Unfallmanipulation mit sicherungsübereignetem Kfz, oder: Nachweis der Unfallmanipulation

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Und dann im zweiten Posting das LG Münster, Urt. v. 06.05.2024 – 11 O 1424/21. Es geht auch um Ersatz nach einem Verkehrsunfall. Hier haben wir es aber mit einer sog. Unfallmanipulation zu tun.

Die Klägerin mach einen Schadensersatzanspruch geltend. Sein geparkter PKW soll aufgrund eines unachtsamen Abbiegens durch den Beklagten zu 1) beschädigt worden sein soll. Der Beklagte zu 1) hatte ein solches Unfallgeschehen im Prozess bestätigt, während die weitere Beklagte als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherer bei dem langgezogenen Streifschaden am PKW des Klägers von einem abgesprochenen Unfallereignis ausgegangen ist. Bei der Überprüfung durch einen Gerichtssachverständigen stellte sich heraus, dass aus technischer Sicht erhebliche Bedenken zum Unfallhergang bestanden. Im Laufe des Prozesses hatte sich zudem noch herausgestellt, dass der Kfz auf der Klägerseite im Rahmen einer Finanzierung sicherungsübereignet worden war.

Das LG hat die Klage abgewiesen. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung, die umfangreiche Begründung des LG bitte ggf. selbst im verlinkten Volltext nachlesen:

    1. Es ist von einem abgesprochenen, absichtlich durch den Schädiger herbeigeführte Schadensereignis auszugehen, wenn bei einem Abbiegemanöver aus einer Grundstücksausfahrt im Rahmen einer Streifkollision bei geringer Geschwindigkeit und einem nicht plausiblen Unfallhergang ein lukrativ abzurechnender Seitenschaden beim Fahrzeug des Anspruchstellers hervorgerufen wird,
    2. Handelt es sich dabei um ein sicherungsübereignetes Fahrzeug im Rahmen einer Finanzierung, kann keine wirksame Einwilligung der Klägerin in eine Eigentumsverletzung des von ihr unterhaltenen Fahrzeuges bejaht werden.
    3. In einem solchen Fall verstößt aber die Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs aus dem weiterhin fremden Recht der ehemaligen Sicherungseigentümerin gegen Treu und Glauben, da die Klägerin wegen einer Unfallmanipulation verpflichtet wäre, den ihr letztendlich zufließenden Betrag nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB bzw. § 826 BGB an die Beklagte zu 2) als Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung zurückzuerstatten.
    4. Der Manipulationseinwand der KFZ-Haftpflichtversicherung scheitert auch nicht an den Angaben einen „Unfallbeteiligten“, der ein reales Unfallereignis behauptet hat, da ein etwaiges Geständnis dieses „Unfallbeteiligten“ in der Konstellation, bei welcher die KfZ-Versicherung als Versicherer den Manipulationseinwand erhebt und als Nebenintervenient für den mitverklagten Fahrer auftritt, unbeachtlich ist.
    5. Zum Beweis einer Unfallmanipulation ist eine mathematisch lückenlose Gewissheit nicht erforderlich. Vielmehr ist der Beweis regelmäßig durch den Nachweis einer ungewöhnlichen Häufung typischer Umstände geführt, wenn diese in der Gesamtschau vernünftigerweise nur den Schluss zulassen, der geschädigte Anspruchsteller habe den Unfall fingiert.

Wann beginnt die Wartepflicht des Linkabbiegers?, oder: Erkennen des Rechtsabbiegevorgangs

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Heute dann „Kessel-Buntes-Tag“. Und in dem Kessel köcheln heute zwei Entscheidungen aus dem Zivilrecht.

Zunächst kommt hier etwas zur Unfallverursachung, nämlich der OLG Nürnberg, Beschl. v. 03.06.2024 – 3 U 746/24 – zur sog. Wartepflicht des Linksabbiegers. Gestritten wird um die Ersatzpflicht aus folgendem Unfall-/Verkehrsgeschehen:

Zwischen dem PKW VW Tiguan des Klägers, welcher zu dem Unfallzeitpunkt von seiner Ehefrau (Zeugin) gesteuert wurde, und dem im Eigentum des Beklagten zu 1) stehenden PKW Toyota kam es am 08.02.2023 gegen 14:00 Uhr in pp. auf der, unmittelbar hinter der Einmündung der pp. und der pp. Straße, zu einer Kollision. Die Zeugin bog, von der pp. her kommend, nach links in die – stadteinwärts gerichtet – ein, die Beklagte zu 1) aus der entgegenkommenden Straße nach rechts in dieselbe Richtung. Der von der Beklagten zu 1) gesteuerte PKW beschädigte dabei den PKW des Klägers im Bereich der vor der Vordertüre, der Hintertüre und des Heckkotflügels rechts.

