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Grundsatz des rechtlichen Gehörs – wann ist er bei einem Verwerfungsurteil verletzt?

Ich hatte ja gestern in anderem Zusammenhang, nämlich wegen der verfahrensrechtlichen Besonderheiten der „Kehrtwende des OLG“ über OLG Hamm, Beschl. v. 13.07.2011 – III 4 RBs 193/11 berichtet.

Dazu stellt sich aber auch eine materielle Frage. Nämlich: Wann liegt, wenn einem Entbindungsantrag nach § 73 Abs. 2 OWiG nicht entsprochen wird, eine Verletzung des rechtlichen Gehörs mit der Folge der Zulässigkeit/Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG vor? Nur bei Willkür oder in jedem Fall?

Das OLG Hamm sagt: Allein der Umstand, dass einem Entbindungsantrag objektiv hätte entsprochen werden müssen und somit ein Urteil nach § 74 Abs. 2 OWiG nicht hätte ergehen dürfen, begründet die Verletzung des rechtlichen Gehörs.

Anders wird das vom OLG Frankfurt gesehen, dass in seiner Rechtsprechung sagt: Eine zur Zulassung der Rechtsbeschwerde führende Gehörsverletzung in Folge der rechtsfehlerhaften Ablehnung eines Entbindungsantrages nach § 73 Abs. 2 OWiG und anschließender Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nach § 74 Abs. 2 OWiG liegt nur vor, wenn das AG seine prozessuale Fürsorgepflicht willkürlich verletzt hat und deshalb die Einlassung des Betroffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist (so z.B. im OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.07.2011 – 2 Ss-OWi 398/11).

Letzteres ist etwas ganz anderes und m.E. zu eng und – so wie ich es sehe – auch nicht h.M. Interessant ist dann die weitere Frage: Vorlagepflichtig? Der BGH wird sich freuen?

Hut ab vor dem OLG Hamm – Kehrtwende um 180 Grad

Wann liest man schon mal, dass eine Gegenvorstellung eines Verteidigers Erfolg hat bzw., wann räumt ein Gericht schon mal ein, dass etwas überlesen worden ist. So ganz häufig sind die Fälle ja nun nicht. Deshalb ist es um so schöner, wenn man über einen solchen Beschluss berichten kann. Und dann ist es auch noch das OLG Hamm :-), das in OLG Hamm, Beschl. v. 13.07.2011 – III – 4 R Bs 193/11 eine Kehrtwende gemacht hat.

Folgender Sachverhalt: Das OLG hatte zunächst die Rechtsbeschwerde des Verteidigers gegen ein amtsgerichtliches Urteil verworfen. Begründung: Die Rechtsbeschwerde „habe nicht ausreichend ausgeführt, dass der Verteidiger über die besondere Vollmacht verfügt habe, um einen Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG für den Betroffenen wirksam stellen zu können“. Der Verteidiger war erstaunt, denn er hatte vorgetragen, er „habe über eine „Vertretungs- und Verteidigungsvollmacht“ verfügt“. Und er fragte sich, was er denn noch vortragen müsse. Das hat er auch das OLG in seiner Gegenvorstellung gefragt. Und: Das OLG macht eine Kehrtwende und führt dazu aus:

„Bei erneuter Überprüfung der Sach- und Rechtslage muss der Senat jedoch einräumen, die Anforderungen an den Vortrag des Bestehens einer besonderen Vollmacht für die Stellung eines Antrages nach § 73 Abs. 2 OWiG in seiner Entscheidung vom 31. Mai 2011 überspannt zu haben. Mit der Darlegung, der Verteidiger habe über eine „Vertretungs- und Verteidigungsvollmacht“ verfügt, liegt, entgegen der damals geäußerten Rechtsansicht, ein ausreichender Vortrag zu diesem Punkt vor. Andere Zulässigkeitsbedenken hinsichtlich der erhobenen Verfahrensrüge bestehen nicht.“

Damit war die Rechtsbeschwerde zulässig und hatte dann auch in der Sache Erfolg. Sie führte zur Aufhebung wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs. Dazu aber in anderem Zusammenhang mehr.

Die Absicht, „schulmeisterlich zu belehren“…

reicht nicht aus, um einen Antrag des Betroffenen, ihn von der Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung zu entbinden (§ 73 Abs. 2 OWiG), abzulehnen. So das OLG Frankfurt in OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.07.2011 – 2 Ss-OWi 375/11. Dort hatte das AG einen Entbindungsantrag des Betroffenen abgelehnt mit der Begründung – so lässt es sich dem OLG Frankfurt-Beschluss entnehmen -, „dass es dem Betroffenen die Funktionsweise des Messgeräts erläutern und ihn über Sinn und Zweck von Ge­schwindigkeitsmessungen belehren wolle.“ Man ist ja schon erstaunt, wozu die StPO/das OWiG offenbar verpflichtet…

Dazu das OLG Frankfurt in seinem Beschluss:

