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OWi II: Nach Wiedereinsetzung startet Verjährung neu, oder: Ausreichende Entschuldigungsgründe dargetan?

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Und dann als zweite Entscheidung der BayObLG, Beschl. v. 28.03.2023 – 202 ObOWi 314/23. Ergangen ist erin einem Verfahren, in dem dem Betroffenen ein Abstandsvertsoß zur Last gelegt worden ist. Das AG hat dann Hauptverhandlung anberaumt, nachdem der Betroffene Einspruch gegen den Bußgeldberscheid eingelegt hatte. Als der Betroffene in der Hauptverhandlung nicht erschienen ist, hat es den Einspruch gem. § 74 Abs. 2 OWiG verworfen. Dagegen die Rechtsbeschwerde, die Erfolg hatte. Erfolg allerdings nicht wegen Eintritts der Verfolgsverjärung, was auch die GStA München angenommen hatte, sondern wegen nicht ausreichender Urteilsgründe:

„1. Eine Einstellung des Verfahrens kommt nicht in Betracht, weil das Verfahrenshindernis der Verfolgungsverjährung nicht eingetreten ist.

a) Die Verjährungsfrist betrug zunächst 3 Monate (§ 26 Abs. 3 Satz 1 StVG) und begann mit Beendigung der Handlung (§ 31 Abs. 3 Satz 1 OWiG), hier also am 18.06.2020. Die Verjährung wurde jedenfalls durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020, der dem Betroffenen am 17.09.2020 zugestellt wurde, unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 9 OWiG), sodass ab diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 StVG 6 Monate betrug.

b) Entgegen der Ansicht der Generalstaatsanwaltschaft wurde die 6-monatige Verjährungsfrist durch den Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 rechtzeitig unterbrochen (§ 33 Abs. 1 Satz 1 Nr. 10 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1 OWiG).

aa) Zwar lagen zwischen der vorhergehenden Unterbrechungshandlung durch den Erlass des Bußgeldbescheids am 15.09.2020 und dem Akteneingang beim Amtsgericht am 15.04.2021 mehr als 6 Monate.

bb) Gleichwohl war die Verjährungsfrist zum letztgenannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen. Denn die durch die Zentrale Bußgeldstelle am 24.11.2020 bewilligte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist hatte zur Folge, dass die Verjährungsfrist neu zu laufen begann (vgl. BayObLG, Beschl. v. 16.03.2004 – 2 ObOWi 7/2004 = BayObLGSt 2004, 33 = DAR 2004, 281 = VRS 106, 452 [2004]; Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 = BayObLGSt 1953, 179; OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.01.1978 – 1 Ws (B) 36/78 OWiG = BeckRS 2014, 21126; KG, Beschl. v. 04.04.2017 – 3 Ws (B) 43/17 = StraFo 2017, 460; OLG Naumburg, Beschl. v. 04.01.1995 – 1 Ss (B) 254/94 = VRS 88, 456 [1995]; BeckOK OWiG/Gertler OWiG § 31 Rn. 18; KK-OWiG/Ellbogen 5. Aufl. § 31 OWiG Rn. 37; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg StPO 27. Aufl. 2016 § 46 Rn. 13; Gürtler/Thoma in Göhler OWiG 18. Aufl. Vor § 31 Rn. 2b; Schmidt in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar 12. Aufl. 2007 § 78 Rn. 10). Mit der Rechtskraft des Bußgeldbescheids, die (zunächst) aufgrund des Ablaufs der Einspruchsfrist eingetreten war, bestand für eine Verfolgungsverjährung nach § 31 OWiG kein Raum mehr; vielmehr lief stattdessen die Frist für die Vollstreckungsverjährung nach § 34 OWiG (OLG Hamm, Beschl. v. 23.05.1972 – 5 Ss OWi 363/72 = NJW 1972, 2097 = MDR 72, 885). Eine neue Verfolgungsverjährung kann in Fällen, in denen das Verfahrensrecht einen Eingriff in die Rechtskraft zulässt, erst zu dem Zeit-punkt beginnen, in dem das rechtskräftige verurteilende Erkenntnis beseitigt wird (BayObLG, Urt. v. 07.10.1953 – 1 St 333/53 a.a.O.). Dies hat zur Folge, dass mit der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, die zur Beseitigung der bis dahin eingetretenen Rechtskraft des Bußgeldbescheids führte, die bei Eintritt der Rechtskraft des Bußgeldbescheids noch nicht abgelaufene Frist für die Verfolgungsverjährung neu zu laufen begann. Mit der Gewährung von Wieder-einsetzung in den vorigen Stand vor Versäumung der Einspruchsfrist durch die Entscheidung der Verwaltungsbehörde vom 24.11.2020 wurde die Rechtskraft des Bußgeldbescheids nachträglich beseitigt. Dies hatte aber nicht etwa zur Folge, dass die ursprüngliche Frist für die Verfolgungs-verjährung gleichsam rückwirkend wieder lief. Andernfalls würden für den säumigen Betroffenen Vorteile geschaffen, die er ohne seine Säumnis nicht gehabt hätte, was mit dem Zweck der Wiedereinsetzung nicht vereinbar wäre (OLG Hamm a.a.O.). Durch das Recht der Wiedereinsetzung sollen zwar dem Betroffenen, der unverschuldet eine Frist versäumt hat, keine Nachteile entstehen, eine Besserstellung seiner Rechtsposition ist durch die Vorschriften über die Wiedereinsetzung aber nicht intendiert.