Der Kläger begehrt vollständigen Ersatz des durch die Beschädigung seines PKW verursachten Schadens, den er auf rund 8.600 EUR beziffert hat. Das LG hat der Klage nur im Umfang von rund 4.300 EUR entsprochen und sie im Übrigen als unbegründet abgewiesen. Das LG ist von einer Schadensteilung ausgegangen. Dagegen die Berufung des Klägers, der weiterhin vollen Schadensersatz begehrt.

Das OLG hat in dem Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO dargelegt, dass nach seiner Überzeugung die Berufung unbegründet ist:

„2. Das Landgericht hat aber zu Recht diesem Umstand nicht die Bedeutung beigemessen, die die Berufung für geboten hält.

a) Nach § 9 Abs. 4 S. 1 StVO hat derjenige, der nach links abbiegen will, entgegenkommende Fahrzeuge, die ihrerseits nach rechts abbiegen wollen, durchfahren zu lassen. Entsprechendes ordnet § 9 Abs. 3 StVO im Hinblick auf entgegenkommende Fahrzeuge an. Den Linksabbieger trifft mithin grundsätzlich eine Wartepflicht gegenüber dem entgegenkommenden Verkehr. Die in § 9 Abs. 3 u. 4 StVO geregelten Fälle stellen zwar keine Fälle der Vorfahrt im eigentlichen Sinn dar, da sie die Begegnung mit einem auf derselben Straße Entgegenkommenden betreffen, sind mit diesen aber nahe verwandt und unterliegen im Allgemeinen den gleichen Rechtsgrundsätzen (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 26; für den Charakter als echte Vorfahrtsregeln MüKoStVR/Bender, 1. Aufl. 2016, StVO § 9 Rn. 28).

Die sich aus dem vorfahrtsähnlichen Recht des Rechtsabbiegers ergebende Wartepflicht des Linksabbiegers entfällt noch nicht dadurch, dass sich der Linksabbieger in den Bereich der Vorfahrtstraße, in die er einbiegen will, begeben hat, weil er allein dadurch noch nicht zum Benutzer der Vorfahrtstraße und damit gegenüber dem Gegenverkehr bevorrechtigt wird (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 27; BeckOK StVR/Grabow, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 9 Rn. 49). Zu einem solchen wird er erst, wenn der Linksabbiegevorgang vollständig abgeschlossen ist, was angenommen werden kann, soweit keine Schrägstellung mehr vorliegt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 18. Dezember 1996, 14 U 203/95, DAR 1997, 26).

Zu beachten ist weiter, dass die Wartepflicht gegenüber dem Entgegenkommenden besteht, wenn dieser so nahe gekommen ist, dass er durch das Abbiegen gefährdet oder auch nur in der zügigen Weiterfahrt wesentlich behindert würde; ihn trifft die Wartepflicht, wenn für ihn bei Beginn des Abbiegevorgangs der Gegenverkehr bereits sichtbar war (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 28). Eine Pflicht, am Straßenrand der Gegenrichtung stehende Kraftfahrzeuge daraufhin zu beobachten, ob sie alsbald anfahren, trifft den Linksabbieger nicht (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 28). Der Wartepflichtige muss allerdings in gewissem Umfang damit rechnen, dass sich der Entgegenkommende selbst verkehrswidrig verhält, so etwa, dass dieser bei entsprechenden Straßenverhältnissen die zulässige Geschwindigkeit mäßig überschreitet (Burmann, in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, 28. Aufl. 2024, StVO § 9 Rn. 26a; BeckOK StVR/ Grabow, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 9 Rn. 41; MüKoStVR/Bender, 1. Aufl. 2016, StVO § 9 Rn. 30).

b) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht zutreffend nicht als maßgeblich angesehen, dass im Moment der Kollision der PKW des Klägers bereits vollständig parallel zur ausgerichtet war und damit den Linksabbiegevorgang bereits beendet hatte. Die Zeugin hatte zu diesem Zeitpunkt bereits gegen die Wartepflicht verstoßen, was zu dem Unfall führte.

