Archiv der Kategorie: Zivilrecht

Zustellung II: Wirksamkeit einer Ersatzzustellung, oder: Verkleben der Briefkastenklappe mit Silikon

entnommen wikimedia.org Urheber: Sarang

Der zweite Beschluss zur Zustellung stammt mit dem OLG Karlsruhe, Beschl. v. 10.10.2024 – 19 U 87/23 – aus dem Zivilrecht. Die Ausführungen des OLG passen aber auch für andere Verfahrensarten.

Das OLG führt zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung durch Einlegung in den Briefkasten in dem nach § 522 Abs. 2 ZPO ergangenen Beschluss aus:

2. Der Vollstreckungsbescheid ist im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen in den Briefkasten (§ 180 Satz 1 ZPO) wirksam zugestellt worden.

a) Nach den erstinstanzlich getroffenen Feststellungen, welche von der Berufung nicht in Zweifel gezogen werden, handelt es sich bei der Adresse M.-Str. 8 in O., unter welcher die Zustellung bewirkt wurde, nicht nur um den privaten Wohnsitz des Geschäftsführers der Beklagten, sondern auch um die – bei einer GmbH obligatorisch im Handelsregister einzutragende (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, 15.05.2024, GmbHG § 35 Rn. 186) – Geschäftsanschrift der Rechtsmittelführerin.

Wie sich aus § 35 Abs. 2 Satz 3 GmbHG ergibt, können an die Vertreter einer solchen Kapitalgesellschaft unter deren im Handelsregister eingetragenen Geschäftsanschrift Willenserklärungen abgegeben und Schriftstücke für die Gesellschaft zugestellt werden. Hierbei handelt es sich um eine unwiderlegliche gesetzliche Vermutung, dass die Vertreter der GmbH stets und jederzeit unter dieser Geschäftsadresse erreichbar sind (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, aaO, mwN).

Die abweichenden Ausführungen der Berufungsführerin sind ersichtlich von Rechtsirrtum beeinflusst. Entgegen deren Auffassung kommt es insbesondere nicht darauf an, dass kein besonderer mit dem Namen der Gesellschaft versehener Postbriefkasten angebracht war.

b) Dass der Vollstreckungsbescheid die Geschäftsadresse der Beklagten tatsächlich erreicht hat – darauf erstreckt sich die vorbezeichnete gesetzliche Vermutung nicht (vgl. BeckOGK/Bayer/J. Schmidt, aaO, § 35 Rn. 189 mwN) – wird auch vom Rechtsmittelführer nicht in Abrede gestellt; abgesehen davon wird dies durch den Inhalt der Zustellungsurkunde, der die Beweiskraft des § 418 ZPO zukommt, belegt.

c) Ferner muss von einer ordnungsgemäßen Ersatzzustellung des Vollstreckungsbescheids durch Einlegen in den – mit dem Nachnamen des Geschäftsführers der Beklagten beschrifteten – Briefkasten, der an der Geschäftsanschrift der Rechtsmittelführerin angebracht war, nach § 180 ZPO ausgegangen werden.

Zwar fehlt es an einem zur Wohnung oder zum Geschäftsraum gehörenden Briefkasten im Sinne der vorgenannten Bestimmung, wenn dieser überquillt, zugeklebt ist oder sich sonst in einem nicht ordnungsgemäßen Zustand befindet, aus dem erkennbar wird, dass er nicht benutzt wird (vgl. Zöller/Schultzky, ZPO, 35. Auflage 2024, § 180 Rn. 5 mwN). Eine derartige Feststellung lässt sich aber nicht treffen: Soweit die Beklagte geltend macht, ihr Geschäftsführer habe den Briefkasten mit Silikon verklebt (gehabt), steht dieser Darstellung gerade entgegen, dass ihrem eigenen Vorbringen zufolge gleichwohl das zugestellte Schriftstück in den Briefkasten hat eingelegt werden können.