2. In der Folgezeit wurden jeweils weitere Unterbrechungshandlungen vor Ablauf der 6-monatigen Verjährungsfrist nach § 33 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 11 OWiG rechtzeitig vorgenommen bis zu dem ersten in dem Verfahren nach § 74 Abs. 2 OWiG ergangenen Verwerfungsurteil des Amtsgerichts vom 27.01.2022. Seit diesem Zeitpunkt ist der Verjährungsablauf gemäß § 32 Abs. 2 OWiG gehemmt. Der Umstand, dass auf Antrag des Betroffenen in der Folgezeit wegen Versäumung dieser Hauptverhandlung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 74 Abs. 4 OWiG durch die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 30.09.2022 bewilligt wurde, beseitigte die Ablaufhemmung nicht (OLG Hamm, Beschl. v. 15.07.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = BeckRS 2008, 18098; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 19.01.2018 – 1 OWi 2 Ss Bs 84/17 OLGSt OWiG § 74 Nr 24; 09.07.2002 – 1 Ss 74/02 = BeckRS 2002, 31129484; KG, Beschl. v. 15.12.2021 – 3 Ws (B) 304/21 = BeckRS 2021, 45818).

3. Die Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG hält rechtlicher Überprüfung nicht stand, weil das Amtsgericht hinreichendes Entschuldigungsvorbringen vor der Hauptverhandlung rechtsfehlerhaft übergangen hat.

