Berufung II: Berufungsverwerfung wegen Ausbleibens, oder: (Kein) ausgewiesener/abgeschobener Angeklagter

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Und die zweite Entscheidung zur Berufung kommt dann auch aus Byern. In dem BayObLG, Beschl. v. 28.12.2023 -204 StRR 548/23 – nimmt das BayObLG zur Frage der Rechtmäßigkeit einer Berufungsverwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO Stellung.

Das AG hat den Angeklagten, einen kosovarischen Staatsangehörigen, wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung hat das LG im Hauptverhandlungstermin am 14.06.2023 ohne Verhandlung zur Sache verworfen, da der Angeklagte ohne Entschuldigung ausgeblieben und auch nicht durch einen mit nachgewiesener Vertretungsvollmacht versehenen Verteidiger vertreten worden sei. Das LG führt aus, dass die dem Angeklagten im Rechtshilfeweg am 26.04.2023 ordnungsgemäß zugestellte Ladung zum Hauptverhandlungstermin am 14.06.2023 mit dem Hinweis versehen war, dass der Angeklagte mit der gerichtlichen Ladung bei der Deutschen Botschaft ein Visum für die Einreise zur Wahrnehmung der Berufungshauptverhandlung beantragen und erhalten könne. Die Bearbeitungs- und Versandzeit für das Visum betrage nach den Bekanntmachungen auf der Homepage der Deutschen Botschaft in Pristina aktuell bis zu drei Wochen ab Antragstellung. Der Angeklagte hätte also genügend Zeit (sieben Wochen) gehabt, ein Visum zu beschaffen.

Dagegen die Revision, die das BayObLG verworfen hat. Auch hier stelle ich nur die Leitsätze ein, da die Bayern – wie gehabt – sehr umfangreich begründet haben:

    1. Wird mit der Revision gegen ein gemäß § 329 Abs. 1 StPO ergangenes Verwerfungsurteil geltend gemacht, dieses gehe zu Unrecht davon aus, dass ein Angeklagter nicht genügend entschuldigt gewesen sei und dass die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO sonst nicht gegeben waren, setzt die Überprüfung der vom Landgericht vorgenommenen Wertung die Erhebung einer der Vorschrift des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge voraus. An die Zulässigkeit der Rüge einer Verletzung des § 329 StPO dürfen allerdings keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden. Es kann der Vortrag genügen, dass sich der Angeklagte bereits vor Erlass des Verwerfungsurteils auf die von ihm geltend gemachten Entschuldigungsgründe berufen habe.
    2. Dem Senat obliegt im Revisionsverfahren die Prüfung, ob das Landgericht den Rechtsbegriff der „genügenden Entschuldigung“ i.S.d. § 329 Abs. 1 StPO zutreffend seiner Entscheidung zugrunde gelegt und gewürdigt hat. Das Ausbleiben eines Angeklagten ist entschuldigt, wenn ihm bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles daraus billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann.
    3. Einem Angehörigen der Republik Kosovo, der aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden war, ist es zumutbar, zur Wahrnehmung eines Hauptverhandlungstermins bei der zuständigen Deutschen Botschaft ein Visum zu beantragen.
    4. Dagegen ist das Ausbleiben eines Angeklagten, der ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, genügend entschuldigt, da dieser sich strafbar machen würde, wenn er erneut in das Bundesgebiet einreist und ihm zuvor keine Ausnahmeerlaubnis zur Wiedereinreise erteilt worden ist. In diesem Fall ist es Sache der Strafverfolgungsbehörden, in Absprache mit der Verwaltungsbehörde zu klären, ob der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs oder dem öffentlichen Interesse an einem Aufenthalt des Ausländers außerhalb des Bundesgebietes der Vorrang einzuräumen ist.
    5. Die unter Ziffer IV. dargestellte Rechtslage ist auf die Fallkonstellationen gemäß Ziffer III. nicht übertragbar.

Ist m.E. wohl zutreffend. Allerdings frage ich mich mal wieder, warum man als „offensichtlich unbegründet“, dann aber aus rund 11 Seiten die Verwerfung begründet. Aber richtig ist es, und zwar allein schon deshalb, weil unser Handbuch zitiert wird. Wenn die „schlauen Bayern“ da nachschauen, kann es so schlecht nicht sei. Und ja <<Werbemodus an>>: Das kann man hier bestellen.