Eine zur Zulassung der Rechtsbeschwerde führende Gehörsverletzung muss deshalb nicht immer vorliegen, wenn in Folge der rechtsfehlerhaften Ablehnung eines Entbindungsantrages nach § 73 Abs. 2 OWiG und anschließender Verwerfung des Ein­spruchs gegen den Bußgeldbescheid nach § 74. Abs. 2 OWiG die Einlassung des Be­troffenen zur Sache unberücksichtigt geblieben ist. Anders läge es, wenn das Amts­gericht unter gleichsam willkürlicher Verletzung seiner prozessualen Fürsorgepflicht und/oder des Grundsatzes eines fairen Verfahrens das unabdingbare Mindestmaß verfassungsrechtlich verbürgten rechtlichen Gehörs verletzt hätte (vgl. BVerfG NJW 1992, 2811). Dies wird bei Maßnahmen angenommen, die auf unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maßstäben völlig entfernenden Erwägungen beruhen und unter kei­nem Gesichtspunkt vertretbar erscheinen.

Das ist hier der Fall. Vorliegend hat das Amtsgericht die Entscheidung über die Ab­lehnung des Entbindungsantrages damit begründet, dass es dem Betroffenen die Funktionsweise des Messgeräts erläutern und ihn über Sinn und Zweck von Ge­schwindigkeitsmessungen belehren wolle. Hieraus ergibt sich gleichzeitig, dass das Amtsgericht die Anwesenheit des Betroffenen — auch nicht ansatzweise – zur Auf­klärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts für erforderlich erachtete. Die Erzwingung der Anwesenheit des Betroffenen allein mit dem Ziel, diesen in der Haupt­verhandlung schulmeisterhaft zu belehren, stellt sich aber nach Auffassung des Se­nats als Maßnahme dar, die auf einer unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maß­stäben des § 73 Abs. 2 OWG völlig entfernenden Erwägung beruht und unter keinem Gesichtspunkt vertretbar erscheint.“

Zutreffend. M.E. nicht zutreffend ist i.Ü. der grundsätzliche Ansatz des OLG, dass in den Fällen der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Ablehnung eines berechtigten Entbindungsantrags die Versagung rechtlichen Gehörs und die damit begründete Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG offenbar nur bei willkürlichem Handeln des AG in Betracht kommen soll. Das scheint ständige Rechtsprechung des OLG zu sein. Ist m.E. aber nicht richtig und wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung der anderen OLG auch anders gesehen.

OWi-Verfahren: Rechtsprechungsänderung rauscht (manchmal) vorbei…

Über den Newsletter der Verkehrsrechtsanwälte bin ich vor einigen Tagen auf den Beschl. des KG v. 10.03.2011 –  3 Ws (B) 78/11 – 2 Ss 30/11 gestoßen (worden).

Was ist aber an der Entscheidung berichtenswert? Im Grunde an sich nicht viel, da die in der Entscheidung angesprochenen, mit der Entbindung des Betroffenen vom Erscheinen in der Hauptverhandlung nach § 73 OWiG zusammenhängenden Fragen zwar die OLG immer wieder beschäftigen (vgl. dazu auch unser Beitrag in VRR 2007, 250), aber allmählich sollten sie nach der Neuregelung des § 73 OWiG im Jahre 1998 alle gelöst sein. Wenn man dann aber liest, was das KG zur AG-Entscheidung in seinem Beschluss saget bzw. sagen muss, dann scheint das aberdoch wohl ein Irrtum zu sein.

In der ersten Zeit nach der Neuregelung des § 73 OWIG hat die Frage eine Rolle gespielt, ob dem Tatrichter hinsichtlich der Entbindung ein Ermessensspielrum eingeräumt ist oder nicht. Sehr schnell hatte sich die h.M. in der Rechtsprechung der OLG herausgebildet, dass das nicht der Fall ist, sondern der Betroffene von seiner Anwesenheitspflicht entbunden werden muss, wenn die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2 OWiG vorliegen (vgl. dazu zuletzt u.a. OLG Köln NZV 2009, 52 und die Nachw. bei Stephan in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 2. Aufl., 2009, Rn. 1693). Dieser Auffassung ist auch das KG gewesen (vgl. die Entscheidungen in VRS 113, 63 und VRS 111, 429). Insoweit bringt die Entscheidung vom 10.03.2011, die auf diese Rechtsprechung verweist, nichts Neues.

Aber berichtenswert ist sie trotzdem, und zwar deshalb, weil sie ein „schönes“ Beispiel dafür ist, wie offenbar eine Gesetzesänderung und eine danach eingeläutete Änderung der Rechtsprechung der Obergerichte an einem Amtsrichter vorbeigerauscht ist und er noch auf dem früheren Stand argumentiert. Dagegen dann anzukommen, ist für den Verteidiger schwer. Ihm bleibt in solchen Fällen nur, die Versagung des rechtlichen Gehörs geltend zu machen. Aber Vorsicht: Das ist eine „Quasi-Verfahrensrüge“, so dass die hohen Hürden des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gelten.