StGB II: Nebenklägerin im „dissoziativen Zustand“, oder: „Nein heißt Nein“ oder: „Nur Ja heißt ja“

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Die zweite Entscheidung kommt mit dem BGH, Beschl. v. 03.04.2024 – 6 StR 5/24 – ebenfalls vom BGH. Zu entscheiden hatte der über die Revision eines Angeklagten gegen ein landgerichtliches Urteil, mit dem der Angeklagte u.a. wegen Vergewaltigung verurteilt worden war.

Dem lag folgenden Sachverhalt zugrunde: „Nach den Feststellungen des LG trafen sich der Angeklagte und die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Nebenklägerin M. kurz nach ihrem Kennenlernen in deren Wohnung. Sie berichtete dem Angeklagten zwar von dissoziativen Zuständen, nicht feststellbar aber davon, dass diese insbesondere im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen auftreten würden. Obwohl sie selbst nicht primär sexuelle Absichten verfolgte, ließ sie sich auf sexuelle Handlungen ein, weil sie davon ausging, den Angeklagten ansonsten zu verlieren.

Während des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs fiel die Nebenklägerin in einen dissoziativen Zustand. In diesem war sie nicht in der Lage, einen Willen hinsichtlich des sexuellen Geschehens zu bilden. Der Angeklagte erkannte den Zustand der Nebenklägerin und unterbrach den Geschlechtsverkehr. Nachdem die Nebenklägerin wieder zu sich gekommen war und ihren Zustand erklärt hatte, versicherte der Angeklagte ihr, dass sie bei ihm sicher sei und er ihr nichts tun werde. Sie sprachen nicht darüber, ob der Geschlechtsverkehr fortgesetzt werden soll. Sodann verfiel die Nebenklägerin erneut in einen dissoziativen Zustand, was der Angeklagte bemerkte. Gleichwohl übte er den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss aus.

Das LG hat den Tatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 1 , Abs. 4 , Abs. 6 StGB als erfüllt angesehen, weil der Angeklagte während des zweiten dissoziativen Zustands den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin fortführte, obwohl ihm aufgrund des unmittelbar vorausgegangenen dissoziativen Zustands bewusst war, dass sie nicht in der Lage war, einen entgegenstehenden Willen zu bilden. Die Beweisaufnahme habe keine vorherige Einwilligung der Nebenklägerin „erbracht“, die über den Eintritt des dissoziativen Zustands fortgewirkt hätte.

Das sieht der BGH anders:

„b) Diese Ausführungen tragen die Verurteilung nach § 177 Abs. 2 Nr. 1 , Abs. 4 StGB nicht, weil nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist, dass der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin ausgenutzt hat.

aa) Der Täter nutzt den Zustand des Opfers im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus, wenn ihm die sexuelle Handlung gerade erst aufgrund der besonderen Situation des Opfers gelingt. Die Unfähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, muss demnach die Vornahme der fraglichen Handlung ermöglichen oder zumindest begünstigen. An diesem – bereits vor der zum 10. November 2016 in Kraft getretenen Reform des Sexualstrafrechts geltenden – Begriffsverständnis des Ausnutzens (vgl. zu § 179 a.F. BGH, Urteil vom 28. März 2018 – 2 StR 311/17 , Rn. 12, NStZ-RR 2018, 244; Beschlüsse vom 17. Juni 2008 – 3 StR 198/08 Rn. 4, NStZ 2009, 90; vom 28. Oktober 2008 – 3 StR 88/08 Rn. 5, NStZ 2009, 324; MüKo-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 179 Rn. 35 mwN) ist im Rahmen des § 177 Abs. 2 StGB n.F. festzuhalten (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 – 2 StR 301/18 , BGHSt 64, 55 Rn. 21 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung; ebenso: Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 30; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., StGB § 177 Rn. 71; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 177 StGB Rn. 47).

