Verkehrsrecht II: Gefährdung des Straßenverkehrs, oder: Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens

Überholen Verkehrs

Im zweiten Beitrag dann noch einmal etwas zur Straßenverkehrsgefährdung, und zwar zum sog. falschen Überholen, also § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB.

Das AG hatte den Angeklagten am 13. März 2023 wegen Nötigung und Beleidigung verurteilt. Auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hat das LG das Urteil abgeändert und den Angeklagten wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs und Beleidigung verurteilt. Dagegen die Revision des Angeklagten, die mit dem BayObLG, Beschl. v. 22.07.2024 – 203 StRR 287/24 – teilweise Erfolg hatte:

„1. Die Berufungskammer hat im Wesentlichen folgende Feststellungen getroffen:

Am 16. Dezember 2021 gegen 15.00 Uhr fuhr der Angeklagte, ein mittlerweile pensionierter Polizeibeamter, als Führer eines PKWs auf der Bundesstraße B 8 zwischen Diebach und Neustadt a.d.Aisch. Vor dem Angeklagten war der Geschädigte mit einem etwa 16,5 m langen LKW mit Auflieger in gleicher Fahrtrichtung mit einer Geschwindigkeit von etwa 68 km/h unterwegs. Die zulässige Geschwindigkeit betrug für den Geschädigten 60 km/h. Der Angeklagte überholte den Geschädigten im Bereich einer langgezogenen Rechtskurve, scherte mit einem Abstand von etwa 16 Metern vor dem Geschädigten ein und bremste anschließend sein Fahrzeug ohne verkehrsbedingten Grund von zunächst 100 km/h bis fast zum Stillstand ab, um den Geschädigten ebenfalls zu einem abrupten Abbremsen zu zwingen und ihn dadurch zu maßregeln. Infolge des Bremsvorgangs aktivierte sich im LKW des Geschädigten noch vor dessen Reaktion das Notbremssystem und brachte den LKW zum Stillstand. Als der Geschädigte den Angeklagten kurz darauf an einer Ampel zur Rede stellte, bezeichnete ihn der Angeklagte mit den Worten „Du Wichser“, um ihn in seiner Ehre zu verletzen.“

Rechtlich führt das BayObLG:

„4. Die Feststellungen tragen nicht eine Verurteilung wegen einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c StGB.

a) In Betracht kommt alleine die Alternative des falschen Überholens. Nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB wird bestraft, wer im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet. Überholen im Sinne der Strafvorschrift des § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB meint das Vorbeifahren von hinten an sich in derselben Richtung bewegenden oder verkehrsbedingt haltenden Fahrzeugen auf derselben Fahrbahn oder unter Benutzung von Flächen, die mit der Fahrbahn nach den örtlichen Gegebenheiten einen einheitlichen Straßenraum bilden (BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 47. Aufl., § 5 StVO Rn. 16 m.w.N.; Jahnke in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 28. Aufl., § 5 StVO Rn. 19 m.w.N; Kudlich in BeckOK StGB, 61. Ed. 1.5.2024, StGB § 315c Rn. 42; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 315c Rn. 6).

Ein falsches Fahren beim Überholen ist gegeben, wenn der Täter eine der in § 5 StVO normierten Regeln verletzt oder einen anderweitigen Verkehrsverstoß begeht, der das Überholen als solches gefährlicher macht, sodass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Verkehrsverstoß und der spezifischen Gefahrenlage des Überholens besteht (vgl. BGH, Beschluss vom 15. März 2018 – 4 StR 469/17 –, juris Rn. 8; BGH, Beschluss vom 22. November 2016 – 4 StR 501/16-, juris Rn. 6; OLG Düsseldorf, Urteil vom 28. Juli 1981 – 2 Ss 433/81 – 204/81 II –, juris; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 11; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 43; König in Leipziger Kommentar (LK) zum StGB, 13. Aufl., § 315c StGB Rn. 96, 99; Heger in Lackner/Kühl/Heger, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 14; Hecker in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 315c Rn. 18).

Der Überholvorgang beginnt in der Regel mit dem Ausscheren (Pegel in MüKoStGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 53; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StVO § 5 Rn. 22). Der Überholvorgang ist beendet, wenn das überholende Fahrzeug wieder mit ausreichendem Abstand in den Verkehrsfluss eingegliedert ist (KG, Beschluss vom 28. Juni 2005 – 12 U 62/05 BeckRS 2007, 946; OLG Hamm, Urteil vom 13. Dezember 1999 – 13 U 111/99 BeckRS 2007, 1124; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 5 StVO Rn. 23 m.w.N., Rn. 51; Schäfer in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StVO § 5 Rn. 67; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 34, 122; Bender in MüKoStVR, 1. Aufl. 2016, StVO § 5 Rn. 10; Gutt/Krenberger, ZfSch 2016, 664 zitiert nach juris; Helle in Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2. Aufl., § 5 StVO (Stand: 09.06.2023) Rn. 83; ähnlich (wenn der Überholte seine Fahrt ungehindert und ungefährdet fortsetzen kann) OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Bollacher in BeckOK StVR, 23. Ed. 15.4.2024, StGB § 315c Rn. 49; nur auf das Eingliedern abstellend BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54).  Das Gebot zur Einhaltung eines ausreichenden Abstandes beim Wiedereinordnen zum überholten Fahrzeug ergibt sich aus § 5 Abs. 4 Satz 6 StVO. Der Überholte darf beim Einscheren in die Spur des Überholten nicht behindert und nicht gefährdet werden. Daher fallen Pflichtverstöße beim Einordnen etwa durch Schneiden, Kreuzen oder Abbremsen beim Einscheren unter § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB, da der innere Zusammenhang mit der besonderen Gefährlichkeit des Überholvorgangs in diesen Fällen bejaht werden kann (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 – III-4 RVs 111/14 –, juris Rn. 13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95, 97a; Hecker a.a.O. § 315c Rn. 17, 18; Zieschang in NK-StGB, 6. Aufl. 2023, StGB § 315c Rn. 43; Fischer a.a.O. § 315c Rn. 6, 6a; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 315c Rn. 12; Niehaus in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke a.a.O. StGB § 315c Rn. 14 f.; Kudlich a.a.O. § 315c Rn. 44.1; zum Schneiden beim Wiedereinscheren BayObLG, Urteil vom 22. August 1986 BeckRS 1986, 112570; Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 123).

