Archiv der Kategorie: Verfahrensrecht

Vollzug II: Treulich ausgeführt zur Bruderhochzeit?, oder: Was schert die JVA Burg die Auffassung der StVK?

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Die zweite Entscheidung kommt – wie gesagt – auch vom OLG Naumburg.

Es handelt sich um den OLG Naumburg, Beschl. v. 18.06.2024 – 1 Ws 254/24 RB-Vollzug. In der Entscheidung hat das OLG noch einmal wegen einer Genehmigung zur Ausführung eines Strafgefangenen aus wichtigem Anlass, nämlich der Hochzeit des Bruders, Stellung genommen.

Die JVA Burg hatte diesen Antrag zunächst am 06.03,2024 mündlich abgelehnt, Die StVK hatte am  27.03.2024 die Ablehnungsentscheidung aufgehoben und die Sache zur Neubescheidung über den Ausführungsantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer, wonach der Anwendungsbereich des § 46 JVollzGB I LSA eröffnet sei, da es sich bei der Hochzeit des Bruders um einen wichtigen Anlass im Sinne dieser Vorschrift handele, zurückverwiesen. Die JVA Burg lehnte den Ausführungsantrag dann am 11.04. 2024 erneut ab, da es sich bei der Hochzeit des Bruders des Antragstellers nicht um einen wichtigen Anlass im Sinne des § 46 JVollzGB I LSA handele.

Hiergegen wandte sich der Antragsteller dann mit einem erneuten Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 12.04.2024, beim LG eingegangen am 15.04.2024. Auf diesen Antrag hob das LG mit einem ersichtlich fälschlich auf den 24.03.2024 datierten, tatsächlich am 24.04.2024 erlassenen Beschluss die Entscheidung der JVA Burg vom 11.04.2024 auf und verpflichtete diese, den Antragssteller zur Hochzeit seines Bruders auszuführen. Gegen den ihr am 24.04.2024 zugestellten Beschluss wendet sich die JVA Burg dann mit ihrer Rechtsbeschwerde vom 24.05.2024, die am selben Tag beim LG einging und mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt. Das OLG hat die Rechtsbeschwerde als unzulässig angesehen bzw. ansehen müssen:

„Die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde ist unzulässig.

Mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung begehrte der Antragsteller die Ausführung zur Hochzeit seines Bruders. Diese Hochzeit hat jedoch bereits am 4. Mai 2024 stattgefunden. Damit hatte sich der Verfahrensgegenstand nach der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer, aber vor Einlegung der Rechtsbeschwerde erledigt. In diesem Fall ist die Rechtsbeschwerde unzulässig (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 12. Dezember 2019 – 2 Ws 172/19 Vollz –, Rn. 16; Arloth in Arloth/Kräh, StVollzG, 5. Auflage, § 116 Rn. 2).

Ergänzend merkt der Senat an, dass entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin durch die rechtskräftige Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 27. März 2024, mit der die Beschwerdeführerin unter Beachtung der Rechtauffassung der Kammer zur Neubescheidung verpflichtet wurde, im Hinblick auf diese Rechtsauffassung Bindungswirkung eingetreten ist (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 12. April 2021 – 2 Ws 167/20 Vollz –, Rn. 26, zitiert nach juris). Die Beschwerdeführerin wäre daher verpflichtet gewesen, bei ihrer erneuten Entscheidung über den Ausführungsantrag die Auffassung der Strafvollstreckungskammer, es handele sich bei der Hochzeit des Bruders um einen wichtigen Anlass im Sinne des § 46 JVollzGB I LSA, zugrunde zu legen.“