Berufung I: Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung, oder: Konkludente Zustimmungserklärung

Daumen

Heute gibt es dann StPO-Entscheidungen. Alle drei Entscheidungen stammen von OLG und alle drei behandeln Fragen in Zusammenhang mit der Berufung.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 01.12.2023 – 204 StRR 527/23. Der Beschluss enthält nichts wesentlich Neues, fasst aber die Fragen betreffend Berufungsbeschränkung noch einmal schon zusammen. Hier reichen daher die Leitsätze:

1. Die Wirksamkeit einer Rechtsmittelbeschränkung ist von Amts wegen zu prüfen; der Erhebung einer Verfahrensrüge bedarf es nicht.

2. Nach § 303 StPO kann die Zurücknahme des Rechtsmittels nach Beginn der Hauptverhandlung nur mit Zustimmung des Rechtsmittelgegners erfolgen; gleiches gilt für eine Rechtsmittelbeschränkung. Diese Zustimmungserklärung kann auch konkludent abgegeben werden.

3.  Eine zulässige Berufungsbeschränkung – hier auf den Rechtsfolgenausspruch – setzt zunächst voraus, dass der nach dem Willen des Rechtsmittelführers neu zu verhandelnde Entscheidungsteil losgelöst vom übrigen Urteilsinhalt selbständig geprüft und beurteilt werden kann, und erfordert sodann, dass der nicht angegriffene Teil der Vorentscheidung so festgestellt und bewertet ist, dass er – unabänderlich und damit bindend geworden – eine hinreichend tragfähige Grundlage für eine eigenständige Entscheidung des Berufungsgerichts zu bieten vermag.

4. Hat das Amtsgericht einen Sachverhalt festgestellt, der eine Verurteilung nach § 241 Abs. 1 StGB trägt und den Schuldumfang ausreichend erkennen lässt, ist es dem Berufungsgericht deshalb verwehrt, zum Nachteil des Angeklagten ergänzende Feststellungen zu § 241 Abs. 2 StGB zu treffen.

5. Bei dem Tatvorwurf eines vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis nach § 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG ist – ebenso wie bei dem Tatvorwurf einer fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr nach § 316 Abs.1 und 2 StGB – die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch wirksam, wenn das angegriffene Urteil Feststellungen zu Tatzeit und Tatort, zu dem verwendeten Kraftfahrzeug sowie zum Fehlen der erforderlichen Fahrerlaubnis und zu einem wissentlichen Handeln des Angeklagten enthält; zu Dauer, (beabsichtigter) Länge und sonstigen Gegebenheiten der Fahrt, zu den Motiven der Tat und zu den Umständen der Alkoholaufnahme können dagegen ergänzende Feststellungen getroffen werden, sofern sie zu den bereits getroffenen Feststellungen nicht in Widerspruch stehen.

6. Hat das Gericht zur Schuldfähigkeitsbeurteilung und zur Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung ein Sachverständigengutachten erholt, muss es die wesentlichen Anknüpfungspunkte und Darlegungen des Sachverständigen im Urteil so wiedergegeben, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit erforderlich ist.

7. Zur Prüfungsreihenfolge bezüglich der Voraussetzungen der §§ 20, 21 StGB.

Aus den Beschlussgründen greife ich nur die Ausführungen zur Zustimmung (oben Leitsatz 2) heraus. Dazu führt das BayObLG aus:

„2. Eine wirksame Erklärung der Berufungsbeschränkung liegt vor.

Nach § 303 StPO kann die Zurücknahme des Rechtsmittels nach Beginn der Hauptverhandlung nur mit Zustimmung des Rechtsmittelgegners erfolgen. Die Vorschrift gilt auch für die Rechtsmittelbeschränkung (Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., § 303 Rn. 1 m. w. N.). Vorliegend hatte die Hauptverhandlung bereits begonnen (§§ 324 Abs. 1, 243 Abs. 1 StPO), als der Angeklagte und der Verteidiger die Rechtsmittelbeschränkung erklärten.

Das Protokoll verhält sich zu einer Zustimmung des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft nicht. Dadurch wird indes nur bewiesen, dass dieser keine ausdrückliche Zustimmung erklärt hat (vgl. insoweit OLG Hamm, Beschluss vom 13.10.2009 – 3 Ss 422/09 –, juris Rn. 10; KK-StPO/Paul, 9. Aufl. 2023, StPO § 303 Rn. 4).