Demgegenüber wird Fehlverhalten nach Abschluss des Überholens nicht von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB erfasst (BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 4 StR 420/11 –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris Rn. 3; im Erg. auch BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; Heger a.a.O. § 315c  Rn. 14;  Pegel a.a.O. § 315c Rn. 54; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13; Niehaus a.a.O. § 315c Rn. 14; Bollacher a.a.O. § 315c Rn. 49; König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; Hecker a.a.O.  Rn. 17). Dies folgt bereits aus dem Wortlaut der Norm, da sie nur falsches Überholen, nicht aber sonstiges Behindern erfasst. Nutzt der Überholende nicht die spezifische Überholsituation aus, sondern nimmt den verkehrsfeindlichen Eingriff lediglich bei Gelegenheit des Überholvorgangs vor, indem er sein Fahrzeug nach dem Einscheren zur Disziplinierung oder zu „Strafzwecken“ scharf abbremst, fehlt es an der besonderen Gefährlichkeit des Überholens; ein solcher Vorgang ist an  § 315b StGB und an § 240 StGB zu messen (vgl. BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 11. November 1996 – 1 Ss 154/96 –, juris; so auch König in LK a.a.O. § 315c Rn. 95; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. § 315c Rn. 13).

Ob ein bewusst scharfes Abbremsen unter Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 2 StVO, das wie hier in einem engen zeitlichen und situativen Zusammenhang mit dem Wiedereinscheren in die Fahrspur des Überholten erfolgt, vom Begriff des falschen Überholens im Sinne von § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB noch oder nicht mehr erfasst ist, beurteilt sich danach, ob der Überholer vor dem zu betrachtenden Bremsmanöver zunächst auf die Fahrspur des Überholten mit so ausreichendem Abstand (vgl. dazu Jahnke a.a.O. § 5 StVO Rn. 122, 123) zum überholten Fahrzeug eingeschert ist, dass er den Überholten unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen gefahrenen Geschwindigkeiten (vgl. Jahnke a.a.O.) nicht behinderte (OLG Hamm, Beschluss vom 11. September 2014 a.a.O. Rn. 13; im Erg. auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 13. Juni 1988 – 5 Ss 101/88 – 99/88 I –, juris Rn. 21).

b) Nach diesen Vorgaben ist der Tatbestand der Straßenverkehrsgefährdung nach § 315c Abs. 1 Nr. 2b StGB hier nicht erfüllt. Die Annahme des Berufungsgerichts, der Überholvorgang sei nach dem Einscheren des Angeklagten deshalb noch nicht abgeschlossen gewesen, weil der Überholte aufgrund des Bremsmanövers seine Fahrt nicht ungehindert und ungefährdet fortsetzen konnte, lässt einen Zirkelschluss besorgen. Nach den gutachterlich gestützten Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte mit einer im Vergleich zum Geschädigten deutlich höheren Geschwindigkeit von ca 100 km/h in einem zunächst ausreichenden Abstand (Urteil S. 9) von etwa einer LKW-Länge vor dem mit einer Geschwindigkeit von 68 km/h fahrenden LKW des Geschädigten eingeschert, bevor er sein Bremsmanöver einleitete. Der Überholvorgang war somit vor dem Ausbremsen abgeschlossen. Es kommt daher nicht mehr darauf an, dass nach obergerichtlicher Rechtsprechung Bedenken bestehen, eine Straßenverkehrsgefährdung zu bejahen, wenn die bestimmungsgemäße Funktion eines Fahrassistenzsystems dazu führt, dass sich eine in einem Kausalverlauf angelegte Gefahr gerade nicht in einem entsprechenden Schadenseintritt realisiert (OLG Koblenz, Beschluss vom 26. Juni 2023 – 2 ORs 4 Ss 88/23 –, juris).