Das Verhalten/die Vorgehensweise der JVA Burg ist schon – gelinde ausgedrückt – „keck“. Denn: Da kassiert man sofort wegen der Ablehnung eine Abfuhr bei der StVK und soll „unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer“ neu entscheiden, was man aber offenbar nicht tut, sondern den Antrag erneut ablehnt. Als dann das passiert, was passieren musste, nämlich auf Antrag des Gefangenen eine erneute Abfuhr, nimmt man das nicht hin, sondern geht in die Rechtsbeschwerde. Die legt man aber nicht so zeitig ein, dass noch vor dem Ereignis, für das die Ausführung beantragt worden ist, entschieden werden kann. Nein, man wartet – genüsslich? – einen Monat und legt dann Rechtsbeschwerde ein. Deren Unzulässigkeit nimmt man – offenbar gern – in Kauf. Hat man doch das Ziel: Nämlich keine Ausführung des Gefangenen zur Hochzeit seines Bruders erreicht. Dass man dadurch die Rechte des Gefangenen missachtet und zu Lasten der Landeskasse auch noch unnötige Kosten verursacht hat, nimmt man in Kauf. Man ist ja mit dem Kopf durch die Wand.

Wie gesagt: Gelinde ausgedrückt – „keck“. Mir fielen noch andere Bezeichnungen ein. Aber die verkneife ich mir lieber.

OWi III: Entbindung und rechtlicher Hinweis, oder: Rechtsbeschwerde – Anlagenkonvolut/Unterzeichnung

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Und dann habe ich hier im letzten Posting des Tages noch Rechtsprechung zum Verfahrensrecht im Bußgeldverfahren; auch hier nichts Neues, das hatten wir alles schon:

1. War der Verteidiger nicht im Sinne des § 73 Abs. 3 OWiG „mit nachgewiesener Vollmacht“ zur Vertretung befugt und deshalb auch nicht berechtigt, einen Entbindungsantrag für den Betroffenen zu stellen, so ist der Einspruch des Betroffenen nach § 74 Abs. 2 OWiG zu verwerfen.

2. Hat das Amtsgericht gleichwohl zur Sache verhandelt und entschieden, so ist der Betroffene mit dem Einwand ausgeschlossen, in der fälschlich abgehaltenen Verhandlung sei Verteidigervortrag unberücksichtigt geblieben.

3. Hat die prozessordnungswidrige Verhandlung für den Betroffenen zu einer Verschlechterung geführt (Erhöhung der Geldbuße), so stellt dies einen Verfahrensfehler dar, der auf Rechtsbeschwerde zur Aufhebung des Urteils zumindest im Rechtsfolgenausspruch führen würde. Ein Zulassungsgrund nach § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ergibt sich aber nicht, weil sich die Fehlerhaftigkeit des Urteils nicht aus einer Verletzung rechtlichen Gehörs ergibt, sondern aus der irrtümlichen Annahme, der Verteidiger sei zur Vertretung befugt.

Möchte der Tatrichter die im Bußgeldbescheid festgesetzte Geldbuße erhöhen, so bedarf dies grundsätzlich keines Hinweises entsprechend § 265 StPO.

Gibt der Verteidiger durch einen distanzierenden Zusatz zu erkennen, dass er nicht die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernehmen will oder kann, ist die Rechtsbeschwerdebegründung nach § 345 StPO formunwirksam.

1. Ein unübersichtliches Konvolut aus Ablichtungen des Bußgeldbescheides, Ablichtungen aus dem amtsgerichtlichen Sitzungsprotokoll, Gesetzeszitaten, Ablichtungen aus einem privaten Sachverständigengutachten sowie von Schreiben des Verteidigers an das Gericht genügt den Anforderungen an einen ausreichenden Vortrag nicht.

2. Aus dem Rechtsbeschwerdevortrag muss erkennbar sein, aufgrund welcher konkreten Tatsachen sich das Gericht zu weiteren Beweiserhebungen hätte gedrängt sehen sollen.

3. Es ist nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, sich aus einem unübersichtlichen Vortrag das für die jeweilige Rüge Passende herauszusuchen.

OWi I: Bußgeldbescheid mit falscher Tatortangabe, oder: Ermittlungsfehler der Polizei ==> Einstellung?

