Archiv der Kategorie: Hauptverhandlung

OWi III: „Sinnfreies“ Einkopieren des Akteninhalts, oder: Rechtlicher Hinweis nach Zurückverweisung?

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Und dann noch der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 21.02.2023 – IV – 2 RBs 18/23 –, der u.a. zwei Fragen behandelt, nämlich zunächst die zutreffende Begründung der Verfahrensrüge einer Rechtsbeschwerde und dann die Frage nach der Erforderlichkeit eines rechtlichen Hinweises (§ 265 StPO) nach Zurückverweisung:

„Das Amtsgericht hat den Betroffenen am 10. Februar 2022 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 38 km/h zu einer Geldbuße von 320 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat der Senat über dieses Urteil mit Beschluss vom 30. Mai 2022 wie folgt entschieden:

  1. Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben. Jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen mit Ausnahme derjenigen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen aufrechterhalten.
  2. Die weitergehende Rechtsbeschwerde wird als unbegründet verworfen.
  3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Duisburg zurückverwiesen.

Am 8. November 2022 hat das Amtsgericht den Betroffenen wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erneut zu eine Geldbuße von 320 Euro verurteilt und ein einmonatiges Fahrverbot verhängt. Hiergegen richtet sich dessen Rechtsbeschwerde, die sich auf Verfahrensrügen und die Sachrüge stützt.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet.

1. Die von dem Betroffenen erhobenen Verfahrensrügen erweisen sich als unzulässig, weil sie nicht in der nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotenen Form angebracht worden sind.

Die Rüge wegen Verletzung der Hinweispflicht umfasst 154 Seiten, wobei sinnfrei nahezu der gesamte Akteninhalt einkopiert worden ist. Von den 16 Seiten, die keine Aktenkopien darstellen, entfallen 13 Seiten auf jeweils wenige Zeilen umfassende Trennblätter, mit denen die nachgeheftete Ablichtung bezeichnet wird.

Bei der Rüge wegen Verletzung der Aufklärungspflicht wurde derselbe Akteninhalt mit denselben Trennblättern sinnfrei erneut in die Begründungsschrift eingefügt, so dass sich deren Papierumfang ohne Erkenntnisgewinn verdoppelt hat. Lediglich die Eingangsseite mit dem Obersatz und die beiden letzten Seiten unterscheiden sich inhaltlich von der vorherigen Verfahrensrüge.

Die mangelnde Eignung der gewählten „Gestaltung“ lässt sich exemplarisch daran ablesen, dass zu den beiden nunmehr erhobenen Verfahrensrügen jeweils die vollständige Begründungsschrift (83 Seiten) aus dem ersten Rechtsbeschwerdeverfahren einkopiert worden ist. Die dortigen Verfahrensrügen, die sich insbesondere gegen die Richtigkeit der Messung und die Verwertbarkeit des Messergebnisses richteten, sind für das zweite Rechtsbeschwerdeverfahren indes nicht relevant. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 30. Mai 2022 mit eingehender Begründung die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen mit Ausnahme derjenigen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen aufrechterhalten.

Das zweimalige Einkopieren der ihrerseits (teils doppelte) Aktenauszüge enthaltenden Begründungsschrift aus dem ersten Rechtsbeschwerdeverfahren hat im Übrigen zur Folge, dass sich in der vorliegenden Begründungsschrift nunmehr einige Akteninhalte in vierfacher oder gar sechsfacher Anzahl befinden.

Die unübersichtliche Begründungsschrift lässt einen Zusammenhang zwischen der jeweiligen Verfahrensrüge und den zweimal identisch einkopierten Akteninhalten weitgehend vermissen. Es ist nicht Aufgabe des Rechtsbeschwerdegerichts, sich die wenigen relevanten Unterlagen aus dem ca. 300 Seiten umfassenden Konvolut herauszusuchen und den Sachzusammenhang selbst herzustellen. Vielmehr wäre es erforderlich gewesen, bezogen auf die konkrete Verfahrensrüge (lediglich) den insoweit relevanten Verfahrensstoff mitzuteilen (vgl. zur Revision: BGH NStZ 2020, 625; NStZ 2023, 127). Daran fehlt es hier.

