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Pflichti I: Pflichtverteidiger wegen Inhaftierung, oder: Keine (Vorab)Beschränkung auf die Dauer der Haft

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Heute dann ein „Pflichti-Tag“. Die Entscheidungen, die mir dazu übersandt werden, will ich wegen der Änderungen im Recht der Pflichtverteidigung im Dezember 2019 immer recht schnell vorstellen. Das bietet sich in diesem Fall an.

Ich starte mit dem LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 7.4.2020 – 6 Qs 40/20 –; schon etwas älter, habe wichtig. Der Kollege Funck hat ihn mir leider jetzt erst geschickt.

Behandelt wird die Beiordnung des Kollegen nach § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Der Kollege wird vom AG beigeordnet, allerdings wird sein Beiordnung von vornherein auf die Dauer des Freiheitsentzuges beschränkt. Das geht so nicht – sagt das LG:

„Gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Der Angeklagte befindet sich bereits seit dem 11.01.2020 und noch voraussichtlich bis zum 31.05.2020 in Haft in der JVA Halle.

Der Grundgedanke des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ist, Nachteile zu kompensieren, die der Angeklagte auf Grund eingeschränkter Freiheit in der damit einhergehenden eingeschränkten Möglichkeit, seine Verteidigung vorzubereiten, erleidet (Vgl. Krawczyk, in: BeckOK StPO, 36, Edition, Stand 01.01.2020, § 140 Rn. 10 — zitiert nach beck-online). Dabei wird nicht differenziert, in welchem Verfahren die Freiheitsentziehung angeordnet worden ist, sodass notwendige Verteidigung bei jeder Inhaftierung zu bejahen ist.

Dabei besteht keine Ermächtigung des Gerichts, die Pflichtverteidigerbestellung beschränkt auf die Dauer der Inhaftierung auszusprechen (Vgl. Krawczyk, a.a.O., Rn. 13 — zitiert nach beck-online). Vielmehr wäre die Pflichtverteidigerbestellung durch ausdrücklichen Aufhebungsbeschluss zu beenden, wenn die Voraussetzungen des § 143 Abs. 2 S. 2 StPO vorliegen, das heißt, wenn der Angeklagte mindestens zwei Wochen vor Beginn der Hauptverhandlung aus der Anstalt entlassen wird und die für den Angeklagten verbleidende Zeit ausreicht, sich angemessen auf seine Verteidigung vorzubereiten, wobei es sich bei der Aufhebung stets um eine Ermessensentscheidung des Gerichts handelt (Vgl, Krawczyk, in: BeckOK StPO, 36. Edition, Stand 01.01.2020, § 143 Rn. 9 — zitiert nach beck-online, ebenso OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. 11. 2010 – 4 Ws 615/10; LG Magdeburg, Beschluss vom — 21 Qs 785 Js 36889/13 (44/14)).

Aus diesem Grund war der Beschluss des Amtsgerichts Dessau-Roßlau vom 21.02.2020 (Az.: 2 Ds 242/19 (594 Js 20426/19) aufzuheben und dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger ohne Beschränkung beizuordnen.“

Nebenklage I: Aufhebung einer Nebenklagezulassung und/oder „Neuzulassung“

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Heute habe ich dann drei Entscheidungen zur Nebenklage zusamengestellt.

Den Opener mache ich mit dem KG, Beschl. v  30.06.2020 – 4 Ws 37/20 – zur Aufhebung einer fehlerhaften Nebenklagezulassung. Das LG hatte eine Nebenklagezulassung durch das AG im Berufungsverfahren wieder aufgehoben.

Folgender (konkreter) Sachverhalt.

„Das Amtsgericht Tiergarten hat den Angeklagten am 20. September 2019 wegen Diebstahls sowie wegen Nötigung in Tateinheit mit Erpressung zu einer Gesamtgeldstrafe von 120 Tagessätzen (Einzelstrafen: 60 und 90 Tagesätze) zu je 30,- Euro verurteilt und die Einziehung von Wertersatz in Höhe von 2.000,- Euro angeordnet.