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Heute am „Tag der deutschen Einheit“ gibt es hier OWi-Entscheidungen. Es handelt sich weitgehend um Entscheidungen des KG. Das hatte jetzt mal wieder geliefert. Ich beschränke mich bei den Entscheidungen aber auf die Leitsätze. Grund: Die Entscheidungen sind zum Teil schon etwas älter oder es gibt zu den angesprochenen Fragen nichts Neues.

ich beginne hier mit Entscheidungen zum Bußgeldbescheid und  mit einer Entscheidung zur Verjährung, die in den Kontext passt. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

1. Die falsche Angabe zum Tatort beeinträchtigt weder die Wirksamkeit des Bußgeldbescheids noch der Verjährungsunterbrechung, wenn der richtige und der falsche Tatort nahe beieinanderliegen und für den Betroffenen der wahre Tatort auch deshalb ohne weiteres erkennbar ist, weil er sogleich nach der Verkehrsordnungswidrigkeit von Polizeibeamten angehalten worden ist und sich ihnen gegenüber zu der Zuwiderhandlung äußern konnte.

2. Die Verfahrensrüge der Verletzung der §§ 71 Abs. 1 OWiG, 265 StPO bzw. des Art. 103 Abs. 1 GG bedarf der Darlegung, wie sich der Betroffene anders verteidigt hätte, wenn er auf den veränderten Gesichtspunkt (hier: Tatort) förmlich hingewiesen worden wäre. 

1. Geht die behördliche Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Betroffenen auf den Fehler eines einzelnen Polizeibeamten zurück (hier: fehlende Notierung eines Hausnummernzusatzes bei den Personalien des Betroffenen), so ist dieser der Verwaltungsbehörde grundsätzlich zuzurechnen (nicht tragend).

2. Fällt dem Polizeibeamten ein lässlicher und bei massenhafter Bearbeitung unausweichlich vorkommender Flüchtigkeitsfehler und nicht eine willkürliche Sachbearbeitung im Sinne einer sog. Scheinmaßnahme zur Last, so besteht kein Anlass, die verjährungsunterbrechende Wirkung der vorläufigen Einstellung des Verfahrens wegen Abwesenheit des Betroffenen (§ 33 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 OWiG) zu suspendieren (entgegen OLG Hamm NZV 2005, 491 und OLG Brandenburg NZV 2006, 100).

So und an einem OWi-Tag natürlich <<Werbemodus an>> der Hinweis auf Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 7. Aufl., 2024, in dem die Fragen, zu denen es heute Entscheidungen gibt. Das Buch kann man übrigens zusammen mit Burhoff/Grün, Messungen im Straßenverkehr, 6. Aufl. 2023, in einem „Paket“, dem sog. Verkehrsrechtspaket bestellen. Zur Bestellung geht es dann hier. <<Werbemodus aus>>.

Pflichti III: Rückwirkende Bestellung beim Verletzten, oder: Zulässig, fiskalische Interessen ohne Belang

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Und im dritten Posting dann eine Entscheidung zu den Beiordnungsvoraussetzungen und zur rückwirkende Bestellung beim Verletztenbeistand. Nicht direkt Pflichtverteidiger, aber passt.

Dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.09.2024 – 12 Qs 34/24 – liegt folgender Sachverhalt zugrunde:  Eine Zeugin hatte in einer polizeilichen Aussage angegeben, bei ihr sei wegen eines Streits, den sie am 10.12.2023 mit ihrem Verlobten gehabt habe, eine Polizeistreife erschienen. Als sie mit den zwei männlichen Polizeibeamten, den Beschuldigten, allein im Zimmer gewesen sei, hätten diese sie aufgefordert, sich zu entkleiden und sie körperlich abgetastet. Dabei hätten sie ihr an die Brust gegriffen und die Finger – angeblich zu Durchsuchungszwecken – in ihre Vagina eingeführt. Anschließend, am selben Tag, wurde die Zeugin im Hinblick auf ein mögliches Sexualdelikt ärztlich untersucht.

Am 19.12.2023 wurde den beiden Beschuldigten durch Beamte des LKA mitgeteilt, dass gegen sie ein Ermittlungsverfahren wegen sexueller Nötigung zum Nachteil der Zeugin eröffnet worden sei. Die Beschuldigten machten keine förmliche Aussage zur Sache; einer von ihnen stritt – aktenkundig – den Vorwurf gegenüber einer LKA-Beamtin ab.