Dabei kommt es nicht darauf an, dass das Amtsgericht in unzulässiger Weise die Gründe des Urteils, die bereits vollständig im Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen waren, in einer weiteren Urteilsurkunde ergänzt hat. Die Urteilsgründe rechtfertigen die Verwerfung des Einspruchs gegen den Bußgeldbescheid nicht, weil der Betroffene hinreichend entschuldigt im Sinne des § 74 Abs. 2 OWiG war. Denn hierfür ist es ausreichend, dass er schlüssig Umstände vorträgt, die ihm die Teilnahme an der Hauptverhandlung unzumutbar machen; eine Nachweispflicht trifft den Betroffenen nicht (vgl. nur BayObLG, Beschl. v. 06.09.2019 – 202 ObOWi 1581/19 = OLGSt OWiG § 74 Nr 26 m.w.N.). Die mit Schriftsatz der Verteidigerin vom 13.12.2022 vor der Hauptverhandlung dem Amtsgericht mitgeteilten Gründe stellten bei vernünftiger Betrachtung ohne weiteres einen Entschuldigungsgrund in diesem Sinne dar, weil dort – neben dem Hinweis auf einen positiven Covid-19-Test – explizit vom „hohem Fieber, Erbrechen, Durchfall und schweren Erkältungssymptomen“ gesprochen wurde, was eine Unzumutbarkeit der Anreise und der Teilnahme des Betroffenen an der Hauptverhandlung bei verständiger Würdigung zweifelsfrei begründete. Über diesen Vortrag hat sich das Amtsgericht mit neben der Sache liegenden Erwägungen, nämlich unter Rekurs auf den fehlenden Nachweis der geltend gemachten Erkrankungssymptome und auf die nicht mehr bestehende Isolationspflicht in Bayern bei einer Infektion mit dem Coro-na-Virus, hinweggesetzt. Es hat dabei dem Vortrag des Betroffenen, dem es nicht darum ging, sich zu isolieren, sondern der geltend machen wollte, aufgrund krankheitsbedingter Beschwerden nicht zur Hauptverhandlung anreisen und an ihr teilnehmen zu können, kein Gehör geschenkt und zudem verkannt, dass den Betroffenen keine Nachweispflicht trifft.“

Schöffen II: Schöffe meldet seinen Umzug nicht, oder: Kein Ordnungsgeld, wenn das keine Folgen hat

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 06.03.2023 – 1 Ws 111/22 – nimmt das OLG Stellung zur Auferlegung eines Ordnungsgeldes (§ 56 GVG) und der Kosten auf eine Schöffin. Die war verzogen und hatte ihren Umzug dem LG nicht mitgeteilt. Daher war die schriftliche Ladung zu einem Hauptverhandlungstermin mit dem Vermerk des Zustellers „Empfänger verzogen“ in den Postrücklauf des Landgerichts gelangt. Da die Schöffin jedoch telefonisch über den 1. Hauptverhandlungstermin informiert werden konnte, war sie zur Hauptverhandlung erschienen und hatte an der Hauptverhandlung teilgenommen. Erst danach ist die unterlassene Anzeige des Umzugs aufgefallen.Die Strafkammer hat dann ein Ordnungsgeld in Höhe von 100,00 EUR festgesetzt und der Schöffing die ggf. entstandenen Mehrkosten des Verfahrens auferlegt.

Dagegen die Beschwerde der Schöffin, die Erfolg hatte:

„2. In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg; die Auferlegung eines Ordnungsgeldes und der durch die Durchführung des Hauptverhandlungstermins vom 28. September 2022 entstanden Mehrkosten an die Beschwerdeführerin hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

a) § 56 Abs. 1 Satz 1 GVG normiert, dass „gegen Schöffen […] die sich ohne genügende Entschuldigung zu den Sitzungen nicht rechtzeitig einfinden oder sich ihren Obliegenheiten in anderer Weise entziehen […] ein Ordnungsgeld festgesetzt“ wird. Nach § 56 Abs. 2 Satz 2 GVG werden „zugleich“ „ihnen auch die verursachten Kosten auferlegt“. Ein Ermessen auf Rechtsfolgenseite räumt die Bestimmung nicht ein, liegen ihre Voraussetzungen vor, sind die normierten Folgen zwingend auszusprechen.

Welche sonstigen Obliegenheiten von dieser Vorschrift umfasst sind, ist darin nicht näher geregelt. Aus dem Oberbegriff des nicht rechtzeitigen Einfindens zu den Sitzungen wird deutlich, dass die Vorschrift des § 56 Abs. 1 GVG ausschließlich der Sicherung der Hauptverhandlung dient. Entsprechend können „Obliegenheiten“, deren sich der Schöffe „in anderer Weise entzieht“ nur solche sein, die das Hauptverfahren sichern.