(1) Dem steht der Anlass zur Gesetzesreform nicht entgegen. Der Reformgesetzgeber wollte die Strafbarkeit in erster Linie auf solche Fälle erweitern, in denen der Täter sich ohne Einsatz von Nötigungsmitteln über einen erkennbaren entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt („Nein heißt Nein“-Lösung, vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 21). § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt jedoch die fehlende Möglichkeit des Opfers zur Willensbildung voraus. Auf einen – erkennbaren – entgegenstehenden Willen kann es in dieser Konstellation demnach nicht ankommen, so dass das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel keine Erweiterung des bislang über § 179 StGB gegebenen strafrechtlichen Schutzes indiziert.

(2) Zudem wird nach dem Willen des Gesetzgebers der von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB beschriebene Zustand nicht bereits dann ausgenutzt, wenn die geschützte Person im Vorfeld kein ausdrückliches Einverständnis mit sexuellen Handlungen während des ihre Fähigkeit zur Willensäußerung ausschließenden Zustands erklärt hat. Ein solches Erfordernis würde der in anderen europäischen Rechtsordnungen geltenden „Nur Ja heißt Ja“-Lösung entsprechen. Der deutsche Reformgesetzgeber hat diesen Ansatz ausweislich der Gesetzesbegründung indes nur dem § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB n.F. zugrunde gelegt (vgl. BTDrucks. aaO S. 25). Diese bewusste gesetzgeberische Entscheidung spricht dagegen, ihn auch auf § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu erstrecken.

bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin jedenfalls dann nicht tatbestandsmäßig ausgenutzt, wenn es vor dem zweiten dissoziativen Zustand der Nebenklägerin erneut zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen ihm und der Nebenklägerin kam, weil diese dann nicht erst durch ihren Zustand ermöglicht worden wären.

(1) Die hierzu vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind unklar. Sie verhalten sich nicht dazu, aufgrund welcher Umstände die Nebenklägerin erneut in einen dissoziativen Zustand verfiel. Zudem ist nicht beweiswürdigend belegt, dass es zuvor zu keinen weiteren einvernehmlichen sexuellen Handlungen kam. Insoweit hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, dass die Nebenklägerin zum einen bekundet hat, „es müsse nach ihrer Erfahrung wieder körperlich geworden sein, so dass sie deswegen wieder weggetreten sei“ (UA S. 39 aE) und zum anderen gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen angegeben hat, dass der Angeklagte „dann weitergemacht habe und sie (…) wieder in den dissoziativen Zustand zurückgefallen“ sei (UA S. 46).

(2) Soweit das Landgericht ohne nähere Begründung ausgeführt hat, dass die Beweisaufnahme eine vorherige Einwilligung nicht „erbracht“ habe, hat es – von einem zu engen Maßstab ausgehend – nur darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin nicht ausdrücklich in die weitere Durchführung des Geschlechtsverkehrs auch für den Fall eingewilligt hat, dass sie erneut in einen dissoziativen Zustand verfällt.

Demgegenüber lassen sich der angefochtenen Entscheidung keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme entnehmen, dass die etwaige erneute Annäherung gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin erfolgte. Ausweislich der Urteilsgründe wurde zwischen den beiden dissoziativen Zuständen der Nebenklägerin nicht thematisiert, ob der Geschlechtsverkehr fortgesetzt werden soll. Zwar hat sie bekundet, dass sie erwartet habe, dass der Angeklagte aufhöre und akzeptiere, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt sei (UA S. 44 f.). Dass sie dies erkennbar zum Ausdruck brachte, liegt jedoch bereits vor dem Hintergrund ihrer Bekundung nicht nahe, sie sei davon ausgegangen, den Angeklagten zu verlieren, wenn sie nicht mit ihm schlafen würde und habe gemerkt, dass sie ohne ein Treffen bei ihr uninteressant für ihn werde. Ihr sei klar gewesen, dass er auf Sex aus gewesen sei. Für sie sei es die Hauptsache gewesen, ihn nicht zu verlieren. Er habe sie nicht verlassen sollen (UA S. 39). In ihrer polizeilichen Vernehmung hat sie ausdrücklich angegeben, dass sie nicht gesagt habe, sie wolle „es“ nicht. Sie habe gewusst, dass sie ihn nur dann halten könne, wenn sie „das“ jetzt tun würde. Auch im Nachgang hat sie sich über das Verhalten des Angeklagten in der Tatsituation nicht erbost oder schockiert gezeigt. Dass Geschlechtsverkehr für sie einfach immer eine Überwindung gewesen sei, könne sie dem Angeklagten nicht anlasten (UA S. 44).