Nach den Urteilsfeststellungen nahm der Angeklagte in der Wohnung der Beschwerdeführerin, seiner Ehefrau, die Fahrzeugpapiere des Pkws der Beschwerdeführerin ohne deren Wissen und Einverständnis an sich, um diese für sich zu verwenden. In der Folgezeit meldete er das Fahrzeug ohne Kenntnis und Zustimmung der Beschwerdeführerin auf seinen Namen um. Nachdem er ihr die Umschreibung kundgetan hatte, forderte er sie auf, die Strafanzeige wegen der Entwendung der Fahrzeugunterlagen zurückzunehmen und ihm die Fahrzeugschlüssel auszuhändigen, anderenfalls werde er ihr die Kinder und ihre Eigentumswohnung wegnehmen, so wie er es schon mit dem Auto getan habe. Die Beschwerdeführerin nahm die Drohung ernst, händigte ihm deshalb die Fahrzeugschlüssel aus und nahm die Anzeige zurück. Der Angeklagte hat das Fahrzeug inzwischen für 2.000,- Euro verkauft.

In der der Urteilsverkündung vorausgegangenen Hauptverhandlung vom 20. September 2019 hatte das Amtsgericht Tiergarten folgenden Beschluss erlassen: „Die Zeugin J wird gemäß § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO als Nebenklägerin zugelassen.“ Eine Begründung enthielt der Beschluss nicht. Ein rechtlicher Hinweis darauf, dass die Strafe für die Tat zu 2. auch dem Strafrahmen des § 240 Abs. 4 StGB entnommen werden könnte, wurde nicht erteilt und von der anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin auch nicht angeregt. Der zuvor in dieser Sache ergangene Strafbefehl des Amtsgerichts Tiergarten vom 19. März 2019 enthielt ebenfalls keinen Hinweis auf § 240 Abs. 4 StGB.“

Der Angeklagte hat gegen das Urteil des AG Berufung eingelegt. Nach vorheriger Anhörung der Verfahrensbeteiligten hat die Berufungskammer außerhalb der Hauptverhandlung die Zulassung der Nebenklage widerrufen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zulassung der Nebenklage nach § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO hätten von vornherein nicht vorgelegen, daher sei die Zulassung der Nebenklage zu widerrufen. Die Voraussetzungen für einen Nebenklageanschluss nach § 395 Abs. 3 StPO lägen ebenfalls nicht vor, weshalb eine Zulassung nach dieser Vorschrift nicht erfolge. Zwar seien nach dem Wortlaut der Vorschrift nunmehr alle rechtwidrigen Taten grundsätzlich anschlussfähig, jedoch müsse der Anschluss aus besonderen Gründen, insbesondere wegen der schweren Folgen der Tat, zur Wahrnehmung der Interessen des Verletzten geboten erscheinen. Das Vorliegen besonderer Gründe im Sinne von § 395 Abs. 3 StPO hat die Strafkammer mit der gebotenen Begründungstiefe verneint.

Das KG hat die Beschwerde verworfen:

1. Soweit sich die Beschwerde gegen den Widerruf des Zulassungsbeschlusses des Amtsgerichts Tiergarten richtet, ist sie nach § 304 Abs. 1 StPO zulässig, insbesondere nicht nach § 396 Abs. 2 Satz 2 2. HS StPO ausgeschlossen.

§ 396 Abs. 2 Satz 2 2. HS StPO bezieht sich nur auf Fälle, in denen das Gericht eine Ermessensentscheidung nach § 395 Abs. 3 StPO getroffen hat. Vorliegend jedoch hat das Amtsgericht Tiergarten kein Ermessen ausgeübt, sondern ist davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen des § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO vorliegen, mithin eine gebundene Entscheidung erfolgen müsse.

Die Beschwerde ist insoweit jedoch unbegründet.

Die Verurteilung wegen einer der in § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO genannten Taten kommt vorliegend nicht in Betracht. Insbesondere liegen die Voraussetzungen eines besonders schweren Falls der Nötigung nach § 240 Abs. 4 StGB nicht vor. Die Regelbeispiele des § 240 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 oder Nr. 2 StGB (Missbrauch einer Amtsträgerstellung bzw. Nötigung zum Schwangerschaftsabbruch) sind nicht einschlägig.