2. Ungeachtet dessen hätte die Rüge, dass nach der Zurückverweisung der Sache kein (erneuter) Hinweis auf die Möglichkeit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erfolgt ist, auch bei zulässiger Erhebung keinen Erfolg gehabt.

Das Amtsgericht hatte dem Betroffenen bereits im „ersten Durchgang“ mit der Ladung zu der Hauptverhandlung vom 10. Februar 2022 einen solchen Hinweis erteilt, da nach dem Bußgeldbescheid mangels Bezeichnung der Schuldform von dem Vorwurf fahrlässigen Handelns auszugehen war (vgl. OLG Bamberg DAR 2017, 383). Zudem ist der Betroffene am 10. Februar 2022 wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verurteilt worden. Bei dieser Sachlage bedurfte es nach der Zurückverweisung der Sache keiner Wiederholung des Hinweises auf die Möglichkeit einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Tatbegehung (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1971, 363; OLG Köln NJW 1957, 473; OLG Stuttgart MDR 1967, 233; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 265 Rdn. 14). Die Verurteilung wegen einer Vorsatztat beinhaltet den unmissverständlichen und fortwirkenden Hinweis, dass der Betroffene auch im weiteren Verfahren – sei es nach Zurückverweisung der Sache, sei es in einer höheren Instanz – mit einer solchen rechtlichen Bewertung seiner Tat rechnen muss…..“

Corona I: Rausschmiss wegen fehlender Maske, oder: Keine Zulassung der Rechtsbeschwerde

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Ich starte in die 11. KW. mit zwei Entscheidungen zu Corona. Über die Thematik habe ich längere Zeit nicht mehr berichtet. Das zeigt, dass die Pandemie wohl doch im Abklingen ist und zudem viele Fragen, die sich gestellt haben, inzwischen obergerichtlich geklärt worden sein dürften. Heute habe ich dann allerdings noch einmal zwei Entscheidungen, aber auch das sind „Aufarbeitungsentscheidungen“.

Zunächst stelle ich hier den OLG Oldenburg, Beschl. v. 17.01.2023 – 2 Ss(OWi) 8/23 – vor. Er nimmt Stellung zu sitzungspolizeilichen Anordnungen (Aufsetzen einer Mund-Nasen-Bedeckung) und Maßnahmen (Saalverweis) gegen einen Verteidiger im Bußgeldverfahren. Wegen dieser Fragen war die Zulassung der Rechtsbeschwerde beantraft worden. Das OLG hat den Antrag zurückgewiesen:

„Gründe für die Zulassung der Rechtsbeschwerde liegen nicht vor.

Zwar kommt bei Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze, wozu auch das Recht auf Mitwirkung eines Verteidigers gehört, eine Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung in Betracht. Eine solche Verletzung lässt sich der Verfahrensrüge aber nicht entnehmen:

Ein Vorsitzender war zu Hochzeiten der Pandemie gem. § 176 GVG grundsätzlich berechtigt, vom Verteidiger das Aufsetzen einer Mund-Nasen-Bedeckung zu verlangen (vergleiche OLG Celle, NdsRpfl 2021, 251; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 9.8.2021, 202 ObOWi 860/21, juris). Ob diese Anordnung allerdings auch im Oktober 2022 noch ermessensfehlfrei gewesen ist, erscheint zweifelhaft, da bereits ab 3.4.2022 in Niedersachsen die generelle Maskenpflicht für Innenräume weggefallen war. Das kann aber dahinstehen, da sich der Verteidiger der Anordnung letztlich gebeugt und an der Verhandlung nach kurzer Abwesenheit weiter teilgenommen hat.

Sollte der Verteidiger zuvor des Saales verwiesen worden sein, könnte dies -eine Angemessenheit der Anordnung unterstellt im Hinblick auf § 177 GVG problematisch sein, da dort Verteidiger nicht genannt sind und eine Ausnahme vom BGH (NJW 1977, 437) nur für Extremfälle als denkbar angesehen worden ist. Andererseits ist zu berücksichtigen, dass sogar die Pflicht zum Tragen einer Robe bei grundsätzlicher Weigerung in Anwendung des § 176 GVG zur Zurückweisung für die Sitzung führen kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 65. Aufl. § 176 GVG RN 11). Ob die „Roben-Rspr.“ auch auf die Missachtung einer Anordnung, die dem Gesundheitsschutz dient, übertragen werden kann, ist gleichwohl zweifelhaft, auch wenn eine Aussetzung der Verhandlung und Auferlegung der Kosten nach § 145 Abs. 4 StPO allenfalls beim Pflichtverteidiger oder zumindest notwendiger Verteidigung in Betracht kommt (ablehnend: Kirch-Heim, Die Störung der Hauptverhandlung, NStZ 2014, 431).