5. Eine Strafbarkeit nach § 315b StGB scheidet ebenfalls aus. Bei einem verkehrsfeindlichen Inneneingriff verlangt die höchstrichterliche Rechtsprechung im Sinne einer einschränkenden Auslegung seit der Entscheidung vom 20. Februar 2003 (BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 – 4 StR 228/02 –, BGHSt 48, 233-23), dass der Täter das Fahrzeug mit zumindest bedingtem Schädigungsvorsatz als Waffe oder Schadenswerkzeug einsetzt (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 6. Juni 2023 – 4 StR 70/23 –, juris; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 9a, 20, 21; Kudlich a.a.O. § 315b Rn. 18; Pegel a.a.O. § 315b Rn. 18; Hecker a.a.O. § 315b Rn. 10). Die Feststellungen des Landgerichts belegen keinen bedingten Schädigungsvorsatz des Angeklagten. Die Strafkammer hat bei dem die Umstände des Bremsvorgangs bestreitenden Angeklagten den Schluss auf das Vorliegen eines bedingten Schädigungsvorsatzes allein aus dem objektiven Hergang geschlossen, sich jedoch für die gebotene Abgrenzung zur bewussten Fahrlässigkeit und zum Gefährdungsvorsatz nicht mit der Frage beschäftigt, ob der Angeklagte mit dem Eingreifen eines Notbremsassistenten rechnete. Auch eine mögliche Eigengefährdung des Angeklagten im Falle eines Auffahrunfalls hätte es bei seinen Überlegungen zum bedingten Schädigungsvorsatz mit einstellen müssen (vgl. zum Aspekt der Schutzlosigkeit BGH, Urteil vom 31. August 1995 – 4 StR 283/95 –, BGHSt 41, 231-242, zitiert nach juris Rn. 19; Fischer a.a.O. § 315b Rn. 20).

6. Der Angeklagte hat sich jedoch – neben der Beleidigung – wegen einer vollendeten Nötigung nach § 240 StGB strafbar gemacht.

a) Nach der gefestigten Rechtsprechung setzt Gewalt im Sinne von § 240 Abs. 1 StGB eine körperlich vermittelte Zwangswirkung zur Überwindung eines geleisteten oder erwarteten Widerstands voraus (vgl. Fischer a.a.O. § 240 Rn. 8). Dazu kann auch ein geringer körperlicher Aufwand genügen, wenn seine Auswirkungen sich physisch wirkend als körperlicher Zwang darstellen (vgl. BGH, Urteil vom 20. Juli 1995 ? 1 StR 126/95- juris Rn. 14; Fischer a.a.O. 240 Rn. 19). Strafbare Nötigung durch Gewalt kann demnach vorliegen, wenn der Einfluss auf das Opfer bei nur geringem körperlichen Aufwand dergestalt physischer Art ist, dass die beabsichtigte Fortbewegung durch tatsächlich nicht überwindbare Hindernisse unterbunden wird (vgl. BGH a.a.O. Rn. 16; Fischer a.a.O. Rn. 17). Der Verurteilung wegen Nötigung steht nicht entgegen, dass der Angeklagte ohne einen unmittelbaren Kontakt auf den geschädigten Kraftfahrer eingewirkt hat. Der angestrebte Erfolg kann auch dadurch erreicht werden, dass sich der Täter einer Sache bedient, um dem zu Nötigenden ein physisches Hindernis zu bereiten. Auf welche Weise er das tut, spielt im Verhältnis zu dem in der Fortbewegung gehemmten Adressaten keine Rolle. Ausschlaggebend ist allein die vom Täter bezweckte physische Wirkung auf den nachfolgenden Verkehrsteilnehmer (BGH a.a.O. Rn. 17; Fischer a.a.O. Rn. 17).

b) Bremst ein Fahrzeugführer sein eigenes Fahrzeug bewusst aus verkehrsfremden Gründen stark ab, um den hinter ihm fahrenden Fahrer ohne Ausweichmöglichkeit zu einer Vollbremsung, insbesondere zum Stillstand, zu zwingen, ist der Tatbestand der Nötigung in der Gewaltalternative erfüllt (BGH, Urteil vom 30. März 1995 – 4 StR 725/94 –, juris Rn. 20, 21; BayObLG, Urteil vom 6. Juli 2001 – 1St RR 57/01 –, juris; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27, 28 m.w.N.; Valerius in BeckOK StGB 61. Ed. § 240 Rn. 29.3; Sinn in MüKoStGB a.a.O. § 240 Rn. 148; Eisele in Schönke/Schröder a.a.O. § 240 Rn. 24 m.w.N.; König in Hentschel/König/Dauer a.a.O. StGB § 240 Rn. 21). Dass das Fahrzeug des Geschädigten hier mit einem automatischen Bremssystem ausgestattet war und nicht der Fahrer, sondern das System eine elektronische Vollbremsung einleitete, schließt weder den objektiven Tatbestand noch den Vorsatz aus. Der Gewaltbegriff des § 240 StGB erfasst auch Einwirkungen auf die Umwelt des Opfers, wenn sie dessen Handlungsmöglichkeiten beschränken und gerade zu diesem Zweck vorgenommen werden (Altvater/Coen in LK a.a.O. § 240 Rn. 63; Fischer a.a.O. § 240 Rn. 27; Eisele a.a.O. § 240 Rn. 34).“

Verkehrsrecht I: Straßenverkehrsgefährdung, oder: Flucht vor Polizeikontrolle

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Heute gibt es dann einen „Verkehrsrechts-Donnerstag“.