Es kann dahinstehen, ob auch die unbenannten besonders schweren Fälle des § 240 Abs. 4 StGB eine Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 1 Nr. 4 StPO konstituieren (vgl. hierzu kritisch Wenske in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Auflage, § 395 Rnr. 4), denn auch ein unbenannter schwerer Fall nach § 240 Abs. 4 StGB liegt nicht vor. Ein besonders schwerer Fall ist – losgelöst von möglichen Regelbeispielen – dann geben, wenn die Tat bei Berücksichtigung aller Umstände die gewöhnlich vorkommenden und deshalb vom Gesetz für den ordentlichen Strafrahmen schon bedachten Fälle an Strafwürdigkeit so sehr übertrifft, dass die Anwendung des verschärften Strafrahmens geboten erscheint. Dies kommt im Bereich der Nötigung in Betracht beim Einsatz eines äußerst intensiven Nötigungsmittels oder wenn das erzwungene Verhalten für das Opfer besonders erniedrigend oder gefährlich ist (vgl. Meyer-Lohkamp, jurisPR-StrafR 23/2018 Anm. 3 m.w.N.; Fischer, StGB 67. Auflage, § 240 Rnr. 62 m.w.N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Auch die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin geht hiervon offensichtlich nicht aus. Sie hat zu keinem Zeitpunkt die Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises angeregt. Nachdem in der Hauptverhandlung der ersten Instanz die Staatsanwaltschaft die Verhängung von Einzelstrafen deutlich unterhalb der Mindeststrafe des § 240 Abs. 4 StGB, nämlich solche in Höhe von 60 und 90 Tagessätzen, beantragt hatte, hat sich ihr Beistand auf den Antrag beschränkt, dem Angeklagten auch die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführerin aufzuerlegen.

Die Berufungskammer durfte den Zulassungsbeschluss auch wiederrufen. Der Zulassungsbeschluss ist in Fällen des § 395 Abs. 1 StPO nur deklaratorischer Natur und nicht rechtskraftfähig. Er kann deshalb in jeder Lage des Verfahrens, insbesondere dann wieder aufgehoben werden, wenn sich nachträglich das Fehlen einer verfahrensrechtlichen Grundlage herausstellt (vgl. Walther in Karlsruher Kommentar, StPO 8. Auflage, § 396 Rnrn. 7 und 9; Valerius in Münchener Kommentar, StPO, § 396 Rnrn. 22 und 23; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Auflage, § 396 Rnrn. 13 und 16; jeweils m.w.N.). Die ohne rechtliche Grundlage erfolgte Zulassung zur Nebenklage bindet das Rechtsmittelgericht ohnehin nicht (vgl. BGH, Beschluss vom 5. April 2000 – 3 StR 75/00 – [juris] m.w.N.).

2. Soweit die Berufungskammer im vorliegenden Verfahren erstmals die Voraussetzungen des § 395 Abs. 3 StPO geprüft hat und zu dem Ergebnis gelangt ist, dass keine besonderen Gründe im Sinne dieser Vorschrift vorliegen, ist der Beschluss nicht anfechtbar, § 396 Abs. 2 Satz 2 2. HS StPO. Die Beschwerde ist insoweit unzulässig.

Der Hinweis der Generalstaatsanwaltschaft Berlin in ihrer Stellungnahme vom 25. Mai 2020 auf die Kommentierung in Meyer-Goßner/Schmitt aaO, § 396 Rnr. 9 führt zu keinem anderen Ergebnis. Zwar ist es zutreffend, dass die Entscheidung nach § 395 Abs. 3 StPO vom Gericht und nicht vom Vorsitzenden allein zu treffen ist, so dass eine Entscheidung des Vorsitzenden trotz der Regelung des § 396 Abs. 2 Satz 2 2. HS StPO ausnahmsweise anfechtbar sein kann. Vorliegend jedoch hat die Berufungskammer entschieden. Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 2. HS GVG ist die kleine Strafkammer mit einem Vorsitzenden und zwei Schöffen besetzt. Gemäß § 76 Abs. 1 Satz 2 GVG wirken die Schöffen bei Entscheidungen außerhalb der Hauptverhandlung nicht mit. Der angefochtene Beschluss wurde außerhalb der Hauptverhandlung gefasst. Die Berufungskammer hat somit in der gesetzlichen Besetzung entschieden. Die von der Generalstaatsanwaltschaft Berlin zitierte Kommentierung bezieht sich auf Fälle, in denen der Vorsitzende einer großen Strafkammer allein entschieden bzw. in denen der Vorsitzende der kleinen Strafkammer in der Hauptverhandlung allein entschieden hat. Beides war vorliegend nicht der Fall.