Aus den oben dargestellten Grundsätzen ergibt sich, dass die Wartepflicht einsetzt, sobald der Linksabbieger erkennen kann, dass das sich aus der Gegenrichtung nähernde Fahrzeug nach rechts abbiegen will und es daher zu einer Überschneidung der Fahrwege im Einmündungsbereich oder auf der nachfolgenden Straße kommen wird. Trifft den Linksabbieger danach eine Wartepflicht, entfällt diese nicht dadurch, dass er seinen Abbiegevorgang fortsetzt und so eine Situation herstellt, bei der er zum Benutzer der vorfahrtsberechtigten Straße wird. Dies folgt schon daraus, dass andernfalls ein Anreiz geschaffen würde, den an sich nicht zulässigen Linksabbiegevorgang möglichst schnell (und damit in einer die Unfallgefahr insgesamt steigerten Weise) zu vollziehen, um dann in den Genuss des Vorfahrtsrechts zu kommen. Die Wartepflicht beinhaltet gerade, dass der entgegenkommende Rechtsableger seinen Abbiegevorgang ungestört unternehmen darf, während der Linksabbieger sich nach diesem auszurichten hat; dies verbietet die Annahme, dass der Linksabbieger, der diesen Vorgang einmal verkehrswidrig begonnen oder fortgesetzt hat, im weiteren Verlauf das Vorrecht erlangen kann und nunmehr der Rechtsableger zum Warten gezwungen wird.

Im Übrigen spricht bereits der Wortlaut der Bestimmung dafür, dass für den Zeitpunkt, auf den wegen der Wartepflicht abzustellen ist, der Beginn des Abbiegevorgangs und dessen Verlauf, nicht aber ein etwaiger Kollisionszeitpunkt ist. § 9 Abs. 4 S. 1 StVO stellt insoweit darauf ab, dass jemand nach links abbiegen „will“.

c) Davon, dass die Zeugin eine Wartepflicht traf, weil sie vor Beginn des Linksabbiegevorgangs die Annäherung und die Absicht der Beklagten zu 1), nach rechts abzubiegen, erkennen konnte, ist das Landgericht aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen fehlerfrei ausgegangen.

In den beiden von ihm exemplarisch modellierten Varianten war zu dem Zeitpunkt, als die Zeugin den Abbiegevorgang durch Überfahren der gestrichelten Seitenlinie begann, sowohl der PKW der Beklagten zu 1) als solcher zu erkennen als auch der Umstand, dass diese entweder nach rechts abbiegen oder gerade aus fahren werde. So befand sich die Beklagte zu 1) selbst dann, wenn sie relativ schnell (50 km/h) an die Kreuzung herangefahren wäre, dann maximal verzögert hätte und wieder beschleunigt hätte, bei Beginn des Abbiegevorgangs durch die Zeugin 5 1/2 – 6 Sekunden vor dem Zusammenstoß bereits (aus ihrer Sicht) hinter der Ein-/Ausfahrt zu dem Supermarkt, so dass die Zeugin gewärtigen musste, dass dieser PKW entgegenkommt und alsbald in die Kreuzung einfahren werde. Die Angaben der Zeugin, die den PKW der Beklagten zu 1) nicht gesehen haben will, können damit kaum zutreffen; dies kann auch ohne Weiteres damit erklärt werden, dass sie sich noch in erheblicher Distanz hinter dem PKW des Klägers befunden hatte, weshalb ihre Sicht eingeschränkt war und eine Abschätzung von Distanzen noch schwieriger war. Wäre die Beklagte zu 1) langsamer, etwa mit 30 km/h, an die Kreuzung herangefahren, errechnet sich der Beginn des Abbiegevorgangs durch die Zeugin rund 4 1/2 Sekunden vor der Kollision; zu diesem Zeitpunkt musste sich dann die Beklagte zu 1) aber bereits noch näher an der Kreuzung befunden haben und ihr Fahrzeug noch deutlicher nach rechts ausgerichtet gewesen sein.