Am 08.01.2024 zeigte sich der Rechtsanwalt für die Zeugin an, beantragte Akteneinsicht und seine Beiordnung als Opferanwalt gem. § 406h Abs. 1, 3 mit § 397a Abs. 1 Nr. 1, 4 StPO. Am 17.01.2024 wies ein Sachbearbeiter des LKA vor einer weiteren angesetztem Vernehmung der Zeugin den Rechtsanwalt auf Widersprüche in deren bisheriger Aussage hin, woraufhin letzterer mitteilte, die Zeugin werde sich künftig vollumfänglich auf das Aussageverweigerungsrecht gem. § 55 StPO berufen und sich gegebenenfalls erst nach Akteneinsicht durch den Anwalt einlassen. Die Zeugin sagte daraufhin und seitdem nicht mehr aus. Unter dem 26.03.2024 stellte die Kriminalpolizei ihren Schlussbericht fertig und legte die Akte der Staatsanwaltschaft vor.

Am 15.6.2024 eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren wegen falscher Verdächtigung gegen die Zeugin. Das Ermittlungsverfahren gegen die beiden Polizeibeamten wurde mit Verfügung vom 19.07.2024 gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt.

Auf Nachfrage der Staatsanwaltschaft bestand der Rechtsanwalt auf der Verbescheidung seines Beiordnungsantrags. Am 08.08.2024 bestellte ihn die Ermittlungsrichterin des AG rückwirkend zum 09.01.2024 als Beistand der Zeugin. Hiergegen wendet sich die Beschwerde der Staatsanwaltschaft. Das AG habe übersehen, dass die Zeugin bereits bei Antragstellung vom 08.01.2024 das Aussageverweigerungsrecht gehabt habe. Zudem habe die Zeugin bei ihrer Anzeigeerstattung gelogen und es sei zweifelhaft, ob sie überhaupt als Verletzte i.S.d. § 406h StPO gelten könne. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hatte keinen Erfolg:

„Rechtsanwalt Dr. pp. war als Beistand zu bestellen, wie das Amtsgericht zutreffend entschieden hat.

a) Nach § 406h Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 397a Abs. 1 StPO ist dem Verletzten einer Katalogtat auf dessen Antrag hin schon im Ermittlungsverfahren ein Rechtsanwalt als Beistand zu bestellen. Streitig ist allerdings, unter welchen näheren Voraussetzungen die Beiordnung erfolgen kann – dies betrifft sowohl den erforderlichen Verdachtsgrad (aa), als auch den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (bb).

aa) Nach einer Auffassung hat die Bestellung bereits dann zu erfolgen, wenn auch nur die geringe Möglichkeit bzw. ein einfacher Anfangsverdacht besteht, dass der Beschuldigte ein Delikt im Sinne von § 397a Abs. 1 StPO begangen hat und seine Verurteilung deswegen in Betracht kommt bzw. die Verurteilung wegen einer Nebenklagestraftat rechtlich möglich erscheint. Die Beiordnung scheidet nur dann aus, wenn bereits nach der Darstellung des Nebenklägers seine unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung ausscheidet oder die Wahrnehmung des Rechts der Beistandsbestellung rechtsmissbräuchlich ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 09.03.2021 – III-4 Ws 35/21, juris Rn. 13; OLG Celle, Beschluss vom 14.12.2016 – 2 Ws 267/16, juris Rn. 10; KK-StPO/Zabeck, 9. Aufl., § 406h Rn. 2; BeckOK-StPO/Weiner, 52. Ed. 01.07.2024, § 406h Rn. 1).

Eine striktere Auffassung verlangt demgegenüber einen qualifizierten Anfangsverdacht hinsichtlich einer Katalogtat aus § 397a Abs. 1 StPO, der jedenfalls eine Weiterführung der Ermittlungen gestattet und aufgrund dessen jedenfalls die Möglichkeit besteht, dass der für eine spätere Anklageerhebung notwendige hinreichende Tatverdacht noch begründet werden kann (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 41 ff.; OLG Oldenburg, Beschluss vom 25.02.2009 – 1 Ws 120/09, juris Rn. 5; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29).