Im Hinblick auf die in teilweise unangemessener Diktion vorgetragenen Ausführungen in der Beschwerdebegründung weist der Senat darauf hin, dass der angefochtene Beschluss auch in der Sache nicht zu beanstanden ist. Zutreffend hat die Berufungskammer darauf hingewiesen, dass Anhaltspunkte für die nach § 395 Abs. 3 StPO erforderliche besondere Schutzbedürftigkeit nur schwere Folgen der Tat darstellen können, etwa durch Aggressionsdelikte ausgelöste körperliche oder seelische Schäden sowie Traumata oder Schockzustände, die bereits eingetreten oder zu erwarten sind (vgl. BGH NJW 2012, 2601). Solche schweren Folgen der Tat sind vorliegend weder durch das Amtsgericht festgestellt, noch von der Beschwerdeführerin im Rahmen ihrer zeugenschaftlichen Vernehmung oder bei anderer Gelegenheit geschildert worden. In seiner Stellungnahme vom 10. März 2020 hat ihr Beistand ausdrücklich hervorgehoben, dass das Fahrzeug tatsächlich ca. 3.500,- bis 4.000,- Euro wert gewesen sei, somit „ein nicht unerheblicher Vermögensschaden im Sinne des § 395 Abs. 3 StPO“ vorliege, zudem stelle der drohende Verlust der Eigentumswohnung in Schöneberg einen „noch erheblicheren Vermögensschaden dar als der Verlust des Pkws“. Im Hinblick auf dieses Vorbringen war der Hinweis der Strafkammer, dass wirtschaftliche Interessen des Verletzten für die Nebenklagebefugnis nach § 395 Abs. 3 StPO nicht ausreichen, sachgerecht (vgl. BGH aaO; Valerius aaO, § 395 Rnr. 78; Walther aaO, § 395 Rnr. 15). Soweit die Beschwerdeführerin darauf verwiesen hat, den Angeklagten im Rahmen der familienrechtlichen Auseinandersetzung um die Ehewohnung unter anderem der wiederholten Vergewaltigung bezichtigt zu haben, führt dies zu keiner anderen Entscheidung. Diese Vorwürfe sind nicht Gegenstand des hiesigen Verfahrens.“

Der dringende Tatverdacht im Berufungsverfahren, oder: Haftgrund fehlende Zustellungsvollmacht?

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In die 38. KW starte ich mit zwei Entscheidungen zu Haftfragen.

Zunächst weise ich auf den KG, Beschl. v.01.03.2018 – 4 Ws 25/18 – hin. Behandelt wird die Frage der Aufhebung eines Haftbefehls durch das Berufungsgericht. Der Angeklagte wurde am 19.09.2017 festgenommen und befand sich nach Vollstreckung zweier Ersatzfreiheitsstrafen seit dem 17. November 2017 aufgrund eines amtsgerichtlichen Haftbefehls bis zu dessen Aufhebung durch das LG am 17.01.2018 in Untersuchungshaft. Am 28.11.2017 hatte das AG den Angeklagten nach dreitägiger Hauptverhandlung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Mit Beschluss vom gleichen Tag hatte das AG unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls  Haftfortdauer angeordnet. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt. In dem durch die Staatsanwaltschaft Berlin angefochtenen Beschluss vom 17.01.2018 hatte das LG zur Begründung der Aufhebung des Haftbefehls des AG lediglich ausgeführt, es liege zwar ein hinreichender, aber kein dringender Tatverdacht vor.