(3) Die Feststellungen erweisen sich darüber hinaus als lückenhaft, weil es näherer Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten hinsichtlich seines Ausnutzungsbewusstseins bedurft hätte (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2018 – 2 StR 311/17 , Rn. 13; Beschluss vom 8. Januar 2014 – 3 StR 416/13 Rn. 2, jeweils zu § 179 StGB aF).“

StGB I: Die (anonyme) „Kinderpornobande“ im Internet, oder: Bandenmitgliedschaft geht auch anonym.

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Ich mache heute dann einen StGB-Tag. In den starte ich mit einem schon etwas älteren BGH-Beschluss, der aber erst jetzt veröffentlicht worden ist, und zwar der BGH, Beschl. v. 14.11.2023 – 6 StR 449/23.

Es geht in der Entscheidung um den Begriff der Bande beim Verbreiten kinder- und jugendpornografischer Inhalte. Das LG hat den Angeklagten deswegen wegen eines Verstoßes gegen §§ 184b Abs. 2, 184c Abs. 2 StGB verurteilt. Nach den Feststellungen des LG hatte sich der Angeklagte dem Internetforum „B.“ unter Verwendung des Nutzernamens „S.“ angeschlossen. Dabei han­delte sich dabei um einen szenetypischen, internationalen Zusammenschluss pä­dophiler Personen, die hierüber einen längerfristigen und umfangreichen Aus­tausch kinder- und jugendpornographischer Bild- und Videodateien abwickelten. Das Internetforum war über das TOR-Netzwerk erreichbar. Eine Anmeldung war nach Registrierung möglich, wozu Nutzername und Passwort hinterlegt wurden.

Voraussetzung war ferner, dass der Nutzer die durch die Administratoren festge­legten „Forenregeln“ akzeptierte. Hierzu gehörte namentlich, dass ausschließlich Dateien mit männlichen Kindern ab dem ersten Lebensjahr und Jugendlichen hochgeladen werden. Der Austausch der Dateien erfolgte mittels in Threads „ge­posteter“ Links zu passwortgeschützten Dateiarchiven. Sämtliche Nutzer konnten auf die Dateiinhalte zugreifen. Zur Tatzeit ge­hörten dem Internetforum etwa 245.000 registrierte aktive Mitglieder an. Auch der Angeklagte beabsichtigte mit seinem Beitritt, sich den Regeln des Internetforums zu unterwerfen, hierüber langfristig kinder- und jugendporno­graphische Inhalte mit anderen registrierten Nutzern auszutauschen und mit die­sen hierüber zu kommunizieren. Insbesondere durch das wiederholte Bereitstel­len („Posten“) solcher Inhalte, aber auch durch das Verfassen von Beiträgen leistete er wissentlich einen wesentlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Inter­netforums. Hierdurch sollten die anderen registrierten Nutzer zum Posten von Links zu entsprechenden Inhalten motiviert werden, damit der Angeklagte immer wieder neues kinder- und jugendpornographisches Bild- und Videomaterial er­halten konnte. Der Angeklagte gehörte zu den „TOP 350“ des Netzwerks und damit zu einer Gruppe von Mitgliedern, die bereits mehr als 250 Posts verfasst hatten.

Die Revision des Angeklagten ist bis auf eine  Schulspruchberichtigung („Zugänglichmachen“ statt „Verbreiten“) erfolglos geblieben.

Der BGH hat seine Entscheidung, die zur Aufnahme in BGHSt bestimmt ist, recht umfangreich begründet. Daher stelle ich hier nur den Leitsatz ein, die Einzelheiten der Begründung bitte im Volltext nachlesen. Der Leitsatz lautet:

    1. Bandenmäßig im Sinne von § 184b Abs. 2 Var. 2 bzw. § 184c Abs. 2 Var. 2. StGB handelt, wer einem zum Zwecke des Austauschs kinder- und jugendpor­nographischer Inhalte (§ 184b Abs. 1, § 184c Abs. 1 StGB) betriebenen zu­gangsbeschränkten Internetforum beitritt und entsprechend den hierfür aufge­stellten Regeln zugleich (konkludent) erklärt, hierüber fortan einen wiederhol­ten Tauschhandel mit anderen registrierten Nutzern zu betreiben.
    2. Eine Bandenabrede ist auch zwischen Personen möglich, die sich sämtlich nicht näher kennen, sondern unter Pseudonymen und Decknamen im virtuel­len Raum des Internets miteinander handeln.