An dem macht der BGH, Beschl. v. 19.06.2024 – 4 StR 73/24 – den Opener. Das LG hatte den Angeklagten auch wegen (vorsätzlicher) Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB verurteilt. Insoweit hat der BGH aufgehoben:

2. Der Schuldspruch gegen den Angeklagten A. hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung teilweise nicht stand. Die Verurteilung wegen (vorsätzlicher) Gefährdung des Straßenverkehrs gemäß § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB im Fall II.4. der Urteilsgründe wird von den Feststellungen nicht getragen.

a) Nach diesen steuerte der Angeklagte im öffentlichen Straßenverkehr einen Mietwagen, in dessen Besitz er unrechtmäßig gelangt war und der außer ihm mit drei weiteren Insassen besetzt war. Als das Fahrzeug einer Polizeikontrolle unterzogen werden sollte, flüchtete der Angeklagte mit stark überhöhter Geschwindigkeit und unter Missachtung von Verkehrsregeln. Während seiner Fluchtfahrt hielt er es für möglich, dass seine gefährliche Fahrweise zu einem Unfall und damit zu einer Verletzung seiner Mitinsassen führen könnte, ordnete deren Gesundheit jedoch seinem Fluchtziel unter. Im Bereich einer rechtwinklig verlaufenden Linkskurve, wo die Einsicht in die nach links weiterführende Straße durch eine „heckenähnliche Anpflanzung verschiedener Bäume“ am Straßenrand fast vollständig verdeckt war, befand sich eine Verkehrsinsel, über die ein Fahrradweg führte. Dort kam der Angeklagte „aufgrund seiner grob verkehrswidrigen und rücksichtslosen Fahrweise in Form einer nach wie vor deutlich überhöhten Geschwindigkeit“ von der Fahrbahn ab und der von ihm gesteuerte Mietwagen kollidierte mit dem Bordstein der Verkehrsinsel, wodurch beide rechte Reifen des Fahrzeugs beschädigt wurden. Der Angeklagte verlor die Kontrolle über dieses, so dass es beinahe zu der Kollision mit einem weiteren Verkehrsteilnehmer gekommen wäre. Er setzte seine Flucht gleichwohl fort, konnte kurz darauf aber von der Besatzung des ihn verfolgenden Polizeiwagens gestellt werden, wobei eine Polizeibeamtin verletzt wurde.

b) Diese Feststellungen belegen die Voraussetzungen einer (vorsätzlichen) Gefährdung des Straßenverkehrs im Sinne des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB nicht. Denn sie ergeben nicht, dass der von dem Straftatbestand vorausgesetzte Gefahrerfolg eingetreten und gerade durch die Tathandlung bewirkt worden ist.

aa) Die Vorschrift des § 315c Abs. 1 StGB setzt in allen Tatvarianten eine konkrete Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert voraus. Dies ist nach gefestigter Rechtsprechung der Fall, wenn die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung auf Grund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt wurde, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. Erforderlich ist die Feststellung eines „Beinahe-Unfalls“, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, es sei „noch einmal gut gegangen“ (st. Rspr.; vgl. zum Ganzen nur BGH, Beschluss vom 2. Februar 2023 – 4 StR 293/22 Rn. 5 mwN).

Hieran gemessen fehlt es an Feststellungen, die den tatbestandsmäßigen Gefährdungserfolg belegen. Das Landgericht hat in seiner rechtlichen Würdigung darauf abgestellt, dass der Kontrollverlust des Angeklagten über das Fahrzeug dessen Kollision mit dem Bordstein der Verkehrsinsel zur Folge gehabt habe, was zum Platzen zweier Reifen geführt „und damit Leib und Leben der Fahrzeuginsassen in die konkrete Gefahr einer Verletzung gebracht“ habe. Dabei hat das Landgericht zwar zutreffend angenommen, dass die Mitfahrer des Angeklagten A.    – anders als das von ihm geführte fremde Fahrzeug – vom Schutzbereich des § 315c Abs. 1 StGB erfasst waren, denn sie hatten nach den Feststellungen weder in die Rechtsgutsgefährdung eingewilligt noch waren sie tatbeteiligt (vgl. zu beiden Tatobjekten nur BGH, Beschluss vom 4. Dezember 2012 – 4 StR 435/12 Rn. 5 f. mwN). Letzteres würde auch dann gelten, wenn der festgestellte Umstand, dass einer der Mitfahrer das Geschehen mit seinem Mobiltelefon filmte, die Annahme einer psychischen Beihilfe tragen sollte; denn diese würde eine Tatbeteiligung jedenfalls der weiteren Mitinsassen des Fahrzeugs nicht begründen können.

Allerdings kann den Urteilsfeststellungen nicht entnommen werden, dass das Kollisionsgeschehen an der Verkehrsinsel oder eine andere während der Fahrt eingetretene Situation die Fahrzeuginsassen in eine den obigen Anforderungen entsprechende Schadensnähe brachte, sie also nicht nur abstrakt, sondern konkret an Leib oder Leben gefährdet waren. Feststellungen dazu, welche körperliche Wirkung der Anstoß des Fahrzeugs an den Bordstein der Verkehrsinsel – der zwar zu einem Reifenschaden führte, die Fahrtauglichkeit des Mietwagens aber nicht aufhob – auf die Mitfahrer des Angeklagten hatte, hat das Landgericht nicht getroffen.