Soweit die Generalstaatsanwaltschaft in diesem Zusammenhang auf den Beschluss des Senats vom 3.1.2022 (MDR 2022, 272) verweist, war die Anordnung von Ordnungsmitteln dort deshalb zulässig, weil – nicht: selbst dann, wenn – der Rechtsanwalt sich selbst verteidigt hat.

Ob ein Verweis aus dem Saal unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt -Extremfall oder Anwendung der „Roben-Rspr.“- rechtmäßig gewesen wäre, bedarf aber ebenfalls keiner Klärung.

Eine Verletzung des Rechts auf Verteidigung hätte allenfalls dann angenommen werden können, wenn nach Verweis des Verteidigers aus dem Saal ein Antrag auf Unterbrechung bis zur -nach ca. 4 Minuten erfolgten Beschaffung einer Maske gestellt und abgelehnt worden wäre. Dass ein solcher Antrag gestellt worden ist, wird jedoch nicht geltend gemacht.

Soweit der Verteidiger insbesondere rügt, die Anordnung der Maskenpflicht sei deshalb unzulässig gewesen, weil er über ein Attest, dass ihn von dieser Pflicht befreie, verfüge, ist die Rüge unter diesem Gesichtspunkt nicht ordnungsgemäß ausgeführt worden, weil der nähere Inhalt des Attestes nicht mitgeteilt wird, so dass der Senat nicht prüfen kann, ob das Amtsgericht überzogene Anforderungen an den Inhalt gestellt hat.

Der Senat weist darauf hin, dass er zumindest für zukünftige Hauptverhandlungen die Anordnung einer Maskenpflicht, von Ausnahmefällen -z.B. einer akuten Atemwegsinfektion der betreffenden Person abgesehen, als ermessensfehlerhaft ansehen würde, wobei in diesen Ausnahmefällen eine Maske gestellt oder Gelegenheit zur Beschaffung gegeben werden müsste.“

Nebenklage III: Anfechtung der Kostenentscheidung, oder: Statthaftigkeit und/oder Beschwer

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Und dann zum Schluss des Tages hier noch der OLG Braunschweig, Beschl. v. 19.01.2023 – 1 Ws 309/22. Der behandelt zwei Fragen. Ich stelle ihn heute wegen der Anfechtung einer/der Kostenscheidung durch den Nebenkläger vor, wegen der anderen Frage komme ich auf den Beschluss noch einmal zurück.

In dem Verfahren sind die beiden Angeklagten durch Urteil des AG wegen einer gefährlichen Körperverletzung, begangen zum Nachteil des Nebenklägers, zu Geldstrafen verurteilt worden. Die notwendigen Kosten des Nebenklägers wurden den Angeklagten auferlegt.

Gegen dieses Urteil haben beide Angeklagte zunächst Berufung eingelegt, diese aber mit anwaltlichen Schreiben wieder zurückgenommen. Das LG hat den beiden Angeklagten gemäß § 473 Abs. 1 StPO die Kosten der Berufung und ihre Auslagen auferlegt. Eine Entscheidung über die Auferlegung der notwendigen Auslagen des Nebenklägers ist unterblieben. Der Nebenkläger wendet sich dann mit seiner sofortigen Beschwerde gegen die unterlassene Entscheidung über seine eigenen notwendigen Auslagen.

Die GStA hat beantragt, auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers die Kosten- und Auslagenentscheidung des LG dahingehend zu ergänzen, dass die Angeklagten die dem Nebenkläger im Berufungsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen haben. Die Angeklagten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Einer der Angeklagte hat dabei  u.a. vorgetragen, die sofortige Beschwerde sei gemäß § 464 Abs. 3 Satz 1, 2. Halbsatz i. V. m. § 400 StPO nicht zulässig.