StPO III: Sicherungsbedürfnis beim Vermögensarrest, oder: Unaufgeklärte Beteiligung mehrere Personen

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Und als dritte Entscheidung dann hie rnoch etwas zum Vermögensarrest, und zwar der LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.04.2024 – 12 Qs 11/24.

Der Ermittlungsrichter des AG hat gegen den Beschuldigten einen Beschluss, mit dem er den Vermögensarrest zur Sicherung eines Anspruchs auf Wertersatz über 34.911,57 EUR anordnete, erlassen. Tatvorwurf war gewerbsmäßiger Bandenbetrug; die Einzelheiten sind für die Entscheidung nicht von Bedeutung.

Aufgrund dieses Arrestes führte die Staatsanwaltschaft Pfändungsmaßnahmen durch. Der Verteidiger des Beschuldigten hat Beschwerde eingelegt, die aber keinen Erfolg hatte:

„Die statthafte Beschwerde (§ 304 Abs. 1 StPO) ist auch im Übrigen zulässig. In der Sache ist sie allerdings unbegründet, weil der Arrest zu Recht angeordnet wurde und derzeit aus Verhältnismäßigkeitsgründen auch nicht aufzuheben ist.

1. Die Anordnung eines Arrestes setzt gem. § 111e Abs. 1 Satz 1 StPO lediglich den Anfangsverdacht einer rechtswidrigen Straftat i.S.d. § 152 Abs. 2 StPO voraus, mit der Folge, dass die Voraussetzungen der Einziehung (von Wertersatz) bejaht werden können (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25.10.2017 – 1 Ws 163/17, juris Rn. 10; OLG Hamburg, Beschluss vom 26.10.2018 – 2 Ws 183/18, juris Rn. 29 m.w.N.). Es müssen also konkrete Tatsachen vorliegen, die in Verbindung mit kriminalistischer Erfahrung den Schluss zulassen, dass später eine Einziehung erfolgen kann. Diese Voraussetzungen liegen vor.

a) Klarzustellen ist zunächst, dass es im Rahmen der Beschwerde gegen einen Vermögensarrest nicht darauf ankommt, ob im Zeitpunkt des Erlasses des Arrestbeschlusses ein Anfangsverdacht vorlag, sondern darauf, ob er im Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung vorliegt. Die Beschwerde ist eine Tatsacheninstanz (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 309 Rn. 3; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 309 Rn. 6) und nicht auf die retrospektive Überprüfung der seinerzeitigen Sachlage bei Erlass der angegriffenen Entscheidung beschränkt (anderes gilt lediglich bei Durchsuchungsbeschlüssen zur Sicherung des verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts in Art. 13 Abs. 2 GG, vgl. MüKo-StPO/Hauschild, 2. Aufl., § 105 Rn. 41c m.w.N.).

b) Dies vorweggeschickt besteht zunächst ein Anfangsverdacht hinsichtlich des Beschuldigten Ö.

