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Nacharbeiten erforderlich – Schadensschätzung in der Anklage – nicht immer erlaubt

Insbesondere in Steuerstrafverfahren und wenn es um das Vorenthalten von Arbeitsentgelten geht, ist die Ermittlung der „Schadenssumme“ häufig nicht einfach bzw. langwierig und/oder umständlich. Die Ermittlungsbehörden versuchen den erforderlichen Ermittlungsaufwand (Vernehmung von Zeugen) gern dadurch zu umgehen, dass sie die für eine Anklageerhebung erforderlichen Summen schätzen und die weitere Aufklärung bzw. genaue Ermittlung der Beträge der Hauptverhandlung überlassen.

Zu den damit zusammenhängenden Fragen hat vor einiger Zeit bereits der 1. Strafsenat des BGH in BGH, Beschl. v. 10.11.2009, 1 StR 283/09 Stellung genommen. Danach ist die Schätzung grds. erlaubt. Es müssen allerdings bestimmte Vorgaben erfüllt sein, und zwar dürfen keine anderweitig verlässlichen Beweismittel zur Verfügung stehen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand und ohne nennenswerten zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu beschaffen sein.

Diese Rechtsprechung hat das OLG Celle in OLG Celle, Beschl. v. 19.07.2011 – 1 Ws 271-274/11 angewendet und die dort vom LG beschlossene Nichteröffnung des Verfahrens im Ergebnis abgesegnet. Zur Begründung wird ausgeführt, dass an sich eine Schätzung zulässig gewesen wäre, aber:

Allerdings darf bei der Ermittlung der Schwarzlohnsumme „nicht vorschnell auf eine Schätzung ausgewichen werden, wenn eine tatsachenfundierte Berechnung anhand der bereits vorliegenden und der erhebbaren Beweismittel möglich erscheint“ (BGH NStZ 2010, 635). Die zuverlässige Klärung, ob eine für die Berechnung verlässliche Tatsachengrundlage beschafft werden kann, ist dabei auch und besonders Aufgabe der Ermittlungsbehörden. Deshalb wäre es verfehlt und würde die Hauptverhandlung mit unnötigem Aufklärungsaufwand belasten, wenn die Ermittlungsbehörden sich darauf beschränkten, die Lohnsumme zu schätzen, ohne zuvor ausermittelt zu haben, ob eine tatsachenfundierte Berechnung möglich ist.

So liegt es hier. Die vorliegenden Berechnungen sind zwar tatsachenfundiert, eine genauere Ermittlung erscheint nach derzeitigem Sachstand aber durch Vernehmung der bislang nicht vernommenen Arbeitnehmer möglich. Den damit verbundenen Aufwand sieht der Senat im Verhältnis zu dem zu erwartenden Nutzen nicht als unangemessen an. Die Zahl der zu vernehmenden Personen ist für ein Verfahren dieses Umfangs nicht ungewöhnlich hoch. Soweit die Staatsanwaltschaft die Glaubhaftigkeit der zu erwartenden Aussagen von vornherein anzweifelt, handelt es sich um eine Vermutung, die die Notwendigkeit weiterer Ermittlungen nicht entfallen lässt. Inwieweit jetzt überhaupt noch Strafverfahren gegen Arbeitnehmer wegen ihrerseits begangener Straftaten im Zusammenhang mit der Tätigkeit für die Angeschuldigten offen sind und daraus Auskunftsverweigerungsrechte resultieren, vermag der Senat derzeit nicht festzustellen. Auch dies müssen die weiteren Ermittlungen erweisen.

Ergebnis: Die Staatsanwaltschaft muss nachermitteln.

Anklageentscheidungen haben Konjunktur…

Im Moment scheinen vor allem die mit der Anklage zusammenhängenden Fragen die obergerichtliche Rechtsprechung zu beschäftigen, sei es, dass es um den Umfang der Verlesung der Anklage in der Hauptverhandlung geht (vgl. dazu z.B. hier der „Verlesungsbeschluss“ des BGH (vgl. auch noch hier), sei es, dass inhaltliche Frage eine Rolle spielen (vgl. z.B. hier das OLG Oldenburg). Der BGH hat sich in dem Kontext jetzt auch noch einmal mit der Frage befasst.

