Begründung hat das LG im Wesentlichen darauf abgestellt, dass kein Fall höherer Gewalt vorliege, der Unfall sei auch für keine Seite unabwendbar gewesen. Die danach vorzunehmende Abwägung der Verursachungsbeiträge führe zu einer Haftung der Beklagten von nur 30 Prozent. Nach dem Ergebnis der Beweiserhebung stehe fest, dass der Kläger deutlich zu schnell gefahren sei und dadurch gegen das Sichtfahrgebot des § 3 Abs. 1 S. 4 StVO verstoßen habe. Dem Beklagten zu 1) sei ein Verstoß gegen § 15 Abs. 1 S. 1 StVO anzulasten, weil er vor dem Verlassen seines Fahrzeugs das Warnblinklicht nicht eingeschaltet habe. Zudem sei zu Lasten der Beklagten noch die erhöhte Betriebsgefahr eines unbeleuchtet mitten auf der Fahrbahn liegenden Fahrzeuges zu berücksichtigen. Bei Abwägung wiege der Sorgfaltsverstoß des Klägers deutlich schwerer.

Dagegen die Berufung des Klägers, mit der er nunmehr unter Zugrundelegung eines eigenen Haftungsanteils von 30 % sein erstinstanzliches Begehren teilweise weiterverfolgt.

Das OLG geht in seiner Entscheidung von 1/3 zu 2/3 aus. Hier die Leitsätze – allerdings ohne die Aussagen zur Schadenshöhe:

  1. Ein am Straßenrand stehendes Fahrzeug, bei dem das Warnblinklicht eingeschaltet ist, muss ein sich annähernder Fahrzeugführer zum Anlass nehmen, besonders aufmerksam zu sein, ggf. seine Fahrgeschwindigkeit zu reduzieren und sich ggf. weiter reaktions-, also insbesondere bremsbereit zu halten (vgl. Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19).
  2. Ein Kraftfahrer hat gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 S. 4 StVO seine Fahrweise so einzurichten, dass er auch in der Dunkelheit vor auf der Straße liegengebliebenen Kraftfahrzeugen, mögen sie auch unbeleuchtet sein, rechtzeitig anhalten kann (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 23. Juni 1987 – VI ZR 188/86, [unbeleuchteter Panzer mit Tarnanstrich]; BGH, Urteil vom 08. Dezember 1987 – VI ZR 82/87 ; Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19).
  3. Der zu einem Unfall (Erstunfall) führende Verkehrsverstoß ist – sofern die übrigen Voraussetzungen der Haftung vorliegen – im Rahmen der nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der Verursachungsbeiträge der Beteiligten eines nachfolgenden Unfalls (Zweitunfall) zu berücksichtigen.
  4. Kommt es im Kreuzungsbereich infolge des Verstoßes eines Verkehrsteilnehmers gegen § 9 Abs. 3 S. 1 StVO zu einem Unfall, verlässt der Unfallverursacher sein mittig auf der Kreuzung liegengebliebenes Fahrzeug, ohne Einschalten des Warnblinklichts (§ 15 S. 1 StVO), und kommt es sodann zur Kollision eines nachfolgenden, mit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden und gegen das Sichtfahrgebot verstoßenden oder unaufmerksamen Verkehrsteilnehmers mit dem liegengebliebenen Fahrzeug des Erstunfalls, kann die Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge zwischen den beiden schuldhaft handelnden Verkehrsteilnehmern eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten desjenigen ergeben, der den Erstunfall verursacht hat (Abgrenzung zu Senat, Urteil vom 22. Januar 2020 – 14 U 150/19 ).

 

Zusammenstoß mit dem überbreiten Feldhäcksler im Begegnungsverkehr, oder: Haftungsverteilung?

Bild von David Mark auf Pixabay

Heute dann noch voraussichtlich der letzte „Kessel Buntes“ in 2020, denn am nächsten Samstag ist 2. Weihnachtsfeiertag. Da wird es wahrscheinlich keine Entscheidungen geben.

Heute stelle ich dann zunächst noch das OLG Celle, Urt. v. 11.11.2020 – 14 U 71/20 – vor. Das OLG hatte über das Haftungsverhältnis aus erhöhter Betriebsgefahr eines landwirtschaftlichen Fahrzeugs mit Überbreite und großer Masse im Verhältnis zum Verschulden eines Pkw-Fahrers wegen Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot zu entscheiden. Dabei spielte die Frage eine Rolle, ob und wie eine fehlenden Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO im Rahmen der Haftungsabwägung zu berückscihtigen ist.