Da die Zustimmungserklärung aber formfrei ist, kann sie auch konkludent abgegeben werden, was insbesondere dann nahe liegt, wenn dem Rechtsmittelgegner (in den entschiedenen Fällen: dem Angeklagten) durch die Rücknahme nur Vorteile erwachsen (OLG Hamm, NJW 1969, 151) bzw. sicher ist, dass der Rechtsmittelgegner die Beschränkung/Rücknahme zur Kenntnis genommen hat, ihm Bedeutung und Tragweite bewusst sind und sein weiteres Prozessverhalten keine Anhaltspunkte dafür bietet, dass er mit der Beschränkung nicht einverstanden sein könnte (OLG Düsseldorf, MDR 1976, 1040, 1041; OLG Stuttgart, Beschluss vom 06.02.1990 – 3 Ss 562/89 –, juris Rn. 7). Ob eine konkludente Zustimmung zur (teilweisen) Rechtsmittelrücknahme (Rechtsmittelbeschränkung) erteilt wurde, ist gegebenenfalls im Freibeweisverfahren aufzuklären (OLG Hamm, NJW 1969, 151; OLG Hamm, Beschluss vom 13.10.2009 – 3 Ss 422/09 –, juris Rn. 11; KK-StPO/Paul, a. a. O., § 303 Rn. 4).

Vorliegend ist hier darauf abzustellen, dass der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft nach der Rechtsmittelbeschränkung durch den Angeklagten und seinen Verteidiger in der Berufungshauptverhandlung auf die Vernehmung der zur Sachverhaltsaufklärung geladenen und anwesenden Zeugen verzichtete. Im Schlussvortrag sowohl des Verteidigers als auch des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft wurden nur Anträge zu den Rechtsfolgen gestellt. Insoweit ist von einer konkludenten Zustimmung des Rechtsmittelgegners, hier der Staatsanwaltschaft, zu einer Teilrücknahme des Rechtsmittels auszugehen.

StGB III: (Erst) Beisetzung einer leeren Schmuckurne, oder: Aschekapsel später ==> Störung der Totenruhe?

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Und als letzte Entscheidung dann der OLG Oldenburg, Beschl. v. 29.01.2024 – 1 ORs 258/23. Die Entscheidung hätte auch in einer Rubrik „Kurioses“ veröffentlicht werden können. Denn es handelt sich um einen zumindest nicht alltäglichen Fall, nämlich um die Frage der Störung der Totenruhe, wenn der Bestatter (zunächst) nur eine leere Schmuckurne beisetzt,

Folgender Sachverhalt:

„1, Nach den bezüglich der Verurteilung des Angeklagten getroffenen Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte im maßgeblichen Zeitraum als Mitgeschäftsführer in der Firma BB GmbH tätig. Die Zeugin CC, gegen die ebenfalls ein nach Zahlung einer Geldauflage eingestelltes Ermittlungsverfahren geführt worden ist, absolvierte dort eine Ausbildung zur Bestattungsfachkraft.

Am 18. März 2019 übernahm die Zeugin die Betreuung des Sterbefalles DD, der am TT. MM 2019 verstorben war, und führte das Trauergespräch mit den Hinterbliebenen. Diese wünschten eine Trauerandacht mit Sarg in der Friedhofskapelle, die Einäscherung des Verstorbenen und eine Urnenbeisetzung im Familienkreis auf dem EE Friedhof in Ort2. Als Termine wurden für die Trauerandacht der 27. März 2019 und für die Urnenbeisetzung der 15. April 2019, 11:00 Uhr vereinbart. Zudem wählten die Hinterbliebenen eine im Bestattungshaus vorrätige Schmuckurne aus, die von der Zeugin zunächst auf einem Bord im Sarglager abgestellt wurde. Nach Durchführung der Trauerfeier war die Kremierung des Leichnams durch die FF GmbH in Ort3 vorgesehen.