Bei beiden Annahmen wäre es auch so gewesen, dass während des Abbiegevorgangs der Zeugin, als dieser PKW noch nicht in parallel Richtung zur ausgerichtet war, die Annäherung und die Abbiegeabsicht der Beklagten zu 1) erkennbar gewesen sein muss. All dies löste jeweils die Wartepflicht für den PKW des Klägers aus.

Selbst wenn, was der Sachverständige in technischer Hinsicht nicht ausschließen konnte, die Beklagte zu 1) zunächst aus dem Supermarktparkplatz ausgefahren wäre, ergäbe sich nichts entscheidend anderes. Zwar wäre der PKW der Beklagten zu 1) dann in dem Moment, in dem die Zeugin ihren Abbiegevorgang begonnen hat, noch nicht auf der Straße gewesen; gemäß den oben dargestellten Grundsätzen hätte sie nach vorläufiger rechtliche Bewertung des Senats nicht ohne weiteres damit rechnen müssen, dass Fahrzeuge aus angrenzenden Grundstücken in die Straße einfahren und dann sogleich nach rechts abbiegen. Jedoch wäre wiederum während des weiteren Verlaufs des Linksabbiegens für die Zeugin zu erkennen gewesen, dass sich die Beklagte zu 1) mit der Absicht, nach rechts abzubiegen, der Kreuzung näherte. Dies wäre auch deutlich vor Beginn der Phase der Fall gewesen, in der die Zeugin bereits so in die eingefahren gewesen wäre, dass sie sich in dieser Fahrtrichtung bewegte und damit ein Vorfahrtsrecht erlangt hätte. Mit einer schnellen Annäherung der Beklagten zu 1) an den Kreuzungsbereich, d.h. eine Ausschöpfung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, musste die Zeugin dabei grundsätzlich rechnen.

3. Das Landgericht hat damit zutreffend bei der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge auf Seiten des Klägers einen Vorfahrtsverstoß nach § 9 Abs. 4 S. 1 StVO eingestellt. Die Beklagte zu 1) trifft demgegenüber der Vorwurf, gegen das allgemeine Gebot der Rücksichtnahme verstoßen zu haben. Wenn das Landgericht beide Verschuldensanteile als gleichwertig angesehen hat, stellt dies jedenfalls keinen Fehler zum Nachteil des Klägers dar. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Verstöße gegen konkrete Verkehrsregeln und Wartepflichten grundsätzlich höheres Gewicht besitzen als die Verletzung der allgemeinen Vorsichts- und Rücksichtnahmepflichten. Eine gleich hohe Gewichtung beschwert daher den Kläger nicht.

Der Senat legt deshalb aus Kostengründen die Rücknahme der Berufung nahe. Im Falle der Berufungsrücknahme ermäßigen sich vorliegend die Gerichtsgebühren von 4,0 auf 2,0 Gebühren (vgl. Nr. 1222 des Kostenverzeichnisses zum GKG).“

Ich habe da mal eine Frage: Fällt die Nr. 4142 VV RVG auch beim GmbH-Geschäftsführer an?

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Und dann noch die Gebührenfrage. Sie stammt mal wieder aus der FB-Gruppe. Dort musste sie zweimal gestellt werden, weil beim ersten Mal der Sachverhalt nicht klar war 🙂 :

„Moin aus dem schönsten Bundesland der Welt,

ich hatte folgende Frage schon einmal gestellt, da war allerdings mein Sachverhalt etwas dürftig.

Zweiter Versuch:

Corona-Subventionsbetrugsverfahren

Ich verteidige den Geschäftsführer der Komplementärin einer GmbH & Co. KG.

Gegen ihn ist ein Strafbefehl ergangen. Die GmbH & Co. KG ist Einziehungsbeteiligte.

Fällt die 4142 VV RVG auch bei meinem Mandanten an?