Das Rechtsmittel hatte beim OLG Erfolg:

„1. Die sofortige Beschwerde ist zulässig. Sie ist formgerecht innerhalb der Wochenfrist des § 311 Abs. 2 StPO eingegangen und auch nach § 464 Abs. 3 StPO statthaft. Der Statthaftigkeit steht im vorliegenden Fall § 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz StPO nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift ist eine sofortige Beschwerde gegen die Kostenentscheidung unzulässig, wenn ein Rechtsmittel in der Hauptsache nicht statthaft ist. Das ist trotz § 400 Abs. 1 StPO und der durch die Berufungsrücknahmen rechtskräftigen erstinstanzlichen Verurteilungen der Angeklagten wegen der Tat, für die der Nebenkläger anschlussberechtigt war, nicht der Fall.

Der Senat hat sich bereits mit Beschluss vom 10. Februar 2021 (Az. 1 Ws 289/20, nicht veröffentlicht) der Ansicht angeschlossen, dass die §§ 464 Abs. 3 S. 1, 2. Halbsatz, 400 Abs. 1 StPO der Anfechtung der Kostenscheidung durch den Nebenkläger nicht entgegenstehen. § 400 Abs. 1 StPO beseitigt nicht die Statthaftigkeit eines Rechtsmittels, sondern versagt dem Nebenkläger nur für einen bestimmten Fall die Beschwer (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Oktober 1998, Az.: 3 Ws 464 – 466/98, Rn. 4; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. August 2002, Az.: 5 Ws 54/02, Rn. 5; OLG Naumburg, Beschluss vom 21. September 2001, Az.: 1 Ws 329/01, Rn. 12; OLG Jena, Beschluss vom 22. Januar 2010, 1 Ws 525/09, Rn. 12 ff.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 2. Oktober 2012, Az.: 4b Ws 25/12, Rn. 5, jeweils zit. nach juris). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 464 Abs. 3 S. 1, 2. HS StPO kommt es jedoch nur auf die Statthaftigkeit an, sodass sonstige Zulässigkeitshindernisse außer Betracht bleiben.

Zwar betraf die Entscheidung des Senats vom 10. Februar 2021 konkret lediglich den Fall, dass die Berufung des Angeklagten nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen wurde und nicht die hier vorliegende Fallgestaltung, bei der die Berufungen der Angeklagten zurückgenommen wurden. Auch in diesem Fall wäre aber ein ohne die Berufungsrück-nahmen ergangenes Urteil der Berufungskammer für den Nebenkläger grundsätzlich gemäß § 401 StPO mit der Revision anfechtbar, sodass ein Rechtsmittel gegen die Hauptentscheidung und damit auch gegen die Kostenentscheidung statthaft gewesen wäre. Bei der aufgrund der Berufungsrücknahme ergangenen Kostenentscheidung kann nichts anderes gelten (OLG Hamburg, Beschluss vom 9. Juni 2015, Az.: 1 Ws 69/15, Rn. 6; OLG Hamm, Beschluss vom 12. Juli 2001, Az.: 2 Ws 141/01, Rn. 7; KG, Beschluss vom 26. Mai 2000, Az.: 3 Ws 112/00, jeweils zit. nach juris).

Der Wert des Beschwerdegegenstandes, der sich nach dem voraussichtlichen (Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. 2023, § 304, Rn. 32 m. w. N., zit. nach beck-online) Kosten- und Auslagenbetrag bestimmt, dürfte den Wert von 200,- Euro (§ 304 Abs. 3 StPO) selbst dann übersteigen, wenn die Verfahrensgebühr des Nebenklägervertreters für das Berufungsverfahren gemäß Nr. 4124 VV RVG zuzüglich Auslagenpauschale und Umsatzsteuer wegen des bis zur Rücknahme eher geringen Umfangs der vom Nebenklägervertreter entfalteten Tätigkeit maßvoll bemessen wird.

Diese Gebühr ist auch schon entstanden…….“

Nebenklage II: Bewilligung von PKH für die Nebenklage, oder: Psychische Betroffenheit und Waffengleichheit

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Die zweite Entscheidung zur Nebenklage, der LG Stade, Beschl. v. 20.02.2023 – 102 Qs 55/22 – nimmt Stellung zur Gewährung von Prozesskostenhilfe für den Nebenkläger zur Hinzuziehung eines Rechtsanwalts.