Um einer uferlosen Ausweitung dieses Begriffs entgegenzuwirken, sind darunter nur solche prozessualen Mitwirkungspflichten zu verstehen, die gewährleisten, dass das Gericht in ordnungsgemäßer Besetzung nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verhandeln und entscheiden kann (KG, Beschluss vom 31. Juli 2020, 3 Ws 157/20, Rz. 11, zit. n. juris; KG, Beschluss vom 08. April 1999, 4 Ws 35/99, 1 AR 1657/96, Rn. 2, NStZ 1999, 427; OLG Frankfurt NJW 1992, 3183; OLG Frankfurt NStZ 1990, 503; Barthe in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Auflage, zu § 56 GVG, Rz. 3; Schuster in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Auflage, zu § 56 GVG, Rz. 5; Gittermann in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, zu § 56 GVG, Rz. 4); maßgeblich ist mithin, ob eine Obliegenheitsverletzung zu einer Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung geführt hat.

Unter Berücksichtigung der vorstehenden Grundsätze sind die Verhängung von Ordnungsgeld und die Auferlegung von Kosten nicht zu rechtfertigen.

(1.) Es kann dahin gestellt bleiben, ob die Nichtanzeige des Wohnungswechsels außerhalb des Landgerichtsbezirks eine Obliegenheitsverletzung darstellt und ob ggf. eine leichte Fahrlässigkeit – wie wohl vorliegend – ausreichend oder zur Vermeidung einer uferlosen Ausdehnung der Norm eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Begehungsweise zu fordern ist (vgl. dazu OLG Frankfurt NStZ 1990, 503 f.). Jedenfalls führte das Unterlassen der Anzeige des Wohnungswechsels am 28. September 2021 weder zu einer Unterbrechung noch zu einer Aussetzung der Hauptverhandlung am 28. September 2021. Zwar ist die an die Beschwerdeführerin gerichtete Terminladung als „nicht zustellbar“ in Rücklauf geraten, jedoch konnte sie durch die Geschäftsstelle noch rechtzeitig mündlich über den Hauptverhandlungstermin informiert werden, so dass die Hauptverhandlung an diesem Tag in Anwesenheit der Beschwerdeführerin durchgeführt werden konnte.

(2.) Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin an den Fortsetzungsterminen nicht hätte teilnehmen wollen, sind nicht ersichtlich; ihre Teilnahme im Termin am 28. September 2021 spricht dagegen. Der Aussetzungsbeschluss der Kammer vom 1. Oktober 2021 war nicht veranlasst, da eine etwaige spätere Streichung der Beschwerdeführerin aus der Schöffenliste die Revision nicht begründen kann. Denn die Unanfechtbarkeit der Streichung aus der Hauptschöffenliste gem. § 52 Abs. 4 GVG (vgl. dazu OLG Koblenz NStZ-RR 2015, 122; siehe auch BGHSt 30, 255f.; RGSt 39, 306) führt zwar zu einer Änderung der Kammerbesetzung für noch bevorstehende Hauptverhandlungen, jedoch kann die Besetzungsrüge (§ 338 Nr. 1 StPO) nicht auf eine Entscheidung über die Streichung gestützt werden (vgl. § 336 S. 2 StPO), wenn es sich nicht um einen Fall der Entziehung des gesetzlichen Richters handelt. Eine Richterentziehung würde bei alledem bei einer auf einem Verfahrensirrtum beruhenden gesetzwidrigen Besetzung nicht vorliegen (vgl. BVerfGE NJW 1971, 1033), denn sie setzt eine objektiv willkürliche Maßnahme voraus, d.h. eine Maßnahme, die auf unsachlichen, sich von den gesetzlichen Maßstäben völlig entfernenden Erwägungen beruht und unter keinen Umständen mehr vertretbar erscheint (vgl. BVerfG NJW1976, 2128; BVerfG NJW 1984, 1874; BGH 26, 206, 211; OLG Karlsruhe NStZ 1981, 272; Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, 65. Aufl., § 16 GVG Rn. 6, 8, § 52 GVG Rn. 4). Ein solcher Fall ist vorliegend nicht gegeben, da eine Kenntnis vom Wohnsitzwechsel vor Beginn der Hauptverhandlung nicht bestand.