2. Das für die Arrestanordnung notwendige Sicherungsbedürfnis besteht.

Im Ausgangspunkt ist beim Vorliegen dringender Gründe, die die Kammer als gegeben erachtet, die Anordnung des Vermögensarrestes nach § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO der gesetzliche Regelfall („soll“, vgl. BT-Drs. 18/9525, 77; OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 14; KK-StPO/Spillecke, 9. Aufl., § 111e Rn. 2). Diese gesetzliche Wertung begründet zwar keinen Automatismus, wonach allein schon der dringende Verdacht einer gegen fremdes Vermögen gerichteten Straftat die Bejahung des Sicherungsbedürfnisses rechtfertigt (Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 66. Aufl., § 111e Rn. 6 m.w.N.), senkt aber gegebenenfalls die Hürden für die Begründung des Sicherungsbedürfnisses und der Verdacht gibt ein starkes Indiz für dessen regelmäßiges Vorliegen (vgl. die Rspr.-Nachweise bei Rettke, wistra 2024, 38), wobei auch allgemein kriminalistische Erfahrungen zu berücksichtigen sind (vgl. LR-StPO/Johann, 27. Aufl., § 111e Rn. 18). Weiterhin teilt die Kammer die Einschätzung von Köhler (in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. § 111e Rn. 7), dass das Sicherungsbedürfnis ohne weiteres bei mehreren Tatbeteiligten angenommen werden kann, wenn der personelle Hintergrund der Straftaten (noch) nicht völlig aufgeklärt werden konnte und deshalb zu besorgen ist, dass der Einziehungsadressat sein noch vorhandenes Vermögen mithilfe der weiteren Mittäter dem Zugriff entziehen könnte. So liegen die Dinge hier. Der Sachverhalt ist noch nicht umfassend aufgeklärt, die Ermittlungen legen aber nahe, dass hier eine größere Anzahl von Beteiligten an dem Geschäftsmodell der UG beteiligt war, sodass auch die vorläufige Bejahung eines gewerbsmäßigen Bandenbetrugs (§ 263 Abs. 5 StGB) derzeit gut begründet ist. Damit sind aber auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten und damit das Risiko ihres kollusiven Verhaltens derzeit noch nicht sicher abzuschätzen, was prognostisch zulasten des Beschuldigten geht.

3. Der Arrest ist auch im Übrigen verhältnismäßig.

Bei der Anordnung eines Arrestes ist eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit gegen das Grundrecht des Betroffenen aus Art. 14 Abs. 1 GG abzuwägen ist; die „Soll“-Regelung des § 111e Abs. 1 Satz 2 StPO lässt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unberührt (BT-Drs. 18/9525, S. 77). Dabei wachsen mit der den Eigentumseingriff intensivierenden Fortdauer der Maßnahme die Anforderungen an die Rechtfertigung der Anspruchssicherung (OLG Nürnberg, Beschluss vom 20.12.2018 – 2 Ws 627/18, juris Rn. 107 m.w.N.). Derzeit fällt die Abwägung zugunsten des staatlichen Sicherungsbedürfnisses aus.

Bedenken gegen die Dauer des Arrestes bestehen hier nicht, nachdem er erst seit wenigen Wochen vollstreckt wird. Inwieweit der Arrest die Lebensführung des Beschuldigten beschränkt, vermag die Kammer nach gegebenem Aktenstand nicht zu sagen; die Bemerkung in der Beschwerde, der Beschuldigte sei „in seinem täglichen Leben erheblich eingeschränkt“ ist reichlich unbestimmt. Aber selbst wenn der Arrest in wirtschaftlicher Hinsicht zur Folge haben sollte, dass dadurch nahezu das gesamte Vermögen des Beschuldigten dessen Verfügungsbefugnis entzogen wurde (dazu vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.2015 – 2 BvR 1986/14, juris), hinderte das die Anordnung des Arrestes nicht. Denn sind die Voraussetzungen der Einziehung von Taterträgen nach § 73 Abs. 1 StGB oder einer hieran anknüpfenden Wertersatzeinziehung gemäß § 73c StGB erfüllt, sieht die gesetzliche Regelung die Anordnung der entsprechenden Vermögensabschöpfung zwingend vor, sofern, wofür es keine tatsächlichen Anhaltspunkte gibt, kein Ausschlusstatbestand des § 73e StGB gegeben ist. Eine Abhilfe zugunsten des Beschuldigten ist mit der Regelung des § 459g Abs. 5 StPO eröffnet, die eine entsprechende Verhältnismäßigkeitsprüfung im Vollstreckungsverfahren vorsieht (BGH, Urteil vom 27.09.2018 – 4 StR 78/18, juris Rn. 11). Dazu kann bei der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth vorgetragen werden.“

StPO II: Schöffin will das Kopftuch nicht ablegen, oder: Gröbliche Amtspflichtverletzung oder Amtsenthebung?

