Als zweite Entscheidung habe ich dann hier noch ein landgerichtliches Urteil, und zwar das LG Saarbrücken, Urt. v. 15.02.2024 – 13 S 28/23.
Es geht um die Schadensabwägung nach einem Verkehrsunfall. Die Zeugin pp. hielt mit dem Fahrzeug des Klägers auf einer Straße am Straßenrand vor einer Sparkassenfiliale an. Die Beklagte zu 2) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Fahrzeug Straße in gleicher Richtung. Während die Zeugin auf der Fahrerseite aus dem Fahrzeug ausstieg, kam es zu einer Kollision.
Der Kläger hat behauptet, die Zeugin habe sich zunächst nach Rückschau in den linken Außenspiegel versichert, dass sich von hinten kein Fahrzeug nähere. Da die Straße frei gewesen sei, sei sie aus dem Fahrzeug ausgestiegen. Sie habe sich zum Zeitpunkt der Kollision bereits außerhalb des Fahrzeugs befunden, habe in der halb geöffneten Tür gestanden und sei dabei gewesen, ihre Handtasche aus dem Fahrzeug zu nehmen. Die Beklagte zu 2) sei zu dicht vorbeigefahren und habe dabei die Fahrertür des klägerischen Fahrzeugs beschädigt.
Das AG Saarbrücken hat die Klage abgewiesen. Die Zeugin habe gegen die sie treffenden Sorgfaltsanforderungen gemäß § 14 StVO verstoßen. Wenn diese gerade im Moment der Vorbeifahrt der Beklagten zu 2) ihre Fahrzeugtür geöffnet habe, liege ein Verstoß gegen § 14 StVO darin, dass sie den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet habe. Auch unter der Annahme der eigenen Angaben der Zeugin, nach denen sie das Fahrzeug verlassen habe und noch in der geöffneten Fahrzeugtür gestanden habe, um etwas aus dem Auto zu nehmen, sei ein Verstoß gegen § 14 StVO zu bejahen. Der Unfall sei dann in dem Zeitrahmen, in dem die Zeugin noch die besonderen Pflichten nach § 14 StVO getroffen haben, erfolgt. Ein Pflichtverstoß der Beklagten zu 2) nach §§ 1, 3, 4 StVO sei dagegen nicht bewiesen. Es sei insbesondere nicht bewiesen, dass die Beklagte zu 2) das Fahrzeug des Klägers passiert habe, als die Tür bereits geöffnet und sie deshalb zu besonderer Sorgfalt nach § 1 StVO aufgefordert gewesen sei. Die Beklagte zu 2) habe bestätigt, dass sie das Fahrzeug nicht wahrgenommen habe, und der Sachverständige habe aus technischer Sicht nicht rekonstruieren können, ob die Tür bei der Kollision bereits geöffnet gewesen sei oder deren Öffnung erst währenddessen erfolgt sei. Aufgrund der festgestellten Geschwindigkeit von 40 km/h stehe auch keine Geschwindigkeitsüberschreitung fest. Ebenso sei ein zu geringer Seitenabstand nicht bewiesen. Zwar sei die Beklagte zu 2) nur mit einem Abstand von 69 cm an dem parkenden Fahrzeug vorbeigefahren. Dies genüge jedoch in der vorliegenden Situation. Im Rahmen der Abwägung trete sodann die Betriebsgefahr auf Beklagtenseite zurück.
Dagegen die Berufung des Klägers. Die hatte teilweise Erfolg.
Das LG kommt zu folgenden Leitsätzen:
1. Wer an einem stehenden Fahrzeug vorbeifährt, muss nach dem allgemeinen Gebot der Gefährdungsvermeidung aus § 1 Abs. 2 StVO einen angemessenen Seitenabstand einhalten. Grundsätzlich reicht zwar ein Seitenabstand von ca. 50 cm eines vorbeifahrenden Pkw zu einem geparkten Pkw aus. Ein Seitenabstand von unter 1 m genügt jedoch dann nicht, wenn auf dem Seitenstreifen neben der Fahrbahn ein Pkw mit geöffneter Fahrzeugtür steht und jederzeit mit einem weiteren Öffnen der Tür gerechnet werden muss oder in der geöffneten Fahrzeugtür eine Person steht.
2. Im Rahmen der Abwägung zwischen einem Verstoß gegen § 14 StVO und einem Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO ist die Haftung des Aussteigenden auf die Betriebsgefahr beschränkt, wenn die Fahrerin des parkenden Fahrzeugs auf einer gut einsehbaren Straße schon mindestens 10 Sekunden in der geöffneten Tür zu sehen ist, ohne dass sich die Unfallgegnerin besonders rücksichtslos verhalten hat (siehe zur dieser Abgrenzung das LG Saarbrücken, Urt. v. 10.11.2023 – 13 S 8/23).
Und dann wird wie folgt verteilt:
„5. Mithin ist beiden Seiten ein Verkehrsverstoß vorzuwerfen. Der der Beklagtenseite anzulastende Verkehrsverstoß überwiegt jedoch bei Abwägung der beiden Ursachenbeiträge, sodass eine Quote von 80% zu deren Lasten angemessen erscheint. Die Zeugin — war aufgrund der gut einsehbaren Straße ohne Weiteres zu erkennen. Die Fahrerin des Beklagtenfahrzeugs hätte sich auch unproblematisch auf die Situation einstellen können, da der gesamte Aussteigevorgang schon mindestens 10 Sekunden andauerte, wenn sie aufmerksam gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund ist die Haftung der Klägerseite auf die Betriebsgefahr beschränkt (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Urteil vom 29. Mai 2008 – 2 U 19/08 –, juris, Rn. 14).