bb) Ungeachtet dessen kann den Urteilsgründen auch nicht entnommen werden, dass ein etwaiger Gefährdungserfolg gerade auf der Tathandlung des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB beruhte. Diese hat die Jugendkammer zwar rechtsfehlerfrei festgestellt. Die Urteilsgründe ergeben ohne weiteres, dass der Angeklagte A.   im Bereich der Verkehrsinsel grob verkehrswidrig und rücksichtslos zu schnell fuhr und – in ihrem Gesamtzusammenhang – auch dass es sich hierbei um eine unübersichtliche Stelle im Sinne der Strafvorschrift handelte. Der objektive Tatbestand des § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB („und dadurch“) setzt aber darüber hinaus voraus, dass die konkrete Gefahr in einem inneren Zusammenhang mit den Risiken steht, die von der unübersichtlichen Stelle typischerweise ausgehen (vgl. BGH, Beschluss vom 5. Juni 2019 – 4 StR 130/19 Rn. 16 mwN). Dieser Gefahrverwirklichungszusammenhang ergibt sich aus den Feststellungen des Landgerichts nicht. Danach kam der Angeklagte im Bereich der Kurve, in der sich die Verkehrsinsel befand, aufgrund seiner deutlich überhöhten Geschwindigkeit von der Fahrbahn ab und kollidierte mit dem Bordstein. Dass diese Kollision durch die Unübersichtlichkeit der Unfallstelle – etwa durch ein hieraus resultierendes Übersehen der Verkehrsinsel – wenigstens mitverursacht wurde, ist damit nicht festgestellt.

cc) Der Senat schließt aus, dass in einem zweiten Rechtsgang hinsichtlich des Eintritts einer konkreten Gefahr im Sinne von § 315c Abs. 1 StGB und ihrer Verursachung noch ergänzende Feststellungen getroffen werden können, die zur Annahme einer Strafbarkeit des Angeklagten nach § 315c Abs. 1 Nr. 2 d) StGB führen. Er lässt daher die tateinheitlich erfolgte Verurteilung wegen vorsätzlicher Gefährdung des Straßenverkehrs im Wege der Schuldspruchänderung analog § 354 Abs. 1 StPO entfallen.“

Pflichti III: Rechtsmittelbefugnis des Pflichtverteidigers, oder: Kein Rechtsmittel gegen Willen des Mandanten

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Und im letzten Pflichti-Posting Entscheidungen dann noch etwas vom OLG Zweibrücken, und zwar OLG Zweibrücken, Beschl. v. 17.07.2024 – 1 Ws 168/24 – zur Rechtsmittelbefugnis des Pflichtverteidigers.

Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren über die Fortdauer der Unterbringung des Untergebrachten in einem psychiatrischen Krankenhaus. Diese ist von der StVK angeordnet worden. Dagegen hat der Verteidiger sofortige Beschwerde eingelegt. Mit am gleichen Tag eingegangen Schreiben hat der Verteidiger mitgeteilt, der Untergebrachte habe ihm telefonisch mitgeteilt, er habe Rechtsmittelverzicht erklärt, wobei der Rechtsmittelverzicht auch von seinem Verteidiger innerhalb der Rechtsmittelfrist abgegebene strafprozessuale Erklärungen umfassen solle. Das LG hat die Sache dem OLG zur Entscheidung über die sofortige Beschwerde vorgelegt. Sie hatte keinen Erfolg:

„2. Der Untergebrachte hat mit seinem Schreiben vom 28.05.2024 (Blatt 1694 V-Heft) nach § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO wirksam auf die Einlegung eines Rechtsmittels gegen Beschluss der Großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Landau in der Pfalz vom 15.04.2024 verzichtet.

a) In dem vorgenannten Schreiben kommt der Wille des Untergebrachten, auf Rechtsmittel gegen den vorbezeichneten Beschluss zu verzichten, eindeutig zum Ausdruck; er erstreckt seine Verzichtserklärung auch auf „eventuell eingelegte Rechtsmittel“ seines Verteidigers.

An der Wirksamkeit des Verzichts des Untergebrachten auf die Einlegung von Rechtsmittel bestehen keine Zweifel. Der Untergebrachte muss bei Abgabe einer Rechtsmittelverzichtserklärung dazu in der Lage sein, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen und bei hinreichender Freiheit der Willensentschließung und Willensbetätigung die Bedeutung seiner Erklärung erkennen. Dies wird selbst durch eine – hier allerdings nicht vorliegende – Geschäfts- oder Schuldunfähigkeit nicht notwendig ausgeschlossen. Vielmehr ist von einer Unwirksamkeit der Verzichtserklärung erst auszugehen, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Untergebrachte nicht dazu in der Lage war, die Bedeutung der von ihm abgegebenen Erklärung zu erfassen (BGH, Beschluss vom 20.02.2017 ? 1 StR 552/16, NStZ 2017, 487; zur Rechtsmittelrücknahme: Senat, Beschluss vom 24.05.2022 – 1 Ws 83/22, BeckRS 2022, 12794). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Es sind vielmehr keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass dem Verurteilten im Hinblick auf seinen geistigen Zustand die genügende Einsichtsfähigkeit für seine Prozesserklärung und deren Tragweite gefehlt hätte. Vielmehr belegen seine auch in der Vergangenheit gestellten Eingaben, dass der Untergebrachte sehr wohl in der Lage ist, für seine Interessen einzutreten und dabei die Bedeutungen seiner Erklärungen zu erkennen. Auch das am 03.06.2024 bei der Staatsanwaltschaft Landau in der Pfalz eingegangene Schreiben der Untergebrachten zeigt, dass er über die genügende Einsichtsfähigkeit in die von ihm abgegebenen Prozesserklärungen verfügt. Mit diesem Schreiben schildert der Untergebrachte in sachlicher Weise ihm in der Vergangenheit gewährte Lockerungen und regte dann mit verständlicher Begründung erneut die Gewährung von Vollzugslockerungen an (Blatt 1697 bis Blatt 1704 V-Heft). Auch die Ausprägung der Anlasserkrankung des Untergebrachten – eine mit einer Alkoholabhängigkeit (ICD-10: F10.2) kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen, antisozialen und schizoiden Persönlichkeitsanteilen (ICD-10: F61.1) – lässt nicht den Schluss zu, dass er nicht in der Lage ist, die Bedeutung seiner Prozesserklärungen zu erfassen.