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Und als zweite Entscheidung dann etwas aus dem „Schöffenrecht“, also eher GVG, aber natürlich mit Auswirkungen auf die StPO. Es geht nämlich um die Frage: Was passiert, wenn sich eine Schöffin aus religiösen Gründen weigert, während der Hauptverhandlung, ihr Kopftuch abzulegen? Ist das eine gröbliche Amtspflichtverletzung oder eine Unfähigkeit, das Schöffenamit auszuüben.

Das OLG Hamm geht im OLG Hamm, Beschl. v. 11.04.2024 – 5 Ws 64/24 – von Letzterem aus. In dem entschiedenen Fall hatte der Vorsitzende des Jugendschöffenausschusses eines AG  beantragt, die für die Wahlperiode 2024 bis 2028 gewählte Hauptjugendschöffin T. gem. § 51 Abs. 1 GVG ihres Amtes zu entheben. Die Schöffin habe erklärt, aus Bekenntnisgründen ein Kopftuch zu tragen und hierauf auch in der gerichtlichen Verhandlung nicht verzichten zu können. Dies verstoße gegen § 2 Abs. 1 Justizneutralitätsgesetz NRW (im Folgenden: JNeutG NRW) und stelle eine gröbliche Amtspflichtverletzung dar. Die Schöffin hat im Rahmen ihrer Anhörung erklärt, dass sie mit dem Kopftuch keine religiöse oder weltanschauliche Auffassung zum Ausdruck bringen wolle, sondern das Tragen des Kopftuchs als religiöse Pflicht verstehe. Auch ohne Kopftuch sei sie sehr schnell als Muslimin wahrzunehmen. Durch eine kopftuchtragende Schöffin werde die Vielfalt der Gesellschaft abgebildet und die gesellschaftliche Akzeptanz von Gerichtsurteilen erhöht.

Dazu das OLG:

„Der Antrag auf Amtsenthebung der Schöffin war abzulehnen, da ihre Weigerung, das Kopftuch während der Gerichtsverhandlung abzunehmen, keine gröbliche Amtspflichtverletzung im Sinne von § 51 Abs. 1 GVG darstellt.

1. Im Ansatz zutreffend ist der Vorsitzende des Jugendschöffenausschusses davon ausgegangen, dass die Weigerung der Schöffin, während der Gerichtsverhandlung auf das Tragen des Kopftuches zu verzichten, gegen § 2 Abs. 1 JNeutG NRW verstößt, wonach ehrenamtliche Richter in der gerichtlichen Verhandlung keine wahrnehmbaren Symbole oder Kleidungsstücke tragen dürfen, die bei objektiver Betrachtung eine bestimmte religiöse Auffassung zum Ausdruck bringen.

2. Ferner bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit von § 2 Abs. 1 JNeutG NRW. Der Senat nimmt insofern Bezug auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Arnsberg (Beschluss vom 9. Mai 2022 – 2 L 102/22 -, Rn. 27 – 32, juris; ebenso: Beaucamp/Thrun, ZJS 2020, 373 ff.) und teilt insbesondere dessen Auffassung, dass das Verbot des Tragens religiöser Symbole während der Gerichtsverhandlung sich im Hinblick auf den hohen Rang des staatlichen Neutralitätsgebots und die geringe Eingriffsintensität als verhältnismäßig darstellt.

3. Nach Auffassung des Senats stellt die Weigerung der Schöffin, das Kopftuch während der Gerichtsverhandlung abzunehmen, indes keine gröbliche Amtspflichtverletzung im Sinne von § 51 Abs. 1 GVG, sondern eine (sonstige) Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamtes im Sinne von § 52 Nr. 1 GVG dar.

a) Amtsenthebungsverfahren nach § 51 Abs. 1 GVG und Streichung von der Schöffenliste nach § 52 Abs. 1 GVG stehen in einem Ausschließlichkeitsverhältnis zueinander, so dass die Entscheidung, ob ein Amtsenthebungsverfahren einzuleiten oder eine Streichung von der Schöffenliste vorzunehmen ist, nur entweder in die eine oder in die andere Richtung getroffen werden kann (OLG Celle, Beschluss vom 23. September 2014 – 2 ARs 13/14 -, Rn. 3, juris)

b) Ob die Nichtausübbarkeit des Schöffenamtes wegen des Tragens religiöser Kleidung unter § 51 GVG oder § 52 GVG zu fassen ist, wird uneinheitlich beantwortet und ist seit Einführung von § 2 JNeutG NRW – soweit ersichtlich – bislang nicht entschieden.