bb) Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Voraussetzungen der Beiordnung wird einerseits auf den Zeitpunkt der Antragstellung (KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 29), andererseits auf den Zeitpunkt der Beiordnungsentscheidung abgestellt, sodass die dynamische Entwicklung des Ermittlungsstandes berücksichtigt werden könne (OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 43 ff.; Nachweise zum Streitstand bei OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe).

b) Die Besonderheit hier liegt darin, dass der Beiordnungsantrag bereits am 08.01.2024 zur Akte bei der Staatsanwaltschaft, aber – entgegen Nr. 174b Satz 1 RiStBV – erst am 07.08.2024 zur Ermittlungsrichterin (vgl. § 406h Abs. 3 Satz 2, § 162 StPO) gelangt ist. Für diese Konstellation entspricht es allgemeiner Auffassung, dass die Beiordnung ausnahmsweise dann rückwirkend bewilligt werden kann, wenn der Antrag während des Verfahrens gestellt, aber nicht beschieden worden ist und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Beiordnung Erforderliche getan hat (BGH, Beschluss vom 29.07.2022 – 5 StR 141/22, juris Rn. 6; OLG Köln, Beschluss vom 01.10.1999 – 2 Ws 528/99, juris Rn. 23; KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 379a Rn. 15 m.w.N.). Dies bedingt, dass es für die Beurteilung der Beiordnung auf den Zeitpunkt der Einreichung des Beiordnungsantrag ankommen muss. Andernfalls würde sich die Verzögerung der gerichtlichen Entscheidung wegen zwischenzeitlich eingetretener tatsächlicher Änderungen ggf. zum Nachteil des Antragstellers auswirken können.

Einer Entscheidung darüber, welcher Verdachtsgrad gegen die Beschuldigten anzulegen war, bedurfte es dagegen nicht. Vorrangig ist nämlich zu beachten, dass die Nebenklagebefugnis wegen des Fehlens des Tatverdachts – wie immer man ihn näherhin festlegt – grundsätzlich nicht durch das Gericht verneint werden kann, wenn die Staatsanwaltschaft zur selben Zeit das Verfahren gerade wegen des Verdachts eines Nebenklagedelikts zum Nachteil des Verletzten betreibt (LR-StPO/Wenske, 27. Aufl., § 406h Rn. 11; vgl. auch OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739 unter II.2 der Gründe), wie hier geschehen. Das folgt daraus, dass das im laufenden Ermittlungsverfahren angegangene Gericht lediglich eine Momentaufnahme der Ermittlungsergebnisse präsentiert bekommt und nicht überschauen kann, welche weiteren Ermittlungsschritte die Staatsanwaltschaft oder die Polizei zur weiteren Sachverhaltsaufklärung einleiten werden oder wollen. Zudem hat die die Ermittlungen verantwortende Staatsanwaltschaft einen Beurteilungsspielraum, der ihr bei der Subsumtion und Beurteilung des Sachverhalts einen gewissen Freiraum lässt, die Entscheidung eigenverantwortlich auf der Basis der persönlichen kriminalistisch-forensischen Erfahrungen und subjektiven Bewertungen des befassten Dezernenten zu treffen. Nimmt dieser nach alldem einen die (Fort)Führung des Ermittlungsverfahrens tragenden Verdacht an, so ist das vom Gericht hinzunehmen, solange es noch vertretbar ist (LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 27.05.2022 – 12 Qs 24/22, juris Rn. 22 m.w.N.). Verneint werden kann der Tatverdacht in gegebener Konstellation dann, wenn die Staatsanwaltschaft bei Antragstellung ohnehin im Begriff war, das Verfahren durch eine Einstellung zu beenden. So lagen die Dinge hier aber nicht. Die Verfahrenseinstellung erfolgte am 19.07.2024, mithin ein halbes Jahr nach Antragstellung vom 08.01.2024. Die Fortführung des Ermittlungsverfahrens war zum letztgenannten Zeitpunkt nicht aussichtslos: Der polizeiliche Schlussbericht wurde erst am 26.03.2024 vorgelegt, die Stellungnahme des Verteidigers eines der beiden Beschuldigten datiert vom 21.05.2024. Damit war bei Antragstellung der durch die – nicht in allen Teilen konsistente – Aussage der Zeugin nach Auffassung der Staatsanwaltschaft vertretbar begründete Verdacht noch nicht ausgeräumt, sondern bestand fort; andernfalls hätte sie das Ermittlungsverfahren früher eingestellt oder jedenfalls einstellen müssen.