Außerdem vermag sie keinen – nach § 418 Abs. 2 ZPO ihr obliegenden – Beweis dafür anzutreten, dass der Briefkasten zum Zeitpunkt der Zustellung unzugänglich oder zur sicheren Aufnahme von Schriftstücken ungeeignet gewesen wäre. Für die von der Berufung beantragte Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass der „extrem starke Verschluss … der Briefkastenklappe mit Silikon … nur mittels erheblichster Krafteinwirkung auf die Briefkasteneinwurfklappe“ habe überwunden werden können, bleibt kein Raum. Denn es fehlt an Anknüpfungstatsachen, welche den – angeblichen – Ausgangszustand, der auch nach Darstellung der Beklagten mittlerweile nicht mehr vorliegt, und die konkrete Ausführung der behaupteten Maßnahme belegen könnten.

3. Die Beklagte konnte auch nicht ohne Verschulden (§ 233 Satz 1 ZPO) annehmen, dass Zustellungen in den mit dem Namen ihres Geschäftsführers gekennzeichneten Postbriefkasten an ihrer Geschäftsanschrift nicht erfolgen werden. Dem Wiedereinsetzungsgesuch der Berufungsführerin kann – unabhängig von den zutreffenden Erwägungen, welche das Landgericht diesbezüglich angestellt hat – schon deshalb nicht entsprochen werden, weil ihre diesbezügliche Darstellung im Rahmen tatrichterlicher Würdigung nicht als wahrscheinlich im Sinne der §§ 294, 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO eingestuft werden kann, auch wenn die Beklagte eine entsprechende eidesstattliche Versicherung ihres Geschäftsführers vorgelegt hat. Insbesondere folgende Umstände wecken daran erhebliche Zweifel:

a) Gerade in Anbetracht der in der eidesstattlichen Versicherung ihres Geschäftsführers enthaltenen Angaben („Alle Briefe für die T. GmbH wurden und werden von den Postzustellern regelmäßig immer in das von T. GmbH angemietete Postfach Nummer 13 in O. eingelegt. Es hat sich auch eingespielt, daß private Post von A. W. in das Postfach Nummer 13 gelegt wurde und gelegt wird.“) leuchtet nicht ein, weshalb an dem – angeblich nicht mehr benötigten und daher gänzlich überflüssig gewordenen – Briefkasten, sieht man schon von einer Demontage desselben ab, im Zuge des behaupteten Verklebens der Einwurf-Klappe nicht auch das Namensschild entfernt worden war, was unter den behaupteten Umständen auf der Hand gelegen hätte und mit keinerlei Aufwand verbunden gewesen wäre.

b) Zu Recht hebt die Klägerin in ihrer Berufungsantwort hervor, hätte die Beklagte ein Postfach angemietet, wäre zu erwarten gewesen, dass sich wenigstens auf deren Homepage (www.pp.de) ein diesbezüglicher Hinweis finden lasse, was aber nicht der Fall ist.

4. Unabhängig davon wäre das Vorbringen der Berufungsführerin – auch wenn man ihm Glauben schenken würde – nicht geeignet, ihr Verschulden an der Versäumung der Einspruchsfrist entfallen zu lassen. Denn ihrem Geschäftsführer fällt, unterstellt man – was aus den oben aufgezeigten Gründen abzulehnen ist – ihr Vorbringen als wahr, insoweit zumindest eine Nachlässigkeit zur Last, die sie sich zurechnen lassen muss.