Etwa zwei Stunden vor dem geplanten Termin für die Urnenbeisetzung wurde der Zeugin durch einen Mitarbeiter des Krematoriums mitgeteilt, dass die Einäscherung noch nicht erfolgt sei, weil die dafür notwendige Sterbeurkunde – offenbar aufgrund einer technischen Störung beim Faxversand durch das Bestattungsunternehmen – noch nicht vorliege. Der Zeugin, der klar war, dass die Urnenbestattung an diesem Tag nicht würde stattfinden können und die deshalb beabsichtigte, die Angehörigen über die notwendige Verschiebung des Termins zu informieren, wandte sich deswegen an den Angeklagten. Dieser forderte die Zeugin auf, die Sache anders zu regeln. Die Urnenbeisetzung solle wie geplant stattfinden. Die Aschekapsel solle dann nachträglich in die Schmuckurne, die er zu diesem Zwecke nachts auf dem Friedhof ausgraben werde, eingesetzt werden. Auf die Frage der Zeugin, wie mit der leeren Schmuckurne zu verfahren sei, nahm der Angeklagte diese an sich. Kurze Zeit später kehrte er mit der verschlossenen, wie sich später herausstellte vorwiegend mit Sand gefüllten Schmuckurne zurück und übergab sie der Zeugin. Sodann begab sich die Zeugin zum EE Friedhof in Ort3 und führte dort mit den Angehörigen die Beisetzung der Schmuckurne durch.

Nachdem am 18. April 2019 die Aschekapsel zusammen mit einer Einäscherungsbescheinigung vom 16. April 2019 eingetroffen war, legte die Zeugin diese entgegen der Übung, wonach Schmuckurnen und Aschekapseln bis zur Beisetzung im Sarglager aufbewahrt wurden, in einen Schrank in ihrem Büro. Die Hinterbliebenen, die die Asche des Verstorbenen in der Grabstelle wähnten, wurden hiervon nicht in Kenntnis gesetzt. In der Folgezeit trat die Zeugin wegen des nachträglichen Einsetzens der Aschekapsel mehrfach an den Angeklagten heran, der die Zeugin indes hinhielt und untätig blieb.

Die Aschekapsel wurde erst Ende September 2019 nach dem Ausscheiden der Zeugin aus dem Betrieb aufgefunden. Nachdem die Zeugin sich gegenüber dem Mitgeschäftsführer GG offenbart und dieser die Polizei informiert hatte, wurde die Schmuckurne auf dem Friedhof ausgegraben und untersucht, wobei sich deren Befüllung mit vorwiegend Sand, daneben auch einer geringen Beimengung von Rückständen aus einer Kremation, ergab. Die im Schrank der Zeugin vorgefundene Aschekapsel wurde sodann am 29. November 2019 auf Kosten des Bestattungsunternehmens nachträglich beigesetzt.“

Das AG hatte den Angeklagten deswegen wegen Anstiftung zur Störung der Totenruhe und wegen Beihilfe zur Störung der Totenruhe verurteilt. Auf die hiergegen eingelegten Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft hat das LG den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Anstiftung zur Störung der Totenruhe zu einer reduzierten Geldstrafe verurteilt:

„3. Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten zutreffend als Anstiftung zur Störung der Totenruhe gemäß §§ 168 Abs. 1 Alt. 1, 26 StGB gewertet.

Die Zeugin CC hat durch ihr Handeln, zu dem sie durch den Angeklagten bestimmt worden ist, unbefugt die Asche eines verstorbenen Menschen aus dem Gewahrsam des Berechtigten weggenommen.

a) Gewahrsam des Berechtigten im Sinne von § 168 Abs. 1 Alt. 1 StGB setzt nicht ungehinderte tatsächliche Herrschaft voraus (vgl. KG, Beschluss v. 20.11.1989, 4 Ws 80/89, bei juris Rz. 8). Vielmehr ist der Begriff des Gewahrsams durch die Konnotation mit dem „Berechtigten“ normativ gebunden (Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen-Stübinger, StGB, 5. Aufl., § 168 Rz. 8). Die Definition des Gewahrsams im Sinne von § 168 Abs. 1 Alt. 1 StGB kann daher nicht völlig mit dem (Sach-)Gewahrsam der §§ 242, 246 StGB gleichgesetzt werden. Gemeint ist in § 168 StGB die Obhut über die Leiche im Sinne eines Aufsichts- oder Bewachungsverhältnisses. Auch im Anwendungsbereich des § 168 StGB setzt dieser aber ein tatsächliches Obhutsverhältnis voraus, das über die bloße Berechtigung zur Totensorge hinausgeht und jedenfalls die faktische Möglichkeit eröffnet, über den Leichnam bzw. die anderen Tatobjekte – etwa die Asche des Verstorbenen – zu disponieren (vgl. LK-Radtke, StGB, 13. Aufl., § 168 Rz. 26; MüKo-Hörnle, StGB § 168 Rz. 13).