Der BGH, Beschl. v. 09.08.2011 – 1 StR 194/11 befasst sich mit dem „Umfang der Anklage“ in einem Verfahren, in dem es um die Frage ging, ob „nur“ Körperverletzungsvorsatz hinsichtlich einer Geschädigten oder auch Tötungsvorsatz hinsichtlich einer weiteren Person vorgelegen hat. Das Schwurgericht hatte letzteres unter Hinweis darauf, dass das Geschehen nicht Gegenstand der Anklage sei, abgelehnt. Anders sieht das der BGH:

a) Die Anklageschrift hat gemäß § 200 Abs. 1 StPO die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben Täters unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Die begangene konkrete Tat muss vielmehr durch bestimmte Tatumstände so genau gekennzeichnet werden, dass keine Unklarheit darüber möglich ist, welche Handlungen dem Angeklagten zur Last gelegt werden. Erfüllt die Anklage ihre Umgrenzungsfunktion nicht, so ist sie unwirksam (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. April 2006 – 2 StR 174/05 und vom 28. Oktober 2009 – 1 StR 205/09 mwN). Bei der Überprüfung, ob die Anklage die gebotene Umgrenzung leistet, dürfen die Ausführungen im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zur Ergänzung und Auslegung herangezogen werden (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 19. Februar 2008 – 1 StR 596/07 und KK-Schneider, 6. Aufl., § 200 Rn. 30 jew. mwN).

b) An diesen Maßstäben gemessen wird die Anklage der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 11. August 2010 ihrer Umgrenzungsfunktion auch in Bezug auf das Tatgeschehen betreffend R. hinreichend gerecht.

Zwar wird der Angeklagten im abstrakten Anklagesatz lediglich ein Fall des versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung (zum Nachteil des H. ) zur Last gelegt. Im konkreten Anklagesatz teilt die Staatsanwaltschaft jedoch nicht nur den Angriff auf den Geschädigten mit, sondern auch, dass die mit dem Messer bewaffnete Angeklagte am Tattag auf dem Weg zu dessen Lebensgefährtin gewesen sei. Dies wird im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen weiter dahingehend konkretisiert, dass die Angeklagte im Ermittlungsverfahren zugegeben habe, dass sie nicht auf H. , sondern auf R. habe „losgehen wollen“. Die Staatsanwaltschaft geht im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen zudem davon aus, dass die Angeklagte die Absicht gehabt habe, ihre ehemalige Freundin aus Hass zu töten. Gestützt wird diese Annahme auf eine umfassende Beweiswürdigung zur Tatvorgeschichte, insbesondere auf die Bemühungen der Angeklagten, sich eine Schusswaffe zu besorgen, um „die (gemeint ist R. ) abzuknallen“, sowie auf den Telefonanruf der Angeklagten bei ihrer ehemaligen Freundin mit den Worten „Du bist tot“.

Entgegen der Auffassung des Landgerichts ist damit in der Anklage nicht nur die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt, sondern auch erkennbar, welche Tat gemeint ist und über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll. Aus den Schilderungen zur Motivation der Angeklagten wird deutlich, dass zu dem von der Anklage umrissenen Tatgeschehen nicht nur der Angriff der Angeklagten auf den Geschädigten gehört, sondern auch das Fehlverhalten der Angeklagten in Bezug auf R. , da diese am Tattag das eigentliche Ziel der Angeklagten gewesen ist und es letztlich nur deshalb nicht zu einem gegen diese gerichteten An-griff gekommen ist, weil zufällig der Geschädigte der Angeklagten die Tür geöffnet und sich ihr anschließend in den Weg gestellt hat. Die einzelnen Handlungen gehen hier nicht nur äußerlich ineinander über, sondern sind auch innerlich unmittelbar miteinander verknüpft. Der Unrechts- und Schuldgehalt der einen Handlung kann nicht ohne die Umstände, die zu der anderen Handlung geführt haben, richtig gewürdigt werden. Ihre getrennte Würdigung und Aburteilung in verschiedenen Verfahren würde – worauf der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend hinweist – einen einheitlichen Lebensvorgang unnatürlich aufspalten (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 1999 – 4 StR 700/98, BGHSt 45, 211 mwN).“

Fünf oder sieben Taten – Anklage muss das schon genau bezeichnen

Im Moment häufen sich die Entscheidungen zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Anklage. In diese Reihe gehört auch OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.02.2011 – 1 Ss 13/11. Danach ist eine Anklage, bei der sich die Tatanzahl in abstraktem und konkretem Anklagesatz unterscheiden, nebst zugehörigem Eröffnungsbeschluss unwirksam.