Dass der Briefkasten jedenfalls bis Mitte Dezember 2022 als Empfangsvorrichtung zumindest für private Post ihres Geschäftsführers genutzt worden war, steht außer Frage. Sollte dieser Mitte Dezember 2022 Bemühungen unternommen haben, die Einwurf-Klappe des Briefkastens mit Silikon zu verkleben, wäre er in Anbetracht dessen, dass das Namensschild nicht entfernt wurde – damit wurde Außenstehenden gegenüber zumindest der visuelle Anschein erzeugt, dass dieser, wie zuvor, weiterhin als Empfangsvorrichtung dienen sollte – gehalten gewesen, die Haltbarkeit und den Erfolg seiner diesbezüglichen Anstrengungen regelmäßig zu überprüfen, was die Beklagte aber selbst nicht einmal behauptet. Abgesehen davon, dass allein schon witterungsbedingte Einflüsse zu einer erheblichen Lockerung der behaupteten – von einem Fachmann nicht überprüften – Festigkeit der (ursprünglichen) Klebeverbindung beigetragen haben können, ist nicht auszuschließen, dass ein Zusteller unter Aufbietung einer gewissen Kraftentfaltung die Klappe öffnete, weil er eine bloße Schwergängigkeit derselben vermutete und für ihn – insbesondere wegen des angebrachten Namensschildes und in Ermangelung sonstiger Hinweise – auch nicht die unter diesen Umständen fernliegende Intention des Wohnungsinhabers erkennbar war, dass der Briefkasten auf diese Weise außer Betrieb gesetzt werden sollte.“

Vertretung schickt Beschwerde an das falsche Gericht, oder: Keine Wiedereinsetzung für den Vertretenen

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Im „Kessel Buntes“ heute dann zwei Entscheidungen zu Fristversäumungen. Zunächst kommt hier etwas vom BGH, heute Nachmittag dann etwas zur beA-Pflicht.

Hier geht es jetzt erst mal um den BGH, Beschl. v. 23.10.2024 – XII ZB 576/23. Ergangen ist die Entscheidung in einem familiengerichtlichen Verfahren. In dem hatte das AG den Antragsgegner in einer vom Verbund abgetrennten Folgesache unter Abweisung des weitergehenden Antrags verpflichtet, an die Antragstellerin einen Zugewinnausgleich in Höhe von 709.900,21 EUR nebst Zinsen zu zahlen. Dieser Beschluss ist dem Antragsgegner am 0 zugestellt worden. Am (Freitag) ist um 8:58 Uhr beim OLG eine Beschwerdeschrift eingegangen, die ausweislich des Prüfvermerks mit einer qualifizierten elektronischen Signatur des Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners versehen ist. Am selben Tag hat der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle des OLG die Akte beim AG angefordert und dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragsgegners eine Eingangsbestätigung übersandt. Mit taggleich ausgeführter Verfügung vom 0 (Montag) hat die Vorsitzende Richterin des zuständigen Senats die Übersendung der Beschwerdeschrift an das AG angeordnet. Dort ist die Rechtsmittelschrift auf dem Postweg am 0 eingegangen.

Am ist der Antragsgegner darauf hingewiesen worden, dass die Beschwerde unzulässig sei, weil sie nicht innerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist beim AG eingegangen sei. Daraufhin hat der Antragsgegner am Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und zur Begründung ausgeführt, sein Verfahrensbevollmächtigter habe sich in der Zeit vom 27.09. bis zum 0 im Urlaub befunden. Noch vor Urlaubsantritt habe er gegenüber seiner langjährigen und stets zuverlässigen Mitarbeiterin verfügt, gegen den Beschluss des Amtsgerichts fristgerecht Beschwerde einzulegen. Dies beinhalte auch, dass die Beschwerde beim zuständigen Gericht eingelegt werde. Gleichwohl sei die Beschwerde fehlerhaft an das OLG geschickt worden. Zudem hätten zwischen der am um 9:52 Uhr versandten Eingangsbestätigung des OLG und dem Ablauf der Beschwerdefrist anderthalb Werktage gelegen. Es sei somit mehr als genug Zeit gewesen, um die Zuständigkeit zu prüfen und die Beschwerdeschrift noch innerhalb der Beschwerdefrist im Wege des ordentlichen Geschäftsgangs elektronisch an das AG weiterzuleiten. Keinesfalls habe das OLG den Schriftsatz auf dem Postweg weiterleiten dürfen, weil ihm hätte bewusst sein müssen, dass er auf diesem Weg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fristgerecht beim AG eingehen würde. Das für das Beschwerdeverfahren ohnehin zuständige OLG habe eine deutlich erhöhte prozessuale Fürsorgepflicht getroffen. Diese hätte es geboten, dem Antragsgegner zumindest mitzuteilen, dass die Beschwerdeschrift fälschlicherweise an das OLG geschickt worden sei und von dort ein rechtzeitiger Eingang des weitergeleiteten Schriftsatzes beim AG nicht sichergestellt werden könne.