Hiervon ausgehend liegt jedenfalls Mitgewahrsam im Sinne des § 168 Abs. 1 Alt. 1 StGB vor, wenn der Leichnam in der Leichenhalle aufgebahrt ist (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss v. 29.11.1974, 2 Ws 239/74, NJW 1975, 271). Gleiches gilt in Bezug auf die Leiche und die Asche des Verstorbenen auch bei einer Überführung in ein Krematorium (vgl. OLG Bamberg, Urteil v. 29.01.2008, 2 Ss 125/07, bei juris Rz. 42).

Vor diesem Hintergrund ist das Landgericht zutreffend von dem Bestehen eines Mitgewahrsams der totensorgeberechtigten Angehörigen des Verstorbenen DD ausgegangen.

b) Die Strafkammer hat auch zu Recht eine Wegnahme im Sinne des § 168 Abs. 1 Alt. 1 StGB bejaht.

Die Wegnahme ist mit dem Bruch des Gewahrsams des Berechtigten vollendet, also sobald dessen tatsächliches Aufsichts- oder Bewachungsverhältnis aufgehoben wird. Auf eine Begründung eines neuen Gewahrsams kommt es nicht an (vgl. LK-Radtke, StGB, 13. Aufl., § 168 Rz. 34). Dabei setzte die Aufhebung des Gewahrsams ebenso wie bei § 242 StGB begrifflich jedoch ein Handeln gegen oder ohne Willen des zum Gewahrsam Berechtigten, der tatsächlich auch den Gewahrsam ausübt, voraus (vgl. LK-Radtke, a.a.O. Rz. 23). Da auch der Bruch von (zumindest gleichrangigem) Mitgewahrsam ausreicht, machen sich auch Angestellte des vom Totensorgeberechtigten beauftragten Bestattungsunternehmens strafbar, wenn sie den Leichnam bzw. die Asche oder Teile davon entfernen (MüKo-Hörnle, StGB, 4. Aufl., § 168 Rz. 17).

Dabei ist im Hinblick auf den normativen, maßgeblich auf den aus dem Obhutsverhältnis abgeleiteten Gewahrsamswillen abstellenden Gewahrsamsbegriff des § 168 StGB nicht maßgeblich, ob und wann die Asche des Verstorbenen tatsächlich – vorliegend etwa durch Verbringen der Asche in den Schrank im Büro der Zeugin – der faktischen Zugriffsmöglichkeit der Totensorgeberechtigten entzogen worden ist. Vielmehr ist entscheidend, wann diese einen entsprechenden Gewahrsamswillen aufgegeben und ob sie dies aus freien Stücken getan haben. Dabei gilt Entsprechendes wie für die Abgrenzung des in Bezug auf den Gewahrsamsbegriff engeren Diebstahlstatbestand zum Betrug. Hier ist anerkannt, dass die Annahme einer Vermögensverfügung in Gestalt einer Duldung nur dann in Betracht kommt, wenn auch die Verschaffung von Alleingewahrsam durch den Täter noch von einem freien, der Handlung des Täters zustimmenden Willen des durch Täuschung zur Einräumung von Mitgewahrsam veranlassten Opfers getragen wird. Findet der Ausschluss des Berechtigten von der faktischen Sachherrschaft ohne oder gegen dessen Willen statt, liegt Wegnahme vor (vgl. BGH, Urteil vom 17.12.1986, 2 StR 537/86, bei juris Rz. 5).