Dagegen die Beschwerde zum KG, die Erfolg hatte. Das KG sieht die Voraussetzungen für einen Haftbefehl gegen den Angeklagten nach § 112 Abs. 1 und Abs. 2 StPO als gegeben an:

„1. Der Angeklagte ist dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 StPO), sich des versuchten schweren Raubes sowie der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht zu haben. Das folgt bereits aus seiner erstinstanzlichen Verurteilung. Haftentscheidungen, die während einer Hauptverhandlung oder nach einer tatgerichtlichen Verurteilung erfolgen, unterliegen im Beschwerdeverfahren hinsichtlich des Vorliegens dringenden Tatverdachts lediglich eingeschränkter Überprüfung durch das Beschwerdegericht, da allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet bzw. stattgefunden hat, in der Lage ist, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand fortbesteht. Eine Beweisaufnahme über eine durch das erkennende Tatgericht bereits durchgeführte oder noch laufende Beweisaufnahme im Sinne eines „Schattenverfahrens“ findet im Haftbeschwerdeverfahren nicht statt (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 2 Ws 236/15 – [juris]). Ist ein Angeklagter nach abgeschlossener Beweisaufnahme verurteilt worden, ist der dringende Tatverdacht in der Regel durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. BGH NStZ 2006, 297; OLG Hamburg aaO). Damit ist es dem Berufungsrichter prinzipiell vor einer eigenen Beweisaufnahme verwehrt, den dringenden Tatverdacht allein aus dem Aktenstudium zu verneinen und den Haftbefehl aus diesem Grund aufzuheben, weil ein Schuldspruch aufgrund einer Hauptverhandlung regelmäßig eine höhere Richtigkeitsgewähr bietet als eine anhand der Akten angestellte Prognose (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 – [juris = OLGSt StPO § 112 Nr. 18] mwN). Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn das erstinstanzliche Urteil derartige offensichtliche Fehler aufweist, dass ein Berufen auf dieses Urteil gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK verstoßen würde, oder sich zwischen dem Zeitpunkt des Erlasses des erstinstanzlichen Urteils und der Haftentscheidung durch den Berufungsrichter erhebliche neue Umstände ergeben haben, die eine andere Beurteilung der Haftvoraussetzungen rechtfertigen (vgl. BGH NStZ 2004, 276). Beides liegt nicht vor. Das erstinstanzliche Urteil hat auch für das Beschwerdegericht nachvollziehbar die Gründe dargelegt, weshalb es von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt ist, und ihn aus diesen Gründen verurteilt. Neue Umstände, die eine andere Beurteilung der Haftfrage rechtfertigen würden, sind bis zum heutigen Zeitpunkt nicht zu Tage getreten. Sie werden auch durch die Nichtabhilfeentscheidung der Berufungskammer nicht belegt, die lediglich den Beweiswert der vom Amtsgericht herangezogenen Beweise abweichend vom erstinstanzlichen Urteil gewichtet.

2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeklagte ist in Deutschland wie auch in M. ohne feste Wohnanschrift, aus der Untersuchungshaft ist er am 17. Januar 2018 ohne Angabe einer Austrittsadresse entlassen worden. Er hat sich in Berlin vor seiner Inhaftierung im September 2017 in wechselnden Asylbewerberunterkünften aufgehalten, sein derzeitiger Aufenthaltsort ist hingegen nicht bekannt. Weder in Deutschland noch in M. verfügt er über feste soziale Bedingungen, er geht keiner Arbeit nach und erhält keine finanzielle Unterstützung. In Anbetracht der Verurteilung zu einer nicht unerheblichen Freiheitsstrafe steht zu erwarten, dass der Angeklagte, der die Tatvorwürfe bestreitet, nunmehr für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte unerreichbar sein wird, auch wenn der Verteidiger angegeben hat, Kontakt zu dem Angeklagten zu haben. Der (Pflicht)Verteidiger verfügt weder über eine schriftliche Ladungs- noch Zustellvollmacht (vgl. Senat StraFo 2015, 201 = StV 2015, 646).“

Na ja, das mit der „Ladungs- und Zustellungsvollmacht“ hätte ich mir verkniffen. Ist das Fehlen ein Haftgrund?