Mit Schreiben vom 0 ist der Antragsgegner darauf hingewiesen worden, dass die Beschwerdeschrift nach seinem eigenen Vorbringen nicht von seinem Verfahrensbevollmächtigten, sondern von dessen Mitarbeiterin „unterzeichnet“ worden sei. Die Beschwerde sei somit nicht wirksam eingelegt worden und daher unzulässig. Der Antragsgegner hat hierauf erwidert, es sei klar und auch nach außen erkennbar gewesen, dass der Schriftsatz im Namen seines Verfahrensbevollmächtigten habe eingereicht werden sollen.

Das OLG hat den Wiedereinsetzungsantrag als unbegründet zurückgewiesen und die Beschwerde als unzulässig verworfen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Antragsgegners, die beim BGH keinen Erfolg hatte.

Hier dann die Leitsätze des BGH, die Einzelheiten bitte selbst lesen:

1. Hat der Verfahrensbevollmächtigte eines Beteiligten die Anfertigung einer Rechtsmittelschrift seinem angestellten Büropersonal übertragen, ist er verpflichtet, das Arbeitsergebnis vor Versendung über das besondere elektronische Anwaltspostfach sorgfältig auf seine Richtigkeit und Vollständigkeit zu überprüfen (im Anschluss an , NJW 2023, 1969). Dazu gehört auch die Prüfung, ob das für die Entgegennahme der Rechtsmittelschrift zuständige Gericht richtig bezeichnet ist.

2. Reicht ein Beteiligter eine Rechtsmittelschrift bei einem unzuständigen Gericht ein, so entspricht es regelmäßig dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterliche Verfügung der Weiterleitung des Schriftsatzes an das zuständige Gericht am darauffolgenden Werktag umsetzt (im Anschluss an , ZIP 2023, 1614). Geht ein fristgebundener Schriftsatz erst einen (Werk-)Tag vor Fristablauf beim unzuständigen Gericht ein, ist es den Gerichten daher regelmäßig nicht anzulasten, dass die Weiterleitung des Schriftsatzes im ordentlichen Geschäftsgang nicht zum rechtzeitigen Eingang beim zuständigen Gericht geführt hat (im Anschluss an , NJW 2023, 1969).

Also aufgepasst, denn das wird man in anderen Verfahrensarten entsprechend anwenden können.

Wiedereinsetzung II: Wenn der Anwalt Zahnweh hat, oder: Warum nicht auch beim Gericht angerufen?

Bild von Sammy-Sander auf Pixabay

Und dann kommt hier der BGH, Beschl. v. V ZB 50/23. Der stammt, wie das Aktenzeichen zeigt, aus einem Zivilverfahren, die Ausführungen des BGH haben auch in anderen Verfahren Bedeutung.

In dem Verfahren ist Berufung gegen ein sog. zweites Versäumnisurteil eingelegt worden. Das OLG hat die Berufung gegen dieses Urteil als unzulässig angesehen, weil die Beklagten nicht innerhalb der Berufungsbegründungsfrist schlüssig dargelegt hätten, dass sie den Termin ohne eigenes Verschulden versäumt hätten. Der BGH führt dazu – nach Darlegung der entsprechenden Grundsätze aus:

„2. Nach diesen Grundsätzen geht das Berufungsgericht ohne zulässigkeitsrelevante Rechtsfehler davon aus, dass die Säumnis der Beklagten auf einem Verschulden ihres Prozessbevollmächtigten beruht, welches sie sich als eigenes Verschulden zurechnen lassen müssen (§ 85 Abs. 2 ZPO).

a) Für die Entscheidung kann unterstellt werden, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten am 10. Januar 2023 krankheitsbedingt nicht zu der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht anreisen konnte. Dieser Umstand genügt aber nicht für die Annahme, er habe den Termin unverschuldet versäumt.