In der Anklage, die Gegenstand des Verfahrens war, wurden dem Angeschuldigten im abstrakten Anklagesatz fünf Straftaten zu Last gelegt, während im konkreten Anklagesatz sieben Taten geschildert wurden. Das OLG sagt: Kann wegen dieser – anhand der Anklageschrift nicht aufklärbaren und später nicht korrigierten – Diskrepanz nicht sicher festgestellt werden, welche Taten Gegenstand des Verfahrens sein sollen, so darf der Angeklagte nicht wegen fünf Taten verurteilt werden; vielmehr sind die Anklage und der darauf fußende Eröffnungsbeschluss unwirksam.

Etwas mehr Sorgfalt bei der Anklageverfassung wäre sicherlich angebracht, zumal das OLG auch noch folgenden Hinweis geben musste:

Für den Fall einer neuen Anklageerhebung weist der der Senat vorsorglich darauf hin, dass von den erstinstanzlich festgestellten und abgeurteilten 5 Straftaten mindestens 3 nicht in dem bislang angeklagten Zeitraum verübt wurden.“

Fahren ohne Fahrerlaubnis: BMW oder Mercedes Vito kann entscheidend sein

Angeklagt war der Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 25 Fällen des Fahrens mit einem Pkw der Marke BMW. Verurteilt wird der Angeklagte wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in 25 Fällen, jedoch nur sechsmal wegen Fahrens mit dem BMW und 19 mal wegen Fahrens mit einem Mercedes Vito. Die Fälle des Fahrens mit dem Mercedes Vito hat der BGH im Beschl. v. 30.03.2011 – 4 StR 42/11 eingestellt und wegen der weiteren 19 Fälle BMW frei gesprochen. Begründet wird das wie folgt:

Der Tatbegriff des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO entspricht demjenigen des § 264 Abs. 1 StPO. Er umfasst daher alle individualisierenden Merkmale der vorgeworfenen Tat, die erforderlich sind, um diese zur Erfüllung der Umgrenzungsfunktion der Anklage von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen. Dabei lässt die Rechtsprechung zwar eine Herabsetzung der Anforderungen an die Individualisierung zu, wenn anders die Verfolgung und Aburteilung strafwürdiger Taten nicht möglich wäre. Dies ist jedoch als Ausnahme auf Fälle beschränkt worden, in denen typischerweise bei einer Serie gleichartiger Handlungen einzelne Taten etwa wegen Zeitablaufs oder wegen Besonderheiten in der Beweislage nicht mehr genau voneinander unterschieden werden können (vgl. BGH, Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 12. Januar 2011 – GSSt 1/10).

Auf dieser Grundlage waren vorliegend die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten durch die Angabe des Zeitraums, in dem er die Fahrten unternommen haben soll, und das dabei von ihm benutzte Fahrzeug (noch) ausreichend konkretisiert. Jedoch war – da weitere die Taten kennzeichnende Merkmale nicht angegeben wurden – die Bezeichnung des Fahrzeugs unerlässlich, um die Taten ausreichend zu individualisieren. Nur Fahrten mit dem Pkw BMW waren dem Angeklagten zur Last gelegt, zumal sonstige die Tatvorwürfe kennzeichnende Merkmale auch im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen nicht erwähnt sind. Die 19 Fahrten mit dem Pkw Mercedes, auf den das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen ebenfalls keine Hinweise enthält, waren dagegen von der Anklage nicht erfasst. Sie durften daher von der Strafkammer nicht abgeurteilt werden.“

Also: BMW oder Mercedes kann auch im Strafverfahren entscheidend sein. Mit einem rechtlichen Hinweis dürfte es anders ausgegangen sein.

Die Anklage (Verlesung) in der Rechtsprechung des BGH

Derzeit spielen die Fragen der Anklage und des Umfangs ihrer Verlesung in der Rechtsprechung des BGH eine große Rolle. Dazu hat ja gerade erst der Große Senat für Strafsachen in seinem Beschl. GSSt 1/10 Stellung genommen, der jetzt von zwei ganz interessanten Entscheidungen des BGH aufgegriffen worden ist.

Das ist einmal BGH, Beschl. v. 2. März 2011 – 2 StR 524/10 und BGH, Beschl. 15.03.2011 – 1 StR 429/09, deren Inhalt und deren Bedeutung für die Praxis man in der nächsten Zeit erst mal näher analysieren muss. Jedenfalls – und das war schon nach dem Beschluss des Großen Senats abzusehen: Stundenlanges Vorlesen von Tabellen wird es wohl nicht mehr geben. Man muss nur darauf achten, dass immer noch genug verlesen wird, um den Verfahrensgegenstand deutlich zu machen.