Aufhebung der Sperrfrist, oder: Checkliste vom AG Rheinberg

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Und zum Schluss des „Verkehrsrechtstag“ dann noch der AG Rheinberg, Beschl. v. 23.08.2018 – 4 Cs 418 Js 126/18 (271/18). Er behandelt die Aufhebung der Sperffrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach § 69a Abs. 7 StGB.Er fasst noch einmal sehr schön die Umstände zusammen – quasi wie eine kleine Checkliste -, auf die man als Verteidiger, wenn man einen Aufhebungsantrag gestellt hat oder stellen will, achten muss:

„Bei der Abwägung hat das Gericht vorliegend neben der nachgewiesenen Teilnahme an einem verkehrspsychologischen Kurses auch die Alkoholisierung zum Tatzeitpunkt, die Dauer der bisherigen Entziehung der Fahrerlaubnis, die Begehungswese der Tat, den Grad der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer und das sonstige Verhalten des Verurteilten im Straßenverkehr berücksichtigt. Die Abwägung führt hier zu einer hinreichend sicheren Tatsachengrundlage, den Verurteilten nicht mehr als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr anzusehen.

Der Angeklagte ist abgesehen von der Verurteilung durch den Strafbefehl des Gerichts zu keinem Zeitpunkt strafrechtlich oder verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten. Weder existieren Voreintragungen im Bundeszentralregister, noch im Fahreignungsregister noch bestehen nach aktueller Auskunft von Polizei und Staatsanwaltschaft laufende Verfahren gegen den Verurteilten.

Der Grad der Alkoholisierung lag mit 1,5 Promille zwar spürbar über der Schwelle der absoluten Fahruntüchtigkeit, jedoch gleichzeitig noch in einem Bereich, der nicht auf einen vollkommen ausartenden Umgang mit Alkohol generell schließen lässt (vgl. insoweit Richtwerte des LG Hildesheim lt. Beschluss vom 14.05.2003, NStZ-RR 2003, 312).

Aufgrund der Sicherstellung des Führerscheins zum Zeitpunkt der Tat (03.02.2018, BI. 2, 23 d.A.) entbehrt der Verurteilte zum Entscheidungszeitpunkt bereits für die Dauer von knapp sieben Monaten seine Fahrerlaubnis.

Die der Anordnung der Sperre zugrundeliegende Tat ist fahrlässig begangen worden. Eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ist in Form einer (leichten) Verletzung des Zeugen K. eingetreten, wobei jedoch nach Aktenlage ein nicht ganz unerhebliches Mitverschulden des Zeugen K. nicht ausgeschlossen werden kann.

Des Weiteren hat der Verurteilte nach Erlass des Strafbefehls und Anordnung der Sperrfrist an einem verkehrspsychologischen Kurs teilgenommen. Zwar führt die bloße Teilnahme an einem verkehrspsychologischen Kurs (hier „avanti 16″ der Nord-Kurs GmbH) nicht grundsätzlich dazu, dass der Teilnehmer als geeignet anzusehen ist (vgl. Fischer, StGB, 65. Aufl. 2018, § 69a Rn. 44 m.w.N.). Indes handelt es sich dennoch um einen im Rahmen der Gesamtabwägung berücksichtigungsfähigen Umstand.

Vorliegend hält das Gericht die Ausgestaltung und Qualität des Kurses für ausreichend, um in der Abwägung Berücksichtigung zu finden. Das Gericht hält es anders als die Staatsanwaltschaft nicht für zwingend erforderlich, dass das Seminar durch einen gem. § 36 Abs. 6 FeV anerkannten Fachleiter durchgeführt wird bzw. dieser Umstand vom Verurteilten dargelegt wird (so allerdings LG Hildesheim a.a.O.). Soweit die verwaltungsrechtlichen Vorschriften der §§ 2b Abs. 2 5.2, 4 Abs. 8 S. 4 StVG für vergleichbare Aufbauseminare entsprechende Vorgaben machen, betreffen diese Vorgaben nicht zugleich die Frage der Verkürzung der strafrechtlich angeordneten Sperrfrist. Vielmehr hat sich der Gesetzgeber — in Kenntnis der seit langem bekannten Problematik der Berücksichtigung von Aufbauseminaren bei der Dauer der Sperrfrist — bislang nicht dafür entschieden, vergleichbare Qualitätsanforderungen bei den entsprechenden Regelungen des StGB einzuführen. Insoweit will der Gesetzgeber offenbar die Einzelfallentscheidung durch das Gericht nicht durch formale Gesichtspunkte beschränken. Einer solchen Einzelfallprüfung hält die vom Verurteilten vorgelegte Teilnahmebescheinigung jedoch stand. Dieser ist zu entnehmen, dass das Seminar über die Dauer von 16 Einheiten durchgeführt wurde und eine hinreichend individualisierte Beratung durch geschultes Personal zum Gegenstand hatte.