aa) Teilweise wird eine Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamtes verneint (AG Fürth (Bayern), Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 441 AR 31/18 -, juris; KG Berlin, Urteil vom 9. Oktober 2012 – (3) 121 Ss 166/12 (120/12) -, juris). Begründet wird dies damit, dass § 52 GVG Bezug auf die §§ 32 bis 34 GVG nehme, in welchem das Tragen eines Kopftuchs nicht genannt werde. Wegen des hohen Grades an demokratischer Legitimation sei eine enge Auslegung von § 52 GVG geboten. Zudem bestehe für die Schöffin jeweils die Möglichkeit, gem. § 54 Abs. 1 S. 1 GVG ihre Entbindung von Dienstleistungen an bestimmten Sitzungstagen zu beantragen, solange sie sich aus religiösen Gründen nicht in der Lage sehe, in der Öffentlichkeit ihr Kopftuch abzulegen (AG Fürth (Bayern), Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 441 AR 31/18 -, juris).

bb) Die Gegenauffassung geht hingegen davon aus, dass eine Streichung nach § 52 Abs. 1 GVG von der Schöffenliste geboten sei (Goers, in: Beck´scherOK, Stand: 15.02.2024, § 51 GVG Rn. 17a; Schmidt/Schiemann in: Gercke/Temming/Zöller, 7. Auflage 2023, § 51 GVG, Rn. 3; AG Hamburg-St. Georg, Beschluss vom 28. Dezember 2018 – ID 847 -, juris; in diese Richtung wohl auch: Gittermann in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Auflage, § 31 GVG, Rn. 19c), da die Erklärung, während der Hauptverhandlung ein Kopftuch tragen zu wollen, keine gröbliche Amtspflichtverletzung darstelle.

c) Der Senat folgt der letztgenannten Auffassung.

aa) Die gröbliche Verletzung der Amtspflichten im Sinne von § 51 GVG wird nach dessen Sinn und Zweck allgemein als Verhalten definiert, welches den Schöffen aus objektiver Sicht eines verständigen Verfahrensbeteiligten ungeeignet für die Schöffenamtsausübung macht, weil er nicht mehr die Gewähr bietet, unparteiisch und nur nach Recht und Gesetz zu entscheiden. (Goers, in: Beck´scherOK, a.a.O., § 51 GVG Rn. 9). Vorliegend geht es indes nicht um ein Fehlverhalten der Schöffin – diese praktiziert vielmehr lediglich ihre durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Religionsausübungsfreiheit – sondern um eine Kollision der grundrechtlich geschützten Religionsausübung mit den staatlichen Neutralitätsvorgaben bei Ausübung des Schöffenamtes.

bb) Ferner ist ersichtlich gesetzgeberisch nicht intendiert, dass Personen als Schöffen berufen werden, die nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft an der Ausübung des Schöffenamtes gehindert sind. Dies wäre indes die Folge, wenn man das religiöse Kopftuchtragen nicht als fehlende Eignung zur Ausübung des Schöffenamtes, sondern als gröbliche Amtspflichtverletzung verstehen würde. Bei dem letztgenannten Verständnis wäre eine Schöffin auch in Kenntnis des vorgenannten Umstandes zunächst zu berufen.

Soweit das Amtsgericht Fürth in diesem Zusammenhang die Auffassung vertritt, dass Schöffinnen nach ihrer Berufung jeweils ihre Entbindung gem. § 54 Abs. 1 GVG von der Dienstleistung an bestimmten Sitzungstagen beantragen müssten, wenn sie sich aus religiösen Gründen zum Ablegen des Kopftuches in der Öffentlichkeit nicht in der Lage sehen würden, und die unterlassene Stellung des Entbindungsantrags eine gröbliche Amtspflichtverletzung darstellen kann (AG Fürth (Bayern), Beschluss vom 7. Dezember 2018 – 441 AR 31/18 -, juris Rn. 14, 16), vermag dies nicht zu überzeugen. Denn die ständige Beantragung der Entbindung nach § 54 GVG stellt nicht nur einen mit erheblichem bürokratischen Aufwand verbundenen Formalismus dar, sondern führt bei einer gefestigten religiösen Überzeugung der Schöffin – wie hier – auch zum gleichen Ergebnis wie deren Streichung von der Schöffenliste.