c) Die mittlerweile erfolgte Einstellung des Ermittlungserfahrens gegen die Beschuldigten hindert die rückwirkende Beiordnung nicht (vgl. KG, Beschluss vom 07.03.2005 – 1 AR 217/053 Ws 97/05, juris, Rn. 2; OLG Köln, Beschluss vom 08.06.2009 – 2 Ws 245/09, BeckRS 2009, 15739).

d) Fiskalische Erwägungen (in diese Richtung deutlich OLG Hamburg, Beschluss vom 10.05.2005 – 2 Ws 28/05, juris Rn. 42) rechtfertigen kein anderes Ergebnis, allein schon, weil mit § 469 StPO, Nr. 92 RiStBV ein hinreichendes Korrektiv an anderer Stelle bereitsteht. Aus diesem Grund ist keine Notwendigkeit gegeben, den vom Gesetzgeber weit gedachten Kreis der möglichen Verletzten enger zu ziehen (vgl. BT-Drs. 10/5305, S. 20: „Ob die Voraussetzungen eines Anschlusses nach § 395 vorliegen, bestimmt sich im Ermittlungsverfahren danach, ob der Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2) eines zum Anschluss berechtigenden Delikts gegeben ist.“; a.A. OLG Hamburg, aaO., Rn. 31-33). Im Übrigen hat der Gesetzgeber gesehen, dass die Stärkung der Verletztenrechte eine Kostenmehrbelastung zeitigen wird. Diese muss nach seiner Wertung aber „wegen der dringenden rechtspolitischen Notwendigkeit, die Stellung des Opfers im Strafverfahren zu verbessern, in Kauf genommen werden“ (BT-Drs. 10/5305, S. 9).

Ebenso wenig trägt das Argument der Beschwerde, die Zeugin habe bereits bei Antragstellung ein Aussageverweigerungsrecht nach § 55 StPO gehabt und es könne nicht darauf ankommen, wann sie es ausübe, weil sie es ansonsten in der Hand hätte, die Voraussetzungen für die Beiordnung eines Verletztenbeistands zu schaffen. Letzteres jedenfalls trifft zu, allerdings folgt daraus nichts, insbesondere begründet die Verletzteneigenschaft keinen Aussagezwang. Die Berufung auf den § 55 StPO erfolgte hier lediglich als Reaktion darauf, dass Polizeibeamte den Verteidiger auf Widersprüche in der bisherigen Aussage der Zeugin hinwiesen. Sie kann also auch nicht als Argument für einen Rechtsmissbrauch herangezogen werden.“

Ich stelle die Entscheidung nicht wegen der verfahrensrechtlichen Fragen betreffend den Verletztenbeistand/Opferanwalt vor; dazu verweise ich auf <<Werbemodus an>> Burhoff in: Burhoff (Hrsg.), Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, 10. Aufl., 2025, Rn 4930 ff.<<Werbemodus aus. Vorgestellt wird sie wegen der Ausführungen des LG zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Verletztenbeistands, die – soweit ersichtlich – unbestritten ist und sich damit von Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger, die in der Rechtsprechung im Streit ist, erheblich und wohltuende unterscheidet. Der Rechtsanwalt, der als Verletztenbeistand tätig ist, muss diesen Unterschied im Auge behalten, denn die rückwirkende Bestellung führt dazu, dass seine Tätigkeit aus der Landeskasse zu vergüten ist (zum Vergütungsanspruch des Verletztenbeistandes Burhoff RVGreport 2016, 82). Besonders zu begrüßen ist der Hinweis des LG, dass fiskalische Erwägungen nach Ansicht des LG kein anderes Ergebnis rechtfertigen. Denn die spielen in der Diskussion um die Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers bei denjenigen, die die Zulässigkeit verneinen, eine Rolle. Das gilt um so mehr, wenn die verspätete Entscheidung über den rechtzeitig gestellten Antrag eindeutig in der Sphäre der Justiz liegt. Denn es erschließt sich nicht, warum ein am 08.01.2024 bei der Staatsanwaltschaft gestellter – zeitnah zu bescheidender – Antrag erst am 07.08.2024 bei der Ermittlungsrichterin eingeht. Das ist sicherlich nicht, wie von Nr. 174b Satz 1 RiStBV gefordert, eine unverzügliche Weiterleitung an das zuständige Gericht. Die „Arbeitsverweigerung“ darf man nicht noch dadurch honorieren, dass dem von der Verzögerung betroffenen Rechtsanwalt Ansprüche gegen die Landeskasse verwehrt werden.