b) ergibt sich bereits aus dem dargelegten Ablauf, dass es ihm nicht unmöglich oder unzumutbar gewesen ist, das Landgericht rechtzeitig telefonisch über seine krankheitsbedingte Verhandlungsunfähigkeit in Kenntnis zu setzen. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde überspannt das Berufungsgericht die Anforderungen an den auf § 514 Abs. 2 ZPO gestützten Parteivortrag nicht.

aa) Am Termintag um 8.00 Uhr war dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten klar, dass er aufgrund der Schmerzen einen Zahnarzt aufsuchen musste. Trotz starker Schmerzen hat er zu diesem Zeitpunkt noch an den Gerichtstermin gedacht. Dass er noch davon ausging, rechtzeitig um 11.30 Uhr das Landgericht erreichen und den Gerichtstermin wahrnehmen zu können, haben die Beklagten nicht vorgetragen. Angesichts der erforderlichen zahnärztlichen Behandlung, der Einnahme starker Schmerzmittel und der kalkulierten Fahrzeit von einer Stunde zwischen dem Kanzlei- und dem Gerichtsort durfte er auch nicht berechtigterweise darauf vertrauen, dass er bis zu der Terminstunde das Landgericht erreichen wird. Es hätte daher der gebotenen anwaltlichen Sorgfalt entsprochen, bereits in diesem Moment die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, um die im konkret vorhersehbaren Fall einer Säumnis im Einspruchstermin drohenden schwerwiegenden Nachteile von den Beklagten abzuwenden. Hierzu wäre eine telefonische Kontaktaufnahme zu dem Landgericht erforderlich gewesen, um seine Verhandlungsunfähigkeit mitzuteilen.

bb) Ein solches Telefonat zu führen, war dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten – wie das Berufungsgericht zu Recht annimmt – trotz der vorgetragenen starken Schmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln zumutbar und keinesfalls überobligatorisch. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde verlangt das Berufungsgericht von dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten auch unter Berücksichtigung der Intensität der Schmerzen keine überdurchschnittlichen, nicht zu erwartenden Anstrengungen zur Überwindung der Krankheitserscheinungen.

(1) Ein Rechtsanwalt muss zwar, wenn er – wie hier – unvorhergesehen erkrankt und kurzfristig und unvorhersehbar an der Wahrnehmung des Termins gehindert ist, nur das, aber auch alles unternehmen, was ihm dann möglich und zumutbar ist, um dem Gericht rechtzeitig seine Verhinderung mitzuteilen (vgl. Senat, Beschluss vom 26. September 2013 – V ZB 94/13, NJW 2014, 228 Rn. 10 zu den vergleichbaren Vorkehrungen zur Fristwahrung bei unvorhergesehener Erkrankung).

11(2) Hiervon ausgehend nimmt das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei an, dass der Prozessbevollmächtigte der Beklagten nicht das ihm Zumutbare unternommen hat. Er hat sowohl seinen Kollegen angerufen als auch telefonisch ein Taxi bestellt. Dies belegt, dass ihm trotz der erheblichen Zahnschmerzen und der Einnahme von Schmerzmitteln ein Telefonat noch möglich und auch zumutbar war und er noch klare Gedanken fassen konnte. Soweit die Rechtsbeschwerde vorbringt, der Prozessbevollmächtigte der Beklagten habe aufgrund extremer Schmerzen schon am Morgen des Termintages nicht mehr klar denken können und erst am Nachmittag sei ihm die Versäumung des Termins bewusst geworden, übersieht sie, dass er jedenfalls morgens um 8.00 Uhr an den Termin gedacht hat und in der Lage war, seinen Kollegen anzurufen. Die Beklagten haben nicht dargelegt, welchem Zweck der Anruf des Kollegen überhaupt diente. Eine stellvertretende Wahrnehmung des Gerichtstermins sollte durch ihn nach eigener Darstellung jedenfalls nicht erfolgen. Anwaltlicher Sorgfalt hätte es daher entsprochen, stattdessen sofort dem Landgericht telefonisch seine Verhinderung mitzuteilen. Für diesen Anruf war nicht mehr Kraft aufzubringen als für den Anruf bei seinem Kollegen.

c) Ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde schließlich geltend, das Berufungsgericht erwarte zu Unrecht nähere Angaben zum zeitlichen Verlauf, obwohl der Prozessbevollmächtigte der Beklagten darauf hingewiesen habe, dass er an die genauen Uhrzeiten keine Erinnerung habe. Zu Recht weist die Rechtsbeschwerdeerwiderung darauf hin, dass es dem Prozessbevollmächtigten der Beklagten möglich gewesen wäre, im Nachhinein durch Durchsicht seiner Anrufliste und Rückfrage bei seinem Arzt oder dem Taxiunternehmen den genauen Geschehensablauf zu rekonstruieren und auf dieser Grundlage vorzutragen, ab wann es ihm frühestens möglich gewesen wäre, das Landgericht von seiner krankheitsbedingten Verhinderung zu unterrichten.“

Wie gesagt: Das gilt nicht nur in Zivilverfahren, sondern wird man sicherlich auch im Straf- und/oder Bußgeldverfahren anwenden können, und zwar auch auf Angeklagte/Betroffene. Die werden in vergleichbaren Situationen auch anrufen und Bescheid sagen müssen, wenn man, wie hier, auch anderweitig informieren kann und versucht, Dinge zu organisieren.

Linksabbieger kollidiert mit überholendem Motorrad, oder: Quote, wenn das Motorrad zu schnell fährt

entnommen wikimedi.org
Urheber Noop1958

Die zweite Unfallentscheidung kommt mit dem OLG Schleswig, Urt. v. 01.10.2024 – 7 U 145/23 – auch aus dem Norden. Es geht wieder um die Haftungsquote bei einem Abbbiegeunfall, und zwar in diesem Verfahren zwischen einem Linksabbiegers mit einem überholenden und zu schnell fahrenden Motorrad.

Folgender Sachverhalt: Gestritten wird um materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall am Vormittag des 17.06.2018 in M. bei B. (Kreis R-E. Einmündung von der B4 in Richtung D-moor). Der Zeuge C. fuhr mit dem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug auf der Bundesstraße 4 in Fahrtrichtung N.. Er beabsichtigte nach links in die Straße H. einzubiegen. Der Kläger fuhr mit einem Motorrad der Marke Honda CBR 900 Fireblade SC 33 (EZ 13.06.1997) hinter dem Beklagtenfahrzeug und setzte zum Überholen an. Hierdurch kam es zum Unfall dessen Einzelheiten zwischen den Parteien streitig sind. Streitig ist insbesondere ob und wann der Zeuge C. den Fahrtrichtungsanzeiger betätigte.

Durch den Unfall wurde der Kläger (geb. 1974) verletzt und musste stationär sowie ambulant behandelt werden. Er erlitt eine Sprengung des Schultergelenks links (Typ Rockwood 5, also mit Riss sowohl des Bandapparats als auch der Muskulatur), Schürfwunden und im Behandlungsverlauf eine Wundheilungsstörung. Die Bewegungsfähigkeit der Schulter ist dauerhaft beeinträchtigt. Der Kläger kann den linken Arm nicht mehr über die Horizontalebene heben. Für die weiteren Einzelheiten zum Behandlungsverlauf wird auf die Darstellung im angefochtenen Urteil verwiesen.

Der Kläger hat mit der Klage neben umfassender Feststellung die Beklagte auf Zahlung von Verdienstausfallschaden und Schmerzensgeld in Anspruch genommen, hierbei wurde der begehrte Verdienstausfall bis Ende März 2020 mit 33.858,43 € und Übrigen als monatliche Zahlung in Höhe von 3.183,20 € bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze geltend gemacht. Die Beklagte zahlte zur Erfüllung eines Schmerzensgeldanspruchs an den Kläger insgesamt 6.000,00 EUR. Auf den geltend gemachten Verdienstausfallschaden leistete die Beklagte Zahlungen in Höhe von 28.921,21 EUR. Das LG hat nach Beweisaufnahme der Klage auf Basis einer Haftungsverteilung von 80 % zu 20 % zu Lasten der Beklagten stattgegeben. Gegen die Entscheidung des LG wendet sich die Beklagte mit der Berufung und begehrt die vollständige Klagabweisung.