Vielen Dank vorab.“

Angemessene Rahmengebühren im OWi-Verfahren II, oder: Durchschnitt und privates SV-Gutachten

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Die zweite Entscheidung kommt vom LG Zwickau. Das hat im LG Zwickau, Beschl. v. 19.07.2024 – 1 Qs 77/24 – in einem „durchschnittlichen Verfahren“ zu den angemessenen Gebühren und zur Frage der Erstattung der Auslagen für ein privates SV-Gutachten Stellung genommen. In beiden Fällen positiv und in beiden Fällen richtig:

„1. Die von dem Verteidiger geltend gemachten Gebühren entsprechen billigem Ermessen und sind daher verbindlich (§ 14 Abs. 1 Satz 1, 4 RVG).

Die Bemessung von Rahmengebühren hat der Rechtsanwalt gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG unter Berücksichtigung aller Umstände nach billigem Ermessen vorzunehmen. Maßgebliche Kriterien für die Bemessung von Rahmengebühren sind unter anderem Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, Bedeutung der Angelegenheit sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse des Auftraggebers. Die sogenannte Mittelgebühr ist anzusetzen, wenn der „Normalfall“ vorliegt, also ein Fall, in dem sämtliche vor allem die nach § 14 Abs. 1 Satz 1 RVG zu berücksichtigenden Umstände durchschnittlicher Art sind, es sich also um eine übliche Bedeutung der Angelegenheit, um einen durch-schnittlichen Umfang und eine durchschnittliche Schwierigkeit der anwaltschaftlichen Tätigkeit und um wirtschaftliche Verhältnisse des Auftraggebers, die dem Durchschnitt der Bevölkerung entsprechen, handelt (Gerold/Schmidt/Meyer, 26. Auflage, 2023, RVG, § 14 Rn. 10). Zwar wird in einfach gelagerten Verfahren wegen Ordnungswidrigkeiten eine Festsetzung der anwaltlichen Vergütungsansprüche im unteren Drittel des zur Verfügung stehenden Gebührenrahmens erfolgen, wenn unter strikter Beachtung der Umstände des Einzelfalls und unter Zugrundelegung der Gebührenbemessungskriterien aus § 14 RVG davon auszugehen ist, dass insgesamt eine Angelegenheit von unterdurchschnittlicher Bedeutung vorliegt. Dies wird in einfach gelagerten Verfahren der Regelfall sein. So liegt der Fall hier aber nicht. Vielmehr entspricht die Schwierigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht einem durchschnittlichen Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren betreffend eine Geschwindigkeitsüberschreitung. Der Verteidiger hat bereits im Anhörungsverfahren Akteneinsicht und die Einsicht in Unterlagen beantragt, die nicht bereits Inhalt der Akten sind, wobei er die entsprechenden Unterlagen aufgeführt hat. Somit war bereits für die Grundgebühr nach Nr. 5100 VV-RVG die Mittelgebühr anzusetzen. Hieran ändert auch nichts, dass es sich bei dem entsprechenden Schriftsatz vom 28.04.2023 zumindest überwiegend um einen vorformulierten, aus Textbausteinen bestehenden Schriftsatz handeln dürfte. Nach Erlass des Bußgeldbescheides und Einspruchseinlegung hat der Verteidiger geprüft, ob alle angeforderten Unterlagen eingegangen sind. Er hat zu diesem Zeitpunkt bereits mitgeteilt, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens beabsichtigt sei. Auch in der Folge hat er Feststellungen zu fehlenden Unterlagen getroffen. Nach Vorliegen des privaten Sachverständigengutachtens hat er die dort aufgezeigten Auffälligkeiten im Einzelnen aufgeführt und einen entsprechenden Beweisantrag gestellt. Bereits im Zwischenverfahren hat er die Einstellung des Verfahrens beantragt. Aus diesem Grund ist für die Gebühren nach 5100 VV-RVG, 5103 VV-RVG, 5109 VV-RVG und 5115 VV-RVG, die jeweilige Mittelgebühr zum Ansatz zu bringen, auch wenn kein Fahrverbot oder die Eintragung eines Punktes im Fahreignungsregister drohte.