Danach ist der vom Untergebrachten erklärte Verzicht auf die Einlegung der sofortigen Beschwerde bindend. Der Rechtsmittelverzicht ist als Prozesserklärung grundsätzlich unwiderruflich und unanfechtbar und führt zum Verlust des Rechtsmittels.

b) Dem steht nicht entgegen, dass der Verteidiger an der durch ihn gegen den Beschluss des Landgerichts eingelegten sofortigen Beschwerde festhält.

Mit Wirksamwerden des Rechtsmittelverzichts durch Eingang der Erklärung beim zuständigen Gericht kann der Verteidiger kein Rechtsmittel mehr einlegen (BGH, Beschluss vom 09.09.1977 – 3 StR 454/77 –, Rn. 2-3, juris); ein vom Verteidiger schon vorher eingelegtes Rechtsmittel wird wirkungslos (BGH NJW 1960, 2202, 2203; BGH, GA 1973, 47; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 16. Dezember 1982 – 1 Ws 999/82 –, juris). Dass das Rechtsmittel vom Verteidiger eingelegt und begründet worden war, ist insoweit ohne Belang (BGH, Beschluss vom 13. 06. 2006 – 4 StR 182/06, NStZ-RR 2007, 210). Zwar kann die Verteidigung aus eigenem Recht und im eigenen Namen Rechtsmittel einlegen und zurücknehmen. Allerdings folgt aus § 297 StPO, dass es sich bei dem Rechtsmittel um ein solches des Beschuldigten bzw. Untergebrachten handelt (BGH, Beschluss vom 10.07.2019 – 2 StR 181/19 -, Rn. 10, juris). Nach dieser Vorschrift kann der Verteidiger für den Untergebrachten, jedoch nicht gegen dessen ausdrücklichen Willen, Rechtsmittel einlegen. Allein maßgebend ist der Wille des Untergebrachten. Ein Rechtsmittel darf deshalb nie gegen den Willen des Untergebrachten ausgeübt werden. Bei unterschiedlicher Auffassung und Anfechtung ist jene des Untergebrachten und nicht die seiner Verteidigung maßgeblich. Der erklärte Wille des Untergebrachten geht vor und kann die in § 297 StPO enthaltene Vermutung, dass ein Rechtsmittel der Verteidigung in seinem Auftrag und Willen eingelegt wurde (KG, Beschluss vom 12.01.2022 – 4 Ws 4/22, BeckRS 2022, 911, Rn. 7), widerlegen. Hieraus folgt, dass der Rechtsmittelverzicht des Untergebrachten auch für das vom Verteidiger eingelegte Rechtsmittel gilt und selbst dann wirksam ist, wenn der Verteidiger das von ihm zugunsten seines Mandanten eingelegte Rechtsmittel durchgeführt wissen will (BGH NStZ-RR 2007, 210). Auch eine im „wohlverstandenen Interesse“ des Untergebrachten nach § 198 GVG eingelegte Verzögerungsrüge erlaubt es nicht, den ausdrücklich erklärten Willen des Untergebrachten außer Acht zu lassen. Danach ist die vom Verteidiger am 30.05.2024 eingelegte sofortige Beschwerde mit dem Rechtsmittelverzicht des Untergebrachten wirkungslos geworden.“

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Halle versus LG Neuruppin/AG/LG Krefeld

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Und dann hier einige „Rückwirkungsentscheidungen“.

    1. Eine rückwirkende Bestellung zum Pflichtverteidiger ist jedenfalls dann vorzunehmen, wenn der Beschuldigte rechtzeitig eine Pflichtverteidigerbestellung ausdrücklich beantragt hatte, wenn die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorgelegen haben und wenn eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag ohne zwingenden Grund nicht unverzüglich erfolgt ist, da die Entscheidung durch behördeninterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.
    2. Eine Vorlage des Antrages auf Bestellung des Pflichtverteidigers beim zuständigen Ermittlungsrichter mehr als drei Wochen nach dem (erstmaligen) Eingang des Antrages bei der Polizei ist nicht mehr unverzüglich.
    1. Der Verteidiger kann gegen die Ablehnung seiner Bestellung als Pflichtverteidiger nicht im eigenen Namen sofortige Beschwerde ein legen, weil er nicht in eigenen Rechten verletzt ist.
    2. Eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger kommt nicht in Betracht (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung).

Die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nicht zulässig.

Die Entscheidung des LG Halle ist zutreffend, die des LG Neuruppin bzw. die von AG/LG Krefeld sind falsch.