Vorliegend hatten die Totensorgeberechtigten aber nach den Feststellungen überhaupt keine Kenntnis davon, dass mit der Beisetzung der von ihnen ausgewählten Schmuckurne nicht ihr bislang bestehender Mitgewahrsam am Körper des Verstorbenen – nunmehr zusammen mit der Friedhofsverwaltung (vgl. MüKo-Hörnle, StGB, 4. Aufl., § 168 Rz. 13; Kindhäuser/Neumann/ Paeffgen-Stübinger, StGB, 5. Aufl., § 168 Rz. 9) – fortgesetzt werden sollte, sondern stattdessen der Leichnam des Verstorbenen sich noch im Krematorium befand und die Asche nach Durchführung der Kremierung zumindest vorübergehend in den Räumlichkeiten des Bestattungsinstituts verbleiben sollte. Ihr Gewahrsamswille bezog sich nunmehr allein auf den Inhalt der beigesetzten Schmuckurne. Eine freiwillige Aufgabe der den Gewahrsam im Sinne des § 168 Abs. 1 Alt. 1 StGB kennzeichnenden Dispositionsbefugnis in Bezug auf Leichnam und Asche des Verstorbenen und damit angesichts der gebotenen normativen Betrachtung des Mitgewahrsams im Sinne dieser Vorschrift (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss v. 29.11.1974, 2 Ws 239/74, NJW 1975, 271) lag damit nicht vor.

c) Da die Zeugin CC als Auszubildende auf Anweisung des Angeklagten handelte, der als Geschäftsführer ihr gegenüber weisungsbefugt war, hat der Angeklagte sie auch im Sinne von § 26 StGB zu der Tat bestimmt.

d) Dass eine Vollendung der Tat bereits mit der Beisetzung der vermeintlich die Asche des Verstorbenen enthaltenden Schmuckurne und nicht – wie vom Landgericht angenommen – erst mit der nachfolgenden Aufbewahrung der Asche im Bestattungsunternehmen eingetreten ist, steht einer Aufrechterhaltung des Schuldspruchs nicht entgegen. Die prozessuale Tatidentität wird dadurch nicht berührt; dass der Angeklagte sich anders als geschehen verteidigt hätte, ist nicht erkennbar.“

StGB II: Ist erzwungener Oralverkehr Vergewaltigung?, oder: Entgegenstehenden Willen eindeutig geäußert?

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Die zweite Entscheidung, die ich vorstelle, behandelt eine Frage in Zusammenhang mit dem Vergewaltigungstatbestand (§ 177 StGB). Ich hatte die Entscheidung, den KG, Beschl. v. 27.12.2023 – 4 ORs 72/23 – 161 Ss 133/23 -, schon einmal vorgestellt, und zwar wegen der Ausführungen des KG zur Einheitsjugendstrafe (vgl. Strafe II: Zwei Entscheidungen aus dem Jugendrecht, oder: Schwere der Schuld und Einheitsjugendstrafe). 

Heute kommt der Beschluss also noch einmal, und zwar wegen der Ausführungen des KG zum materiellen Recht, nämlich zur Frage des Vorliegens einer Vergewaltigung. Konkret geht es darum, ob auch ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen kann. Das KG hat die Frage bejaht und sich eingehend mit der Porblematik auseinandergesetzt. Die Verteidigung war insoweit der Auffassung gewesen, ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter könne nicht unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen, da der Oralverkehr dessen aktives Handeln erfordere und damit stets dem natürlichen Willen des Opfers entspreche,

Dem hat sich das KG nicht angeschlossen. Ich stelle hier nur den Leitsatz des KG ein/vor. Den Rest bitte im verlinkten Volltext selbst lesen:

Auch ein Oralverkehr des Opfers an dem Täter kann unter § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB fallen. Es genügt für die Verwirklichung des § 177 Abs. 1 Var. 2 StGB, dass eine vor der Tathandlung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung des Opfers so nachhaltig ist, dass sie die Kraft hat, den durch die Vornahme der sexuellen Handlung entstehenden Eindruck der „Freiwilligkeit“ zu überwinden. Die Beweiswürdigung hat sich in diesen Fällen besonders sorgfältig mit dem gewichtigen Umstand auseinanderzusetzen.

StGB I: Ein wuchtiger Fausthieb in das obere Gesicht, oder: Eine das Leben gefährdende Behandlung

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Und heute dann drei StGB-Entscheidung.

Den Opener mache ich hier mit dem BGH, Urt. v. 25.01.2024 – 3 StR 157/23 -, das sich mal wieder zum Vorliegen eine gefährlichen Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB bei einem wuchtigen Faustschlag auf den Kopf äußert.