Die Staatsanwaltschaft führt gegen den Angeklagten ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung. Dem Beschuldigten wird dabei zur Last gelegt, am 20.01.2022 gegen 23:45 Uhr in Stade auf offener Straße gewalttätig gegenüber seiner damaligen Lebensgefährtin, der Nebenklägerin, gewesen zu sein. Nach Abschluss der Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Beschuldigten erhoben. Das AG Stade das Hauptverfahren vor dem Strafrichter eröffnet.

Mit Schreiben vom 21.07.2022 teilt der Kollege Breu, der mir den Beschluss geschickt hat, mit, dass er die Nebenklägern vertrete und erklärt den Anschluss der Nebenklage. Zudem beantragt er, als Beistand bestellt zu werden. Das AG hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter der Beiordnung des Kollegen dann aber zurückgewiesen. Dagegen das Rechtsmittel der Nebenklägerin, das beim LG Erfolg hatte:

„Die zulässige Beschwerde hat Erfolg. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe liegen vor.

Gemäß § 397a Abs. 2 StPO ist dem Nebenkläger auf Antrag Prozesskostenhilfe für die Bestellung eines anwaltlichen Beistands zu bewilligen, wenn er mittellos ist und seine Interessen selbst nicht ausreichend wahrnehmen kann oder ihm dies nicht zuzumuten ist. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet sich dabei grundsätzlich nach den Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, also nach den §§114 ff. ZPO.

Die Nebenklägerin ist im Sinne der §§ 114, 115 ZPO nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten eines Rechtsanwaltes aufzubringen. Die Nebenklägerin ist Studentin und erhält Unterhaltszahlungen in Höhe von 429,00 Euro von ihrem Vater sowie Kindergeld in Höhe von 219,00 Euro. Darüber hinaus verdient sie im Rahmen eines Nebenjobs 205,00 Euro. Die monatlichen Wohnkosten der Nebenklägerin belaufen sich auf 130,00 Euro und 32,00 Euro fallen für das Semesterticket an. Auch verfügt die Nebenklägerin nicht über ein Vermögen, das die Grenze des § 90 Abs. 2 Nr. 1 SGB XII übersteigen würde, sodass Mittellosigkeit im Sinne der Vorschriften vorliegt.

Ferner muss die Nebenklägerin entweder unfähig sein, ihre Interessen ausreichend wahrzunehmen oder es muss ihr unzumutbar sein. Die Unfähigkeit der Nebenklägerin ihre Interessen selber ausreichend wahrzunehmen, etwa aufgrund eingeschränkter geistiger Kräfte, ist auch aus Sicht der Kammer nicht ersichtlich. Die eigene Wahrnehmung ihrer Interessen ist ihr jedoch nicht zuzumuten.

Die Unzumutbarkeit der eigenen Interessenswahrnehmung stellt im Wesentlichen auf die psychische Betroffenheit der Nebenklägerin durch die Tat ab, diese sie also unvertretbar belasten würde (Valerius in: MüKo StPO, 1. Aufl. 2019, § 397a Rn. 27; Wenske in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2014, § 397a Rn. 14). Dies kann insbesondere bei Opfern von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung sowie von schwerwiegenden Nachstellungen eine Rolle spielen. Vorliegend ist die Nebenklägerin mutmaßlich Opfer einer gefährlichen Körperverletzung geworden, sodass grundsätzlich kein Fall vorliegt, in dem die Unzumutbarkeit im Sinne von § 397a Abs. 2 StPO regelmäßig vorliegen dürfte. Die Nebenklägerin führte mit dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt jedoch eine Liebesbeziehung, die erst im Anschluss an den angeklagten Vorfall endete. Die in der Anklage beschriebenen Gewalteinwirkungen durch den Angeklagten auf die Nebenklägerin sind von erheblichem Ausmaß und weisen zudem eine hohe Brutalität auf. Aus Sicht der Kammer dürfte bereits die Tat als solche, gerade auch weil sie innerhalb der Beziehung geschehen sein soll, eine erhebliche psychische Betroffenheit der Nebenklägerin nahelegen. Im Übrigen zeigt sich das Vorliegen einer hohen psychischen Betroffenheit aber auch dadurch, dass unmittelbar im Anschluss an den Vorfall im Elbeklinikum ein psychiatrisches Gespräch mit der Nebenklägerin geführt wurde, ein solches durch den behandelnden Arzt aufgrund des Gesamteindrucks von der Nebenklägerin also offensichtlich für notwendig erachtet wurde. Zudem nimmt die Nebenklägerin Unterstützung durch die Opferhilfe in Anspruch.