Selbst wenn davon ausgegangen würde, der Ansatz der Mittelgebühr sei nicht gerechtfertigt, wären aus den genannten Gründen keine Gebühren im unteren Drittel des jeweiligen Gebührenrahmens im gegenständlichen Fall angemessen. Ausgehend vom Urteil des Bundesgerichtshofs vom 31.10.2006, Az.: VI ZR 261/05 – juris -, ist eine Abweichung bis zu 20 % gegenüber dem objektiv Angemessenen vertretbar. Erst wenn diese Toleranzgrenze überschritten ist, liegt ein Ermessensmissbrauch vor. Dann muss das Gericht die Gebühr neu festsetzen. Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall.

2. Der Betroffenen sind die Auslagen für das durch ihren Verteidiger in Auftrag gegebene Sachverständigengutachten zu erstatten. Es handelt sich dabei im vorliegenden Fall um notwendige Auslagen im Sinne des § 46 Abs. 1 OWiG i. V. m. §§ 467 Abs. 1, 464 a Abs. 2 StPO.

Notwendige Auslagen sind die einem Beteiligten erwachsenen, in Geld messbaren Auf-wendungen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder zur Geltend-machung prozessualer Rechte erforderlich waren (LG Dessau-Roßlau, Beschluss vom 04.05.2023 – 6 Js 394 Js 26340/21 (56/23) – juris m. w. N.). Aufwendungen für private Ermittlungen oder Beweiserhebungen sind in der Regel nicht notwendig, weil Ermittlungsbehörden und das Gericht von Amts wegen zur Sachaufklärung und zur Beachtung des Zweifelssatzes verpflichtet sind und die Betroffenen daneben regelmäßig durch Initiativanträge, insbesondere Beweisanträge das Gericht zu der begehrten Beweisaufnahme bestimmen können und werden (a.a.O.). Hiervon werden jedoch Ausnahmen anerkannt. Abgesehen von der Konstellation, in der das Privatgutachten tatsächlich ursächlich für den Freispruch oder die Einstellung des Verfahrens geworden ist, wird es ausnahmsweise zum Beispiel dann als erstattungsfähig angesehen, wenn es ein abgelegenes und technisch schwieriges Sachgebiet betrifft (LG Wuppertal, Beschluss vom 08.02.2018, DAR 2018, 236; LG Aachen, Beschluss vom 12.07.2018, Az.: 66 Qs 31/18 – juris -; LG Dessau-Roßlau, a.a.O.). Hinzu kommt, dass die Gründe, auf denen die Beschränkung der Erstattungsfähigkeit der Kosten für private Sachverständigengutachten beruhen, nämlich, dass der Betroffene darauf vertrauen kann, dass von Amts wegen alle erforderlichen Ermittlungen erfolgen und er im Übrigen das Recht und die Pflicht hat, Beweisanträge zu stellen, in Fällen wie dem vorliegenden nur eingeschränkt zur Geltung kommen (LG Bielefeld, Beschluss vom 19.12.2019, Az.: 10 Qs 425/19 – juris – m. w. N.). Im Bußgeldverfahren sind nämlich dann, wenn ein standardisiertes Messverfahren zum Einsatz gekommen ist, die Anforderungen an die Darlegung einer Fehlermessung, die eine weitere Beweiserhebung durch das Gericht nach sich ziehen würde, erhöht. Hier müssen von Seiten der Verteidigung konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorgebracht werden, um eine weitergehende Aufklärung des Gerichts zu begründen. Insofern ist die Amtsermittlungspflicht eingeschränkt (LG Bielefeld, a.a.O., m. w. N.).

Bei dem gegenständlichen zur Geschwindigkeitsmessung eingesetzten Lasermess-system Vitronic Poli-Scan FM1 handelt es sich um ein standardisiertes Messverfahren. Somit musste die Betroffene davon ausgehen, dass keine Beweiserhebung zur Ordnungsgemäßheit der Messung erfolgen würde, wenn sie keine konkreten Anhaltspunkte für einen Messfehler vorbringt. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass solche Anhalts-punkte vor der Beauftragung des Gutachtens vorgelegen hätten. Hieran ändert auch die Ladung des Zeugen pp. zum Beweisthema Geschwindigkeitsmessung vom 13.03.2023 in Zwickau, Wildenfelser Straße, nichts, da aufgrund des technisch schwierigen Sachgebietes nicht ohne Weiteres adäquate Fragen zu möglichen Messfehlern gestellt oder Widersprüche vorgehalten hätten werden können. Zudem hat das Amtsgericht auf den Terminsverlegungsantrag des Verteidigers und dessen Hinweis, dass die Begutachtung der verfahrensgegenständlichen Verkehrsmessung in Auftrag gegeben worden sei, welche zwei bis drei Monate in Anspruch nehme und daher eine neue Terminierung erst für Ende November 2023 erfolgen solle, den Verhandlungstermin entsprechend auf den 17.11.2023 verlegt.