Es geht darum, dass der Angeklagte dem Nebenkläger bei einem Streit einen derart wuchtigen Fausthieb in die rechte obere Gesichtshälfte versetzt hat, dass dieser sofort und auf der Stelle bewusstlos zusammenbrach. Durch den Faustschlag erlitt der Nebenkläger mehrfache Knochenbrüche im Gesicht. Wegen der Befürchtung einer Hirnblutung wurde er intensivmedizinisch versorgt. Zudem musste er wiederholt operiert werden. Er trug Dauerschäden am rechten Auge davon, aufgrund derer er nicht mehr in der Lage ist, Abstände zutreffend einzuschätzen. Deshalb darf er in seinem – bislang ausgeübten – Beruf als Straßenbauer keine Maschinen mehr bedienen. Zudem leidet er unter Taubheitsgefühlen in der rechten Gesichtshälfte.

Das LG hat diese Tat (nur) als (vorsätzliche) Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB  gewertet. Dagegen die Revisionen von Staatsanwaltschaft und Nebenkläger, die Erfolg hatte. Der BGh führt in dem umfangreich begründeten Urteil, in dem er auch noch zu anderen Fragen Stellung genommen hat, zu diesem Angriff aus:

„Jedoch hat die Strafkammer hinsichtlich des wuchtigen Fausthiebes in die rechte obere Gesichtshälfte des Nebenklägers rechtsfehlerhaft lediglich eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen „einfacher“ (vorsätzlicher) Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1 StGB angenommen. Wie die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Nebenklägers zutreffend rügen, hat das Landgericht eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB nicht tragfähig verneint.

aa) Eine gefährliche Körperverletzung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erfordert nicht, dass das Opfer tatsächlich in Lebensgefahr gerät; jedoch muss die Einwirkung durch den Täter nach den Umständen generell geeignet sein, das Leben des Opfers zu gefährden. Maßgeblich ist danach die Schädlichkeit der Einwirkung auf den Körper des Opfers im konkreten Einzelfall (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 2022 – 2 StR 267/22, juris Rn. 9; vom 24. März 2020 – 4 StR 646/19, NStZ 2021, 107 Rn. 6 mwN; Urteil vom 31. Juli 2013 – 2 StR 38/13, NStZ-RR 2013, 342; Beschluss vom 16. Januar 2013 – 2 StR 520/12, NStZ 2013, 345; MüKoStGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 42; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 224 Rn. 12). Um die gegenüber der „einfachen“ Körperverletzung höhere Strafandrohung begründen zu können, kommt es maßgebend auf die Gefährlichkeit der Tathandlung, nicht aber auf die eingetretenen Verletzungen an.

Heftige Schläge gegen den Kopf des Opfers können eine das Leben gefährdende Behandlung sein, wenn sie nach der Art der Ausführung der Verletzungshandlungen im Einzelfall zu lebensgefährlichen Verletzungen führen können (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 2022 – 2 StR 267/22, juris Rn. 9; vom 7. Oktober 2021 – 6 StR 393/21, juris; Urteile vom 22. Januar 2015 – 3 StR 301/14, juris Rn. 6; vom 31. Juli 2013 – 2 StR 38/13, NStZ-RR 2013, 342; Beschlüsse vom 16. Januar 2013 – 2 StR 520/12, NStZ 2013, 345, 346; vom 11. Juli 2012 – 2 StR 60/12, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 Werkzeug 8; Urteil vom 6. Juni 2007 – 2 StR 105/07, juris Rn. 5; Beschluss vom 23. Juli 2004 – 2 StR 101/04, NStZ 2005, 156 Rn. 4; Urteile vom 8. März 1990 – 2 StR 615/89, BGHR StGB § 223a Abs. 1 Lebensgefährdung; vom 23. Juni 1964 – 5 StR 182/64, BGHSt 19, 352; MüKoStGB/Hardtung, 4. Aufl., § 224 Rn. 45). Dies gilt selbst für Schläge mit der bloßen Hand in das Gesicht oder gegen den Kopf, sofern Umstände in der Tatausführung oder individuelle Besonderheiten beim Opfer vorliegen, die das Gefahrenpotential der Handlung im Vergleich zu einer „einfachen” Körperverletzung deutlich erhöhen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 2022 – 2 StR 267/22, juris Rn. 11; vom 16. Januar 2013 – 2 StR 520/12, NStZ 2013, 345, 346). Insbesondere gilt dies für kräftige Fausthiebe gegen den Kopf, namentlich gegen die Schläfenregion (vgl. BGH, Urteil vom 31. Juli 2013 – 2 StR 38/13, NStZ-RR 2013, 342; Beschlüsse vom 20. Februar 2013 – 1 StR 585/12, BGHSt 58, 140 Rn. 18; vom 20. Juli 2010 – 5 StR 255/10, juris).