Pflicht II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: LG Magdeburg topp, LG Arnsberg ein Flopp

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Und im zweiten Posting dann zwei weitere Entscheidungen zur Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, eine topp und eine hopp, und  zwar:

1. Nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens kommt die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers grundsätzlich nicht mehr in Betracht. Allerdings ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung vieler Landgerichte eine rückwirkende Bestellung – unabhängig davon, ob eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens gemäß § 154 Abs. 1 StPO, § 170 Abs. 2 StPO oder der Eintritt der Rechtskraft eines Urteils oder Strafbefehls eine Verfahrensbeendigung herbeigeführt hat – ausnahmsweise dann zulässig, wenn ein entsprechender Beiordnungsantrag rechtzeitig gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorgelegen haben und die Entscheidung durch justizinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

2. Zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen Unfähigkeit der Selbstverteidigung.

Eine rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers, zumal für einen begrenzten Zeitraum, kommt jedenfalls dann nicht in Betracht, wenn auf Wunsch des Angeschuldigten die Beiordnung eines anderen Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger tatsächlich inzwischen erfolgt ist.

Nun, der Entscheidung des LG Magdeburg ist nichts hinzuzügen. Sie ist zutreffend.

Die des LG Arnsberg ist unzutreffend und eröffnet – wie überhaupt die Rechtsprechung zur Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung – der Einflussnahme des Richters auf die konkrete Person des Verteidigers Tür und Tor. Zum Hintergrund muss man wissen – so hat es mir der Kollege, der mir den Beschluss geschickt hat, mitgeteilt: Gegen den Mandanten war ein europäischer Haftbefehl erlassen und er in den Niederlanden beim Ermittlungsrichter vorgeführt worden. Der Kollege hatte sich unter Vollmachtsvorlage im Januar 2023 für den bereits früher von ihm vertretenen Mandanten (ebenfalls früher beigeordnet) bestellt und seine Beiordnung beantragt. Ein Fall der notwendigen Verteidigung lag erkennbar vor. Das AG Arnsberg ließ seinen Antrag, ebenso wie zwei seiner Erinnerungen schlicht unbeachtet.

Nachdem der Kollege die Akte von der Staatsanwaltschaft ohne Angabe von Gründen ebenfalls einen Monat nicht erhalten hat, hat der Mandant offenbar das Vertrauen verloren und beauftragte, ohne den Kollegen, zu informieren eine andere Kollegin, die ihre Beiordnung beantragte und beigeordnet wurde. Erst hiernach erhielt der Kollege eine Zuschrift vom Ermittlungsrichter, ob er nach der nunmehr vom Mandanten beauftragten Anwältin noch an meinem Antrag festhalten würde. Der Kollege hat sich auf den Standpunkt gestellt, dass er einer Umbeiordnung nicht entgegen treten werde. da inzwischen (wenige Tage zuvor) das Mandat beendet worden sei, dass er jedoch auf seiner Beiordnung bisher bestehe, da es keinen Grund gab, ihn nicht beizuordnen. Die o.a. Entscheidung ist das Resultat. Sie ist – im Grunde – eine Frechheit: Da passiert offenbar monatelang nichts – die StPO spricht von „unverzüglich“ – und dann wird eine anderer Rechtsanwalt beigeordnet und dem Antragsteller, den man schlicht – warum? Faulheit? Keine Lust? – ignoriert hat, wird dann gesagt: Nee, Rückwirkung gibt es nicht. Armselig.