Anerkannt ist zudem, dass über den Wortlaut von § 52 GVG hinaus auch sonstige Gründe die Unfähigkeit zur Ausübung des Schöffenamtes begründen können (Schmitt, in: Meyer-Goßner, 66. Aufl. 2023, § 52 GVG Rn. 1; Barthe, in: Karlsruher Kommentar, 9. Aufl. 2023, § 52 GVG Rn. 4; Duttge/Kangarani, in: HK-GS, 5. Aufl. 2022, § 52 Rn. 2 GVG).

d) Der Senat ist aus den vorgenannten Gründen gehindert, die Schöffin nach § 51 Abs. 1 GVG ihres Amtes zu entheben. Der Senat vermag zudem die Schöffin nicht aus der Schöffenliste zu streichen. Denn zuständig für die Streichung aus der Schöffenliste nach § 52 GVG ist nicht der Senat, sondern der geschäftsplanmäßig für die Schöffenangelegenheiten im Sinn der §§ 31 ff. GVG i.V.m. § 34 Abs. 1 JGG bestimmte Jugendrichter (Schuster, in: MünchKomm, 1. Aufl. 2018, § 52 GVG Rn. 11), vorliegend somit der Vorsitzende des Jugendschöffenausschusses. Dessen Entscheidung ist gem. § 52 Abs. 4 GVG unanfechtbar.

StPO I: Ordnungsmittel in der Hauptverhandlung, oder: Begründung, Anhörung, Protokollierung

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Und heute dann StPO-Entscheidungen, und zwar OLG und LG.

Ich starte mit zwei OLG-Entscheidungen zu Ordnungsmitteln in der Hauptverhandlung und zu den damit zusammen hängenden Verfahrensfragen, einer kommt aus dem Norden, einer aus dem Süden. Ich stelle hier nur die jeweiligen Leitsätze vor, und zwar:

1. Die gemäß § 182 GVG in das Sitzungsprotokoll aufzunehmende Entscheidung nach § 178 GVG bedarf grundsätzlich gemäß § 34 StPO einer Begründung. Das Fehlen einer Begründung ist unschädlich, wenn auf Grund der gemäß § 182 GVG erforderlichen Protokollierung des den Beschluss veranlassenden Geschehens für den Betroffenen der Anordnungsgrund außer Zweifel steht und auf dieser Grundlage für das Beschwerdegericht die Festsetzung des Ordnungsgeldes in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht dem Grunde und der Höhe nach überprüfbar ist.

2. Vor Festsetzung eines Ordnungsmittels ist einem Betroffenen mit Blick auf Art. 103 Abs. 1 GG, § 33 Abs. 1 StPO grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren. Davon kann allerdings abgesehen werden, wenn dem Gericht mit Rücksicht auf Intensität oder Art der Ungebühr eine solche Anhörung nicht zugemutet werden kann, etwa wenn Ungebühr und Ungebührwille völlig außer Frage stehen und eine Anhörung nur Gelegenheit zu weiteren Ausfälligkeiten gäbe.

    1. Soll Ordnungshaft wegen Ungebühr angeordnet werden, muss der Sachverhalt im Protokoll gemäß § 182 GVG so deutlich dargestellt werden, dass das Beschwerdegericht nachprüfen kann, ob eine Ungebühr vorlag. Die Niederschrift muss ein so deutliches Bild von dem Vorgang geben, dass der Grund und die Höhe der Sanktion in der Regel ohne weiteres nachzuprüfen sind.

    2. Grundsätzlich ist dem, gegen den ein Ordnungsmittel festgesetzt werden soll, vorher rechtliches Gehör zu gewähren, Art. 103 Abs. 1 GG.

    3. Die Verhängung von Ordnungsmitteln steht unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.