bb) Zwar hat die Strafkammer im Ausgangspunkt erkannt, dass Schläge mit der Faust gegen den Kopf im Einzelfall eine das Leben gefährdende Behandlung sein können. Zu Unrecht hat sie indes angenommen, die Beweisaufnahme habe hierfür keine Anhaltspunkte ergeben. Mit dieser Wertung hat das Landgericht das Ergebnis der Beweiserhebung nicht ausgeschöpft; in dieser Hinsicht ist die Würdigung der im Urteil dargelegten Beweisergebnisse lückenhaft. Die Urteilsgründe führen insofern lediglich an, zu einer zunächst befürchteten Hirnblutung beim Nebenkläger sei es nicht gekommen. Aus den Verletzungen lasse sich mithin ein erhöhtes Gefahrenpotential des Faustschlages nicht ableiten. Damit hat die Strafkammer den Blick zu Unrecht lediglich auf das Ausbleiben einer tatsächlich lebensbedrohlichen Hirnblutung gerichtet. Sie hat jedenfalls nicht hinreichend berücksichtigt, dass es für die rechtliche Einordnung einer Körperverletzungshandlung als eine das Leben gefährdende Behandlung nicht auf den eingetretenen Verletzungserfolg, sondern auf die grundsätzliche Geeignetheit der Tathandlung ankommt, im konkreten Fall lebensbedrohliche Verletzungen des Opfers zu bewirken. Deshalb hätte die Strafkammer in ihre Erwägungen einbeziehen müssen, dass der Nebenkläger aufgrund eines einzigen Fausthiebes in das Gesicht – und zwar zumindest in Nähe der rechten Schläfe – sogleich bewusstlos wurde und auf der Stelle zu Boden fiel. Dies deutet auf einen mit außergewöhnlich großer Kraft geführten Schlag hin. Ausweislich der Feststellungen der durch einen rechtsmedizinischen Sachverständigen beratenen Strafkammer kann ein derart wuchtiger Fausthieb ohne Weiteres Hirnblutungen und damit eine akut lebensbedrohliche Verletzung bewirken, weshalb das Tatopfer wegen der konkreten Befürchtung einer solchen Tatfolge, also wegen der Besorgnis akuter Lebensgefahr, zunächst intensivmedizinisch behandelt wurde. Die Strafkammer hat zudem die außerordentlich massiven weiteren Verletzungen des Nebenklägers nicht in den Blick genommen. Dieser erlitt durch den Faustschlag Brüche des Kiefers, des Jochbeins und des Nasenbeins. Er musste operiert werden, wobei ihm mehrere Metallplatten in den Kopf eingesetzt wurden. Über Monate konnte er keine feste Nahrung zu sich nehmen. Auch wenn diese schweren Verletzungen für sich genommen nicht lebensbedrohlich waren, so hätte doch ihre Indizwirkung für die Massivität der Einwirkung und damit deren generelle Eignung zur Lebensgefährdung berücksichtigt werden müssen. Hinzu kommt, dass der Nebenkläger aufgrund des Fausthiebes und der dadurch verursachten sofortigen Bewusstlosigkeit ungeschützt – nach einer Zeugenaussage „wie ein Baumstamm“ – zu Boden fiel und auf das Straßenpflaster aufschlug. Insofern wäre zu erwägen gewesen, ob das Tatgeschehen das Risiko in sich barg, dass der Nebenkläger sturzbedingt konkret lebensbedrohliche Verletzungen hätte erleiden können.

cc) Eine Schuldspruchänderung durch den Senat dahin, dass der Angeklagte aufgrund der Tat zum Nachteil des Nebenklägers der gefährlichen Körperverletzung gemäß § 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB schuldig ist, kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Strafkammer keine Feststellungen zum diesbezüglichen Vorstellungsbild des Angeklagten und damit zum Vorsatz hinsichtlich des Qualifikationsmerkmals einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB (vgl. insofern BGH, Beschlüsse vom 15. Februar 2023 – 4 StR 300/22, NStZ-RR 2023, 177; vom 20. Dezember 2022 – 2 StR 267/22, juris Rn. 15) getroffen hat.“