Das OLG hat auf die Berufung aufgehoben und zurückverwiesen wegen eines Verfahrensmangels. Das LG hatte nämlich einen Beweisantrag der Beklagten übersehen. es hat aber auch „Anmerkungen“ zur Haftungsquote und zum Schmerzensgeld gemacht. Wegen der Einzelheiten bitte den Volltext lesen. Hier gibt es nur die Leitsätze:

1. Das unberechtigte Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs dar. Darin liegt zugleich ein wesentlicher Verfahrensmangel.

2. Die Entscheidung bei einem wesentlichen Verfahrensmangel zwischen Zurückverweisung und eigenen Sachentscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts. Dabei ist insbesondere auch zu berücksichtigen, dass eine Zurückverweisung in aller Regel zu einer Verteuerung und Verzögerung des Rechtsstreites führt und dies den Interessen der Parteien entgegenstehen kann.

3. Wenn sich ein Unfall im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Linksabbiegevorgang ereignet, spricht der Anschein dafür, dass der Linksabbieger die ihm obliegenden Sorgfaltsanforderungen, insbesondere die doppelte Rückschaupflicht, nicht ausreichend beachtet hat. Es genügt nicht, den rückwärtigen Verkehr nur über den Spiegel zu kontrollieren.

4. Eine unklare Verkehrslage ist gegeben, wenn der Überholer nach den Umständen mit einem ungefährdeten Überholen nicht rechnen darf, was insbesondere dann der Fall ist, wenn er nicht verlässlich beurteilen kann, was der Fahrer des vorausfahrenden Fahrzeugs sogleich tun werde.

5. Der Umfang eines etwaigen des Mitverschuldens des Verletzten an der Entstehung seiner unfallbedingten Verletzungen ist bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen.

Rechtsabbieger kollidiert mit Radfahrer auf Gehweg, oder: Quote bei verbotswidrigem Gehwegbefahren

https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/8894.htm

Und dann im „Kessel Buntes“ am heutigen Samstag zwei zivilrechtliche Entscheidungen, und zwar zu Verkehrsunfällen.

Ich beginne mit dem OLG Schleswig, Urt. v. 19.11.2024 – 7 U 90/23 – zur Haftungsquote bei der Kollision zwischen einem rechtsabbiegenden PKW mit einem querenden Radfahrer, der verbotswidrig einen Gehweg befährt. Das ist sicherlich eine Konstellation, die man in der Praxis häufiger antrifft

Das OLG geht von folgendem Sachverhalt aus: Gestritten wird um Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche sowie die Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 16.05.2019 gegen 18:00 Uhr bei trockener Fahrbahn an der Einmündung H-weg / S.-straße in P. ereignet hat.

Der damals 18-jährige Kläger befuhr mit seinem Fahrrad, einem sog. All-Terrain-Bike, den entlang des H.-weges verlaufenden, mit dem Zeichen 239 gekennzeichneten und damit ausschließlich Fußgängern vorbehaltene Gehweg von der Lichtzeichenanlage kommend in Richtung P. Stadtzentrum. Im Verlauf zur Einmündung S.-straße hin wird der Gehweg zum Fahrbahnbereich des H.-wegs durch einen Zaun und einen Grünstreifen begrenzt, bevor die letzten Meter des Gehweges bis zum abgesenkten Bordstein zur Einmündung Schulstraße wieder ohne Begrenzung zur Fahrbahn verlaufen. Hinsichtlich des vom Kläger befahrenen Gehwegs in Fahrtrichtung ab der Lichtzeichenanlage und dem Zeichen 239 sowie die links daneben verlaufende Fahrspur des Beklagten zu 2) wird auf das als Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 21.07.2022 eingereichte Lichtbild Bezug genommen.