Ich verstehe bei der Entscheidung des LG Neuruppin schon nicht, warum man den richtigen Weg, den man mal gegangen ist, nun verlässt und sich dabei mit der richtigen anderslautenden Rechtsprechung nicht auseinandersetzzt, sie ja noch nicht einmal erwähnt. Und das in einer Sache, in der die Frage überhaupt keine Rolle gespielt hat. Denn, wenn die sofortige Beschwerde unzulässig war, kam es auf die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung nicht an. Warum problematisiert man das dann und warum ändert man dann gerade in der Sache seine Rechtsprechung. Das sieht ein wenig nach „Herr Lehrer, ich weiß was.“ aus. Zudem dürfte das LG die Frage der Beschwerdebefugnis wohl nicht richtig entschieden haben. Denn: Warum geht man nicht den Weg der Auslegung, den andere Gerichte gegangen sind und sieht die sofortige Beschwerde als im Namen des Mandanten eingelegt an. Letztlich müsste man aber den genauen Wortlaut der Beschwerdeschrift kennen.

Beim AG Krefeld „erstaunt“ die Kürze der Begründung – gelinde ausgedrückt. Man kann dem Satz: „Zudem ist das Verfahren bereits eingestellt.“ entnehmen, dass das AG das Für und Wider erwogen und sich mit den für und gegen die rückwirkende Bestellung auseinandergesetzt hat. Oder doch nicht? Jedenfalls hat diese tiefschürfende Begründung das LG nicht davon abgehalten, sich mit dem Satz: „Die Kammer schließt sich auch in der Begründung den zutreffenden Erwägungen des mit der Beschwerde angegriffenen Beschlusses an.“ Man möchte schreien, wenn man es liest. Beides ist schlicht eine Unverschämtheit. Zumindest von einem LG als Beschwerdegericht sollte man mehr erwarten dürfen.

Pflichti I: Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung, oder: Voraussetzungen für einen Sicherungsverteidiger

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Ich stelle heute dann mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen vor. Im Moment ist an der „Front“ allesdings Ruhe, Ich heb nicht so viel Entscheidungen vorliegen wie noch vor einiger Zeit.

ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 26.06.2024 – StB 35/24 -, der sich noch einmal zur Entbindung des Pflichtverteidigers äußert. Es handelt sich um ein Verfahren in Zusammenhang mit der (versuchten) Erstürmung des Reichstagsgebäudes.

Der Vorsitzendes des OLG-Senats hatte den Antrag auf Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Dagegen die Beschwerde, die keinen Erfolg hatte. Der BGH führt aus:

„Die gemäß § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO statthafte, fristgerechte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. Der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Oberlandesgerichtssenats (§ 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO) hat den Antrag auf Aufhebung der Bestellung von Rechtsanwalt T. zu Recht abgelehnt. Weder ist das Vertrauensverhältnis zwischen diesem und dem Angeklagten endgültig zerstört, noch ist aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet (s. § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO). Auch im Übrigen besteht kein Anlass zur Aufhebung der Verteidigerbeiordnung gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO.

1. a) Nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO ist die Bestellung des Pflichtverteidigers aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Angeklagtem endgültig zerstört oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Angeklagten gewährleistet ist. Mit dieser am 13. Dezember 2019 in Kraft getretenen Vorschrift (BGBl. I S. 2128, 2130, 2134) sollten zwei von der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannte Fälle des Rechts auf Verteidigerwechsel normiert werden. Deshalb kann für die Frage, wann im Einzelnen eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu bejahen ist, auf die in dieser Rechtsprechung herausgearbeiteten Grundsätze zurückgegriffen werden (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 48). Danach ist anerkannt, dass Maßstab für die Störung des Vertrauensverhältnisses die Sicht eines verständigen Angeklagten und eine solche von diesem oder seinem Verteidiger substantiiert darzulegen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20, BGHR StPO § 143a Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 Aufhebung 2 Rn. 6 f. mwN).

b) Daran gemessen ergibt sich aus dem Vorbringen des Beschwerdeführers kein Grund für eine Rücknahme der Verteidigerbestellung. Aus den zutreffenden und auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens fortgeltenden Gründen der angefochtenen Entscheidung, auf die Bezug genommen wird, ist weder von einem endgültigen Vertrauensverlust auszugehen, noch ist das Vorliegen einer groben Pflichtverletzung erkennbar (§ 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO). Ergänzend ist nur Folgendes auszuführen:

aa) Es ist schon nicht ersichtlich, dass die behauptete Unkenntnis des Angeklagten von seiner Kostentragungspflicht für die angefallenen Pflichtverteidigergebühren eine grobe Pflichtverletzung von Rechtsanwalt T. darstellt. Hinzu kommt, dass der Angeklagte Rechtsanwalt T. zuvor selbst bevollmächtigt hatte. Dem Angeklagten war damit bewusst, dass er für dessen Tätigkeit als Wahlverteidiger honorarpflichtig ist. Die nachfolgende Beiordnung wurde sodann mit Zustimmung des Angeklagten vorgenommen. Hierdurch ist er auch vor dem Hintergrund nicht beschwert, dass er etwaig zu einem späteren Zeitpunkt mit den Kosten des Pflichtverteidigers belastet wird (vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2023 – StB 27/23).