Hinzu kommt der Umstand, dass der Angeklagte einen Pflichtverteidiger hat. Zwar ist § 121 Abs. 2 StPO nicht anwendbar, sodass allein der Umstand, dass der Angeklagte einen Pflichtverteidiger hat, kein zwingender Grund für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist. Die Hauptverhandlung und insbesondere die Zeugenaussage dürfte für die Nebenklägerin aber ohnehin eine hohe Belastung darstellen, die sich durch die Anwesenheit eines Pflichtverteidigers auf Seiten des Angeklagten bei Ausbleiben eines eigenen anwaltlichen Beistands verstärken dürfte und ihr daher im Ergebnis nicht zuzumuten ist.“

BVerfG II: Dreitagefrist für Aktenvorlage in Haftsachen, oder: Verzögerung nicht so schlimm, kann ja passieren

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Die zweite Entscheidung des BVerfG kommt aus dem Bereich des Haftrechts. Das BVerfG hat im BVerfG, Beschl. v. 23.01.2023 – 2 BvR 1343/22 – zu der Frage Stellung genommen, welche Auswirkungen die Verzögerung eines Haftbeschwerdeverfahrens hat. Hier war es (mal wieder) die häufig anzutreffende Überschreitung der Dreitagesfrist des § 306 Abs 2 Halbs 2 StPO, also Vorlage an das Beschwerdegericht.

Das BVerfG meint: Alles nicht so schlimm, kann ja mal passieren, vor allem, wenn die Verzögerung „nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet“ ist. Also: selbst Schuld:

„Soweit der Beschwerdeführer sich gegen den im Haftbeschwerdeverfahren ergangenen Beschluss des Kammergerichts vom 5. Juli 2022 wendet, ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet.

1. Zwar hat das Kammergericht zutreffend einen Verstoß des Landgerichts gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO angenommen. Erachtet das Gericht oder der Vorsitzende, dessen Entscheidung angefochten wird, eine Beschwerde für begründet, so haben sie ihr abzuhelfen. Andernfalls ist die Beschwerde nach § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO sofort, spätestens vor Ablauf von drei Tagen, dem Beschwerdegericht vorzulegen. Dies ist vorliegend nicht geschehen.

2. Allerdings führt nicht jeder Verstoß gegen § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO in einem Haftbeschwerdeverfahren schon für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Fortdauer von Untersuchungshaft (vgl. KG, Beschluss vom 27. Oktober 2014 – 2 Ws 360/14 -, NStZ-RR 2015, S. 18; LG Nürnberg-Fürth, Beschluss vom 12. Juni 2019 – 18 Qs 20/19 -, BeckRS 2019, S. 41863, Rn. 16; OLG Naumburg, Beschluss vom 8. August 2000 – 1 Ws 359/00 -, juris, Rn. 6; KG, Beschluss vom 15. März 2019 – 4 Ws 24/19121 AR 47/19 -, BeckRS 2019, S. 4693, Rn. 39). Die Ausführungen des Kammergerichts lassen hinreichend erkennen, dass ihm bei Beurteilung dieser Frage Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bewusst waren und es diese in seine Abwägung miteinbezogen hat. Es hat ausgeführt, die verspätete Vorlage von rund einem Monat sei offensichtlich versehentlich erfolgt und nicht ausschließbar einer unübersichtlichen Zusammenstellung des Beschwerdekonvoluts geschuldet. Ein sachlicher Grund für die verzögerte Bearbeitung sei genauso wenig ersichtlich wie „strukturelle Defizite auf Seiten des Gerichts“. Da die Weiterleitung vom Gericht über die Staatsanwaltschaft an die Generalstaatsanwaltschaft am Tag der verspäteten Nichtabhilfeentscheidung und der entsprechenden Vorlageverfügung erfolgt sei, sei der festgestellte Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot „bei einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen Umstände“ noch nicht geeignet, den Bestand des Haftbefehls in Frage zu stellen. Dagegen ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern, zumal die Nichtabhilfeentscheidung ihrerseits unverzüglich nach Feststellung des Versäumnisses getroffen worden ist und die Kammervorsitzende in ihrer Vorlageverfügung mit der Bitte „um schnellstmögliche Weiterleitung“ auf das Beschleunigungsbedürfnis besonders hingewiesen hat.