(3.) Ergänzend ist anzumerken, dass die Auferlegung der Verfahrenskosten an die Beschwerdeführerin acht Monate nach Urteilsverkündung und über drei Monate nach eingetretener Rechtskraft nicht mehr hätte ergehen dürfen. Zwar besagt § 56 GVG nichts darüber, wann eine Entscheidung nach Abs. 1 spätestens zu treffen ist. Die diese Norm jedoch ähnlich wie für das Ausbleiben von Zeugen (§ 51 StPO) konzipiert ist, ist eine entsprechende Auslegung geboten. Mithin ist eine Entscheidung nach § 56 Abs. 1 GVG spätestens dann zu erlassen, wenn die Hauptsache zur Entscheidung reif ist. Denn mit der abschließenden Entscheidung ist auch über die Kosten des Verfahrens zu befinden, so dass Klarheit herrschen muss, welche Kosten von dem Angeklagten im Fall seiner Verurteilung zu tragen sind (vgl. Gittermann in: Löwe-Rosenberg, StPO, Bd. 11 (GVG), 27. Aufl., § 56 GVG Rn. 11; Schuster in: Münchner Kommentar, StPO, Bd. 3/2, § 56 GVG, Rn.12; siehe auch: BGHSt 43, 146, 148 unter Aufgabe von BGHSt 10, 126; OLG Dresden NStZ-RR 2000, 31; KG, Beschluss vom 30. Mai 2002, 4 Ws 143/01; vgl. auch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. § 465, Rz. 4).“

Schöffen I: Verhinderung von (Hilfs)Schöffen, oder: Schöffenroulette ohne Grundentscheidung des Chefs

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Willkommen im Monat Mai und willkommen in der KW. 18. heute ist zwar Feiertag, aber „Tag der Arbeit“. Daher gibt es hier das ganz normale Programm, und zwar heute zwei Entscheidungen zu Schöffen.

Zunächst kommt hier der LG Arnsberg, Beschl. v. 26.04.2023 – II-2 KLs-412 Js 717/22-4/23. Ergangen ist die Entscheidung in einem Schwurgerichtsverfahren auf die Besetzungsrüge der Verteidiger des Angeklagten. Problematik der Entscheidung: Ordnungsgemäße Feststellung der Verhinderung eines Schöffen nach § 54 GVG und damit zutreffende Heranziehung von Hilfsschöffen und damit ordnungsgemäße Besetzung des Gerichts.

Die Verteidiger hatte die besetzungsrüge erhoben (§ 222b stPO) und geltend gemacht, dass die beisitzende Schöffin A die „falsche“ Schöffin sei, Der Heranziehung dieser Schöffin lag zuvor folgender Sachverhalt zugrunde:

Gem. Verfügung des Vorsitzenden vom 20.03.2023 handelte es sich bei der Hauptverhandlung um eine vorgezogene Sitzung vom 19.04.2023. Tatsächlicher Beginn der Hauptverhandlung war der 18.04.2023.  Die für diesen Hauptverhandlungstermin ausgeloste Hauptschöffin B teilte am 23.03.2023 mit, dass sie infolge einer bereits gebuchten Reise an einem Teil der Hauptverhandlungstermine verhindert sei. Mit Verfügung vom 24.03.2023 veranlasste der Vorsitzende daraufhin, dass die Hauptschöffin abgeladen und die nächste Hilfsschöffin geladen wird. Dabei handelte es sich um die Hilfsschöffin C. Diese teilte wiederum am 11.04.2023 mit, dass sie ebenfalls wegen eines Urlaubs im Ausland an der Terminswahrnehmung gehindert sei.

Erneut verfügte der Vorsitzende, dass die Schöffin abzuladen und die nächste Hilfsschöffin zu laden sei. Durch die Geschäftsstelle wurde sodann die Hilfsschöffin A geladen.