bb) Der weiterhin behauptete Umstand, Rechtsanwalt T. habe hohe Honorarforderungen gestellt und seine Tätigkeiten als Wahlverteidiger später überhöht abgerechnet, begründet weder einen Vertrauensverlust noch eine grobe Pflichtverletzung. Zwar kommt die Zurücknahme der Beiordnung wegen einer Störung des Vertrauensverhältnisses in Betracht, wenn der Pflichtverteidiger den Angeklagten ungeachtet dessen erklärter Ablehnung wiederholt bedrängt, eine schriftliche Vereinbarung über ein Honorar abzuschließen, das die gesetzlichen Gebühren um ein Mehrfaches übersteigen würde, und hierbei zum Ausdruck bringt, ohne den Abschluss dieser Vereinbarung sei seine Motivation eingeschränkt, für den Angeklagten tätig zu werden (vgl. KG, Beschluss vom 23. Januar 2012 – 4 Ws 3/12, StV 2013, 142, 143; KK-StPO/Willnow, 9. Aufl., § 143a Rn. 12). Indes ist dem Vortrag des Angeklagten bereits ein derartiges pflichtwidriges Verhalten von Rechtsanwalt T. nicht zu entnehmen. Dessen Honorarforderungen standen zudem im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit als Wahlverteidiger und lagen zeitlich vor seiner Bestellung zum Pflichtverteidiger.

cc) Ferner rechtfertigen die vom Angeklagten vorgetragenen Umstände zum Schließfach in der Sch. nicht die Rücknahme der Beiordnung von Rechtsanwalt T. . Dass sich dieser zumindest vorübergehend gehindert sah, auf Wunsch des Angeklagten und seines Wahlverteidigers den Schlüssel für das Schließfach an den Sohn des Angeklagten auszuhändigen, erscheint in der konkreten Konstellation vertretbar. Im Übrigen gibt es keinen Anhalt dafür, dass der Pflichtverteidiger von der Unrichtigkeit seiner Angaben überzeugt war, das Schließfach sei von den Ermittlungsbehörden aufgebohrt worden.

2. Die Bestellung von Rechtsanwalt T. zum Pflichtverteidiger ist auch nicht gemäß § 143a Abs. 1 Satz 1 StPO aufzuheben, weil der Angeklagte mit Rechtsanwalt Dr. S. einen anderen Verteidiger gewählt hat. Denn es begegnet keinen durchgreifenden Bedenken, dass der zur Entscheidung berufene Vorsitzende des mit der Sache befassten Staatsschutzsenats des Oberlandesgerichts die Aufrechterhaltung der Beiordnung von Rechtsanwalt T. als Pflichtverteidiger gemäß § 143a Abs. 1 Satz 2 StPO aus den Gründen des § 144 StPO weiterhin für erforderlich gehalten hat.

a) Nach § 144 Abs. 1 StPO können in Fällen der notwendigen Verteidigung einem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei weitere Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, „wenn dies zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“. Von einer solchen Notwendigkeit ist auszugehen, wenn sich die Hauptverhandlung voraussichtlich über einen besonders langen Zeitraum erstreckt und zu ihrer regulären Durchführung sichergestellt werden muss, dass auch bei dem Ausfall eines Verteidigers weiterverhandelt werden kann, oder der Verfahrensstoff so außergewöhnlich umfangreich oder rechtlich komplex ist, dass er nur bei arbeitsteiligem Zusammenwirken mehrerer Verteidiger in der zur Verfügung stehenden Zeit durchdrungen und beherrscht werden kann (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. März 2024 – StB 19/24, NStZ-RR 2024, 178, 179; vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 12; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 16; vom 31. August 2020 – StB 23/20, BGHSt 65, 129 Rn. 14 mwN; s. auch BT-Drucks. 19/13829 S. 49 f.).

Bei der Entscheidung über die Bestellung eines Sicherungsverteidigers kommt dem hierzu gemäß § 142 Abs. 3 StPO berufenen Richter ein nicht voll überprüfbarer Beurteilungs- und Ermessensspielraum zu. Dessen Beurteilung, dass die Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens die Beiordnung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erfordert, kann das Beschwerdegericht daher nur beanstanden, wenn sie sich nicht mehr im Rahmen des Vertretbaren hält; anderenfalls hat es sie hinzunehmen (vgl. zur Fallkonstellation der Ablehnung der Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers BGH, Beschlüsse vom 5. Mai 2022 – StB 12/22, juris Rn. 8, 13; vom 24. März 2022 – StB 5/22, NStZ 2022, 696 Rn. 18).

b) Gemessen daran ist gegen das Vorgehen des Vorsitzenden nichts zu erinnern. Zwar fehlt es an einer ausdrücklichen Erörterung des § 144 StPO in den Gründen des angefochtenen Beschlusses. Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich jedoch, dass der Vorsitzende die Verfahrenssicherung im Blick gehabt und nach den dargelegten Maßstäben keinen Anlass gesehen hat, Rechtsanwalt T. zu entpflichten. Der Vorsitzende ist im Rahmen der Beurteilung des Entpflichtungsgrundes nach § 143a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StPO auf entsprechende sachliche Gesichtspunkte eingegangen. Seine daraus hervorgehende Wertung, die Rechte des Angeklagten an einer effektiven Verteidigung (s. Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK) geböten aufgrund des außergewöhnlich umfangreichen und schwierigen Verfahrens die Bestellung von zwei Pflichtverteidigern neben dem Wahlverteidiger, überschreitet den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum nicht und ist frei von Ermessensfehlern.“

Hatten wir alles schon mal.