Der Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und als Taxi genutzten Pkw VW Caddy mit dem amtlichen Kennzeichen P-XX 4711 den H-weg in gleicher Fahrtrichtung und beabsichtigte, nach rechts in die S.-straße einzubiegen. Als der Kläger seinerseits die Einmündung S.-straße mit dem Fahrrad passieren wollte, wurde er von dem vom Beklagten zu 2) geführten Fahrzeug erfasst, vom Fahrrad gestoßen und überrollt. Der PKW kam auf dem gegenüberliegenden Fußgängerweg der Einmündung zur S.-straße zum Stehen.

Der Kläger erlitt durch den Unfall ein Polytrauma im Sinne eines Überrolltraumas, mehrere Rippenfrakturen, einen Leberriss, eine Blasenruptur, eine Querfortsatzfraktur sowie eine Becken- C-Fraktur und eine Schenkelhalsfraktur rechts. Er wurde stationär bis zum 04.06.2019 im UKSH behandelt. Die Beckenfraktur musste operativ versorgt werden. Im Anschluss erfolgte eine ambulante Rehabilitation und eine erneute stationäre Behandlung im UKSH in der Zeit vom 28.04.2021 bis zum 29.04.2021 zur Entfernung der dynamischen Hüftschraube und der Antirotationsschraube im Bereich der rechten Hüfte. Die Reko-Platte wurde im Bereich des vorderen Beckenringes belassen. Im Folgejahr wurde der Kläger in der Zeit vom 29.03.2022 bis zum 15.04.2022 wegen massiver Schmerzen im Bereich der rechten Hüfte stationär in der O-Klinik in D. behandelt. Es wurde eine Hüftkopfnekrose rechts diagnostiziert und schließlich am 30.03.2022 eine Hüftgelenkstotalendoprothese (HTEP) rechts eingesetzt, was letztlich zu einer deutlichen Verbesserung der Beschwerden des Klägers führte.

Die beklagte Versicherung hat außergerichtlich auf das Schmerzensgeld einen Betrag in Höhe von 2.000,00 EUR gezahlt. Das LG hat auf die Klage auf Basis einer Haftungsquote von 25 % zur Zahlung weiterer 7.810 EUR verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Hiergegen wenden sich die Beklagten mit der Berufung, mit der sie die Abweisung der Klage verfolgen. Die Berufung hatte keinen Erfolg.

Wegen der Einzelheiten der Begründung des OLG verweise ich auf den verlinkten Volltext. Ich stelle hier nur die Leitsätze ein. Die lauten:

1. Ein erwachsener Fahrradfahrer, der verbotswidrig mit 10 – 27,5 km/h auf einem Fußweg fährt, muss sich als Geschädigter ein erhebliches unfallursächliches Verschulden von 75 % entgegenhalten lassen, wenn er eine Straße über den abgesenkten Bordstein überquert, ohne seiner Wartepflicht nachzukommen.

2. Dem rechts abbiegenden Autofahrer, der mit dem verbotswidrig den parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg nutzenden Radfahrer kollidiert, kann kein kausaler Verstoß gegen § 8 Abs. 1 StVO oder § 9 Abs. 1 S. 4 und Abs. 3 S. 1 StVO angelastet werden. Von diesen Regelungen wird nur der berechtigte nachfolgende Verkehr geschützt. Der Geschädigte kann für sich den besonderen Schutz aus den besonderen Abbiege- und Vorfahrtsregelungen nicht in Anspruch nehmen, wenn er als Radfahrer verbotswidrig einen parallel zur Fahrbahn liegenden Gehweg befahren hat.

3. Dem rechts abbiegenden Autofahrer kann aber ein Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs. 2 StVO angelastet werden, wenn er bei gehöriger Sorgfalt den Radfahrer rechtzeitig hätte erkennen und die Kollision vermeiden können. Diese Pflicht beinhaltet, sich bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt unfallverhütend zu verhalten.

4. Rechtsabbiegende Autofahrer müssen damit rechnen, dass andere Verkehrsteilnehmer die Straße, in die eingebogen werden soll, in verkehrswidriger queren (hier Radfahrer auf einem Gehweg in Schulhofnähe).