Das war nicht ok, meint das Schwurgericht:

„Die Besetzungsrüge ist zulässig, insbesondere fristgerecht nach Mitteilung der Kammerbesetzung erhoben worden.

Sie ist auch begründet. Die Kammer ist hinsichtlich der Schöffin A nicht ordnungsgemäß besetzt.

Keine Bedenken bestehen hinsichtlich der Annahme der Verhinderung der Schöffinnen B und C. Zum Zeitpunkt der Mitteilung der Schöffin P bzgl. ihrer Verhinderung wäre allerdings nicht die Schöffin A als nächste auf der Liste zu laden gewesen, sondern die Schöffin D. Dies ist offensichtlich deshalb nicht geschehen, weil die Schöffin D. bereits zu einem früheren Zeitpunkt ohne Bezug auf eine konkrete Terminsladung mitgeteilt hatte, zu bestimmten Zeitpunkten verhindert zu sein. Die Geschäftsstelle ist somit von ihrer Verhinderung ausgegangen und hat die nächste auf der Hilfsschöffinnenliste aufgeführte Schöffin geladen, A.

Es fehlt jedoch an einer richterlichen Entscheidung über die Heranziehung oder auch die Verhinderung der Schöffin D. Diese steht auch nicht ohne weiteres aufgrund der früheren, ohne Bezug auf ein konkretes Verfahren erfolgten Mitteilung fest, die dem Vorsitzenden auch nicht bekannt war. Denkbar wäre z. B., dass die früher mitgeteilte Verhinderung zwischenzeitlich entfallen war oder der vorgebrachte Verhinderungsgrund aus Sicht des Vorsitzenden nicht als durchgreifend angesehen worden wäre.

Dementsprechend fehlt es an einer richterlichen Entscheidung über die Frage, ob die Schöffin D heranzuziehen gewesen oder als verhindert anzusehen wäre. Erst nach einer solchen Entscheidung wäre gegebenenfalls die Schöffin A heranzuziehen gewesen.

Nicht jeder Fehler bei der Heranziehung von Hilfsschöffen kann mit der Besetzungsrüge erfolgreich geltend gemacht werden. Zudem steht dem Vorsitzenden bei der Entscheidung über die Heranziehung von Schöffen und angegebene Verhinderungsgründe ein Ermessensspielraum zu. Da eine Entscheidung des Vorsitzenden über die Heranziehung oder  Verhinderung der Schöffin D vollständig fehlt, handelt es sich hier jedoch um einen erheblichen Fehler und es wurde gerade gar kein Ermessen ausgeübt.“

StPO III: Schoko-Marienkäfer für den Staatsanwalt, oder: Glück gehabt, nicht befangen

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Und als dritte Entscheidung dann der LG Oldenburg, Beschl. v. 24.04.2023 – 12 Ns 380 Js 80809/21 (299/22). Es geht um die Besorgnis der Befangenheit bei einer Schöffin, die vor der Hauptverhandlung Süßigkeiten verteilt hat, und zwar nur an den Staatsanwalt, der sie allerdings nicht angenommen hat.

Ja, das hatten wir schon mal. Na ja, nicht ganz. In der Fällen, die mir bekannt sind, ging es immer um Schokoladen-Nikoläuse, hier waren es aber Marienkäfer aus Schokolade. Nichts desto trotz: Es passt „Alle Jahre wieder“. 🙂

Hier hatte die „Großzügigkeit“ der Schöffin allerdings nicht deren Ausschluss wegen besorgnis der Befangenheit (§ 24 StPO) zur Folge. Sie hat – wohl so gerade noch – die Kurve bekommen und in ihrer dienstlichen Äußerung den Faux pas „repariert“. Das LG hat es damit dann gut sein lassen. Ich wage die Behauptung, dass der Angeklagte das sicherlich mit der Revision überprüfen lassen wird.

Das LG hat ausgeführt:

„Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg.