Folgenrder Kurzsachverhalt: Am Unfalltag kam es auf einer im Begegnungsverkehr zur Kollision zwischen dem VW Golf V des Klägers war, und einem vom Beklagten zu 2) geführten, bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Feldhäcksler. Der Kläger fuhr vor der Kollision hinter einem Kleintransporter, der – wie auch weitere Fahrzeuge – das Beklagtenfahrzeug ohne Kollision passierten. Der genaue Unfallhergang ist/war zwischen den Parteien streitig.

Bei dem Feldhäcksler handelte es sich um ein landwirtschaftliches Fahrzeug mit Überbreite (3,45 m), für dessen Zulassung und Betrieb eine Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO erforderlich ist, die am Unfalltag nicht (mehr) vorlag.

Das LG ist von einer Haftungsquote von 60 : 40 zu Lasten des Klägers ausgegangen. Der Unfallschaden sei von dem Häcksler zu 40% und dem VW Golf des Klägers zu 60% verursacht worden. Dem Beklagten zu 2) sei ein Verstoß gegen § 3 Abs. 1 StVO vorzuwerfen, weil eine gefahrene Geschwindigkeit von 25 bis 30 km/h keine ausreichend geringe Geschwindigkeit darstelle, um andere Fahrzeuge das überbreite Fahrzeug passieren zu lassen; eine Geschwindigkeit von 10 bis 15 km/h wäre angemessen gewesen. Der Beklagte zu 2) habe damit auch gegen § 1 Abs. 2 StVO verstoßen, weil ein Sicherheitsabstand von mindestens 1 m zwischen den sich begegnenden Fahrzeugen nicht habe eingehalten werden können. Keinen Verursachungsbeitrag stelle dagegen die Tatsache dar, dass die Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO bereits abgelaufen war. Dem Kläger sei demgegenüber ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 Abs. 2 StVO vorzuwerfen, weil er nicht äußerst weit rechts gefahren und nicht auf das Bankett ausgewichen sei; darüber hinaus stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger sich unmittelbar vor der Kollision mit seiner linken Fahrzeugflanke über die Fahrbahnmitte hinaus auf dem Gegenfahrstreifen befunden habe. Der Unfall sei für den Kläger auch vermeidbar gewesen, da ein Idealfahrer hinter dem Kleintransporter ebenfalls nach rechts ausgewichen wäre und sein Fahrzeug zunächst zum Stehen gebracht hätte, bis die Ursache für das Fahrmanöver des Kleintransporters erkennbar wäre.

Die Berufung hatte keinen Erfolg. Das OLG sagt: Keine günstigere Quote als 60 : 40. Hier die Leitsätze: 

  1. Kann ein Fahrzeug mit Überbreite, das bereits den Grünstreifen neben der Fahrbahn mitbenutzt, wegen Alleebäumen nicht noch weiter rechts fahren, ist ein der Überbreite geschuldetes gleichzeitiges Überfahren der (gedachten) Mittellinie der Fahrbahn nicht vorwerfbar.
  2. Eine fehlende Ausnahmegenehmigung nach § 70 Abs. 1 StVZO ist im Rahmen der Haftungsabwägung nach §§ 17 Abs. 1, Abs. 2, 18 Abs. 3 StVG nicht zu berück-sichtigen, weil die Norm nicht dem Individualrechtsschutz anderer Verkehrsteilnehmer dient und deshalb ein Unfall bzw. der Unfallschaden außerhalb des Schutz-zwecks der Norm liegt.
  3. Kommt es im Begegnungsverkehr auf einer gerade verlaufenden Straße ohne Fahrbahnmarkierungen bei Tageslicht zu einer Kollision zwischen einem landwirt-schaftlichen Fahrzeug mit Überbreite, das so weit nach rechts gesteuert wird, wie es tatsächlich möglich ist, mit einem Pkw, der die Fahrbahnmitte grundlos leicht überschreitet, so tritt die Haftung aus Betriebsgefahr für das landwirtschaftliche Fahrzeug nicht zurück, sondern fließt mit 30 % in die Haftungsquote ein.