Auch die Vorlage eines Gutachtens einer amtlich anerkannten medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle hält das Gericht anders als die Staatsanwaltschaft nicht für erforderlich, um die Ungeeignetheit zu widerlegen. Ein solches Gutachten dürfte lediglich in den Fällen erforderlich sein, in denen von der Regelfallbewertung gem. § 69 StGB abgewichen werden soll und trotz Vorliegen eines Regelfalles die Fahrerlaubnis erst gar nicht entzogen werden soll (vgl. Fischer, a.a.O., § 69 Rn. 36).

Seit Ableistung des Kurses sind zum Entscheidungszeitpunkt ca. 5 Wochen vergangen. Soweit manche Stimmen eine Zeit nach Abschluss des verkehrspsychologischen Kurses zur Reflexion des Erlernten und dessen Umsetzung im Alltag verlangen (vgl. LG Heilbronn, Beschl. v. 27.04.2018, BeckRS 2018, 9533), wäre durch den zwischenzeitlichen Zeitablauf auch diese Voraussetzung hinreichend erfüllt.“

Besten Dank an den Kollegen Möckel aus Oldenburg für die Übersendung der Entscheidung.

Sperrfristabkürzung nein, Aufhebung ja, aber nur im konkreten Einzelfall

Führerschein und Nachschulung

Und als „Nachmittagsposting“ dann zwei Entscheidungen zur vorzeitigen Aufhebung einer nach § 69a StGB festgesetzten Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis. Festgesetzt war nach einer Trunkenheitsfahrt eine Sperrfrist von zehn Monaten. Der ehemalige Angeklagte beantragt dann nach Teilnahme an einer Nachschulungsmaßnahme die „schnellmögliche Verkürzung“. Zugleich legte er ein Teilnahme-Zertifikat des TÜV-Süd vor, das seine erfolgreiche Teilnahme an einem Kurs „Mainz 77“ (Modell zur Sperrfristverkürzung) bescheinigt. Das AG „kürzt“ die Sperrfrist und hebt sie zu einem bestimmten Zeitpunkt auf. Dagegen die Beschwerde:

Zunächst zur Frage: Kann eine Sperrfrist nach § 69a StGB abgekürzt werden. Dazu sagt das LG Heilbronn im LG Heilbronn, Beschl. v. 27.04.2018 – 3 Qs 17/18: Nein:

Gemäß § 69a Abs. 7 StGB kann das Gericht nach dem Ablauf der Mindestsperrfrist von drei Monaten die Sperre vorzeitig aufheben, wenn sich Grund zu der Annahme ergibt, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht länger ungeeignet ist.

Bereits dem Wortlaut nach, ist eine Aufhebung zeitlich also erst dann möglich, wenn die Voraussetzungen der Norm, namentlich die mutmaßliche Beseitigung der bisherigen Ungeeignetheit nach der Überzeugung des Gerichts bereits eingetreten sind. Eine derartige Prognoseentscheidung kann schon begrifflich nicht auf einen in der Zukunft liegenden Termin projiziert werden.

Die Schwäche der Gegenansicht zeigt sich schon daran, dass auch der Beschluss des Gerichts nach § 69a Abs. 7 StGB der Rechtskraft zugänglich ist und mithin bei einem in der Zukunft liegenden Aufhebungszeitpunkt die Sperre selbst dann in Wegfall geriete, wenn zwischen der Entscheidung und dem Erreichen dieses Zeitpunkts nachteilige Umstände, im schlimmsten Fall weitere relevante Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten oder ein Rückfall in eine beseitigte Alkoholabhängigkeit bekannt würden.