3. In Anbetracht der Verfahrensabläufe hat sich die eingetretene Verzögerung des Rechtsschutzes auf die Fortdauer der Untersuchungshaft zudem nicht entscheidend ausgewirkt. Die Untersuchungshaft des Beschwerdeführers hat sich aufgrund der verzögerten Aktenvorlage im Haftbeschwerdeverfahren im Ergebnis nicht verlängert. Es kann ausgeschlossen werden, dass das Kammergericht, wäre es früher mit der Sache befasst worden, eine dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Fortdauer der Untersuchungshaft günstigere Entscheidung getroffen hätte. Eine auf der verspäteten Vorlage beruhende Verfahrensverzögerung im – parallel zum Haftbeschwerdeverfahren durchgeführten – Revisionsverfahren ist weder dargetan noch sonst ersichtlich.

4. Im Übrigen ist auch für das besondere Haftprüfungsverfahren nach §§ 121, 122 StPO in Rechtsprechung und Schrifttum anerkannt, dass eine verspätete Aktenvorlage an das Oberlandesgericht unter Überschreitung der sogenannten Sechsmonatsfrist für sich genommen noch keine Pflicht zur Aufhebung des Haftbefehls oder zu dessen Außervollzugsetzung begründet (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Mai 2022 – 3 StR 181/21 -, Rn. 39; OLG Hamm, Beschluss vom 21. August 2007 – 3 OBL 86/07 <42> <3 Ws 486/07> -, NJW 2007, S. 3220 <3221>; Gärtner, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2019, § 121 Rn. 41). Das Bundesverfassungsgericht hat diese fachgerichtliche Rechtsauffassung unbeanstandet gelassen (vgl. BVerfGE 42, 1 <9 f.>). Es ist nicht ersichtlich, weshalb für die Überschreitung der Vorlagepflicht aus § 306 Abs. 2 Halbsatz 2 StPO im Haftbeschwerdeverfahren strengere Maßstäbe gelten sollten. Dies gilt umso mehr, als gegen den Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der angegriffenen Haftentscheidung bereits ein (noch nicht rechtskräftiges) Strafurteil vorlag, wohingegen im Verfahren der besonderen Haftprüfung durch das Oberlandesgericht gerade noch kein auf Freiheitsentziehung lautendes Urteil ergangen ist (vgl. § 121 Abs. 1 StPO).“

Die Entscheidung werden Verteidiger jetzt demnächst immer entgegen gehalten bekommen. Sie ist in meinen Augen eine Art Freibrief, denn irgendeinen – nachvollziehbaren – Grund für die verzögerte Vorlage wird es immer geben. „Versehentlich“ hin oder her. In der StPO steht nun mal eine Frist. Was soll diese Regelung, wenn die Überschreitung der Frist nicht „sanktioniert“ wird. Das würde zur Eile anhalten. Und ja ich weiß: Die Regelung wird als bloße „Ordnungsvorschrift“ angesehen, was aber m.E. mit. der Formulierung: „ist…. vorzulegen“ nicht zu vereinbaren ist.

Wenn das BVerfG wegen der Fristüberschreitung schon nicht zur Unverhältnismäßigkeit der weiteren Haft kommt, dann hätte man aber zumindest doch einen deutlichen Mahn-/Weckruf erteilen können und auf die Bedeutung der Frist im Hinblick auf „Inhalt und Tragweite des Anspruchs des Beschwerdeführers auf effektiven Rechtsschutz gemäß Art. 19 Abs. 4 GG und seines Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG“. Dazu fehlt dann aber offenbar der Mut.