Das Sachverständigengutachten vom 20.10.2023 ging am 26.10.2023 beim Amtsgericht Zwickau ein. Mit Schreiben vom 24.10.2023, das ebenfalls am 26.10.2023 beim Amtsgericht Zwickau eingegangen ist, hat die Betroffene durch ihren Verteidiger diverse Auffälligkeiten bei der Geschwindigkeitsmessung, ergebend aus dem Sachverständigengutachten, aufgeführt. Das Gutachten zeigt diverse Auffälligkeiten auf, die einzeln betrachtet grundsätzlich nicht zu einer Unverwertbarkeit führen müssen. Allerdings würde im Hinblick auf signifikante Auffälligkeiten innerhalb der Messserie eine technische Verwertbarkeit durchaus als diskussionswürdig erscheinen. Auch wird deswegen ein weiterer Toleranzabzug thematisiert, ohne dass ein entsprechender Vorschlag unterbreitet wurde.

Aus den Einwendungen der Betroffenen zur gegenständlichen Geschwindigkeitsmessung und der zeitlichen Abfolge mit der dann folgenden Einstellung des Verfahrens er-gibt sich, dass die privaten Ermittlungen tatsächlich auch zur Entscheidungsfindung beigetragen haben.“

Angemessene Rahmengebühren im OWi-Verfahren I, oder: Höhe der Terminsgebühren – schwierig?

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Und dann RVG – heute mal wieder zwei zu § 14 RVG – Rahmengebühren -, und zwar im Bußgeldverfahren.

Den Opener mache ich mit dem LG Freiburg, Beschl. v. 30.07.2024 – 2 Qs 50/24. Gestritten wird nach Einstellung des Verfahrens wegen des Verfahrenshindernisses eines Strafklageverbrauchs auf Hinweis des Verteidigers nach § 206a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG um die Höhe der vom Verteidiger im Kostenfestsetzungsverfahren geltend gemachten Terminsgebühren. Der Verteidiger hatte jeweils die Mittelgebühr angesetzt. Das AG hate geringere Beträge festgesetzt, und zwar unterhalb der Mittelgebühr, nämlich einmal nur  150,00 EUR und einmal nur 100,00 EUR. Dagegen die sofortige Beschwerde des Betroffenen, die insoweit Erfolg hatte:

„Hinsichtlich der Terminsgebühren waren nach § 14 RVG vorliegend Mittelgebühren zu VV Nr. 5110 RVG in Höhe von jeweils 280,50 Euro festzusetzen.

Eine Rahmengebühr nach § 14 RVG – wie sie hier mit Rücksicht auf die Gebührentatbestände im Streit steht – ist unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen zu bestimmen. Ist die Gebühr — wie hier — von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist, vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 RVG.

Daran gemessen ist die Gebührenbestimmung des Verteidigers hinsichtlich der Terminsgebühren unter Berücksichtigung aller Umstände vorliegend nicht unbillig, sondern als angemessen zu betrachten. Insoweit ist trotz des relativ geringen zeitlichen Umfangs der Verhandlungstermine und des recht geringen Gewichts der vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit vorliegend im Hinblick auf die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des vorliegenden Falles insbesondere die Frage des Bestehens eines Strafklageverbrauchs zu sehen.

Ob bereits die Gefahr des Eintrags eines Punktes ins Fahreignungsregister ausgereicht hätte, um das Ansetzen der Mittelgebühr zu rechtfertigen (dagegen etwa LG Würzburg, Beschluss vom 19.3.2020 — 1 Qs 48/20), kann dahinstehen.“

„Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit“ – dazu hätte man gern mehr gewusst. Dazu steht aber leider nichts im Beschluss. Einstellung „wegen des Verfahrenshindernisses eines Strafklageverbrauchs“ lässt aber ahnen, worum gestritten worden ist.