Auch der Regelungszweck steht einem solchen Verständnis der Norm entgegen. Als eng auszulegende Ausnahmevorschrift gestattet § 69a Abs. 7 StGB aus Rücksicht auf das Übermaßverbot eine einzelfallbezogene Durchbrechung der Rechtskraft einer vorangegangenen gerichtlichen Entscheidung. Wo nämlich der Zweck einer Maßregel erreicht ist, wäre ihr weiterer Vollzug unverhältnismäßig. Dies aber bedeutet, dass die Maßregel im Falle der Zweckerreichung auch unmittelbar aufzuheben ist.

Eine bloße Verkürzung der Sperrfrist mir der Folge eines in der Zukunft liegenden Endzeitpunkts der Fahrerlaubnissperre lässt § 69a Abs. 7 StGB hingegen gerade nicht zu. Die diesbezügliche Antragspraxis der Vollstreckungsbehörden ist ersichtlich der Handhabung aus Zeiten geschuldet, in denen die Teilnahme an einschlägigen Nachschulungskursen, regelmäßig im Gnadenverfahren mit einer in der Regel dreimonatigen Verkürzung der Sperrfrist honoriert wurde (vgl. etwa § 6 Abs. 1 Nr. 8 GnO BW; allg. zu den Möglichkeiten des Gnadenverfahrens Fromm, NZV 2011, 329).

Zur Erreichung einer derartig schematischen Verkürzung ist § 69a Abs. 7 StGB aber auch deshalb nicht nutzbar zu machen, weil die Norm nicht das Ziel hat, einen wie auch immer gearteten Einsatz des Verurteilten auf dem Weg zur möglichen Beseitigung der Ungeeignetheit ungeachtet des Erfolgs der Bemühungen zu honorieren. Anders als etwa § 36 Abs. 1 BtMG, bei dem im Zurückstellungsverfahren nach § 35 BtMG eine Anrechnung der in anerkannten Einrichtungen absolvierten Therapie unabhängig von deren nachhaltigem Erfolg stattfindet, führt § 69a Abs. 7 StGB zu einer Begünstigung des Verurteilten nur dann, wenn, freilich auch unter Berücksichtigung der Bemühungen des Verurteilten, durch die Entwicklungen seit der Verurteilung der Grund für die Anordnung der Maßregel, sprich die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen tatsächlich entfallen ist.

Eine auf einen in die Zukunft gelegenen Zeitpunkt terminierte Aufhebung ist mithin unzulässig. Diese Auffassung entspricht zwischenzeitlich gefestigter Rechtsprechung und herrschender Ansicht in der Literatur (vgl. etwa LG Fulda, Beschluss vom 8. November 2017, – 2 Qs 125/17 -, Blutalkohol 2018, 162; OLG Celle, Beschluss vom 27. November 2008 – 2 Ws 362/08 –, juris; LG Berlin, Beschluss vom 13. Februar 2008 – 502 Qs 13/08 –, juris, jeweils mwN.; Schönke / Schröder / Stree / Kinzig, 29. Aufl. 2014, StGB § 69a Rn. 29; Fischer, StGB, 64. Auflage, § 69a Rn.41).

Der Antrag auf Aufhebung einer Sperre kann daher nur in Form der sofortigen Aufhebung der Sperre oder durch Ablehnung des Antrags, der dann ggf. zu späterer Zeit mit neuer Begründung erneut gestellt werden kann, beschieden werden.“

In der Sache kommt es dann aber zur Aufhebung der Sperre, u.a. weil der ehemalige Angeklagte an dem Kurs „Mainz 77“ teilgenommen hat und aufgrund „einer konkreten Einzelfallprüfung“ „mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden [konnte], dass der Verurteilte nicht länger ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist.“

Auf der Linie liegt dann auch der LG Görlitz, Beschl. v. 06.06.2018 – 13 Qs 48/18.