Die Besorgnis der Befangenheit besteht, wenn aus Sicht eines vernünftigen Ablehnungsberechtigten Zweifel an der Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit des Richters bestehen (MüKoStPO/Conen/Tsambikakis, 1. Aufl., StPO § 24 Rn. 15 m.w.N.). Misstrauen in die Unparteilichkeit des Richters ist demnach gerechtfertigt, wenn der Ablehnende bei verständiger Würdigung des ihm bekannten Sachverhalts Grund zu der Annahme hat, dass der abgelehnte Richter ihm gegenüber eine innere Haltung einnimmt, die seine Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit störend beeinflussen kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 24 Rn. 8 m.w.N.). Bei der Ablehnung von Schöffen gilt das Gleiche; die Befangenheitsgründe gehen nicht weiter als bei den Berufsrichtern (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O. § 31 Rn. 2).

Die beanstandete Verteilung von Schokoladen-Marienkäfern durch die Schöffin pp. vor Beginn der Hauptverhandlung am 03.04.2023 begründet jedenfalls in der konkreten Situation und unter Berücksichtigung der dienstlichen Äußerung der Schöffin aus Sicht eines vernünftigen Angeklagten keine Zweifel an ihrer Unvoreingenommenheit. Zwar erscheint die Verteilung von Süßigkeiten in einem Strafverfahren grundsätzlich unangemessen (vgl. LG Flensburg, Beschl. vom 20.01.2021 — V KLs 2/19, juris). Doch lässt dies in der konkreten Situation gerade nicht den Schluss zu, dass die Schöffin dem Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eher gewogen ist als dem Angeklagten oder seinem Verteidiger.

Unabhängig davon, dass der Angeklagte sich zum Zeitpunkt der Verteilung der Süßigkeiten nicht im Saal befand, hat der Erste Staatsanwalt pp. in der Hauptverhandlung erklärt, er habe den Vorgang bereits als unangemessen empfunden, der Schöffin dies mitgeteilt und das Schokoladenpräsent auch nicht angenommen. Die Schöffin hat im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung erklärt, dass sie durchaus vorgehabt habe, dem Verteidiger auch ein Schokoladenpräsent zu übergeben, dies aber angesichts der Zurückweisung durch den Staatsanwalt nicht mehr getan habe. Die Äußerung lässt darauf schließen, dass der Schöffin die Unangemessenheit ihres Verhaltens erst anschließend klargeworden ist.

Es bestehen keine Gründe, die Glaubhaftigkeit der dienstlichen Äußerung der Schöffin in Zweifel zu ziehen. Die Stellungnahme des Verteidigers vom 06.04.2023 begründet solche Zweifel ebenfalls nicht — im Gegenteil: Seine Ausführungen zeigen vielmehr, dass die Schöffin ihm gegenüber ausgesprochen freundlich und zugewandt gefragt habe, ob der Sitzungssaal bereits offen sei, oder ob sie ihm die Saaltür öffnen solle. Dass sie bei dieser Gelegenheit oder anschließend, als sie offenbar der Protokollführerin ebenfalls ein Stück Schokolade auf den Tisch gelegt hat, nicht daran gedacht hat, dies bereits diesem Zeitpunkt auch dem Verteidiger anzubieten, stellt daher keinen Befangenheitsgrund dar. Denn die Schöffin hat durch ihr Gesamtverhalten und — spätestens durch die Klarstellung im Rahmen ihrer dienstlichen Äußerung — nachvollziehbar kein Verhalten zum Ausdruck gebracht, dass darauf schließen lässt, dass sie der Seite des Angeklagten, insbesondere dem Verteidiger, weniger gewogen ist, als der Staatsanwaltschaft.

Die Besorgnis der Befangenheit der Schöffin pp. ist nach alledem nicht gerechtfertigt.“

Als Vorsitzender steht man wahrscheinlich in solchen Fällen kurz vor einem Infarkt 🙂 .

StPO II: „per Schnelltest positiv auf Corona getestet“, oder: Wiedereinsetzung gegen Berufungsverwerfung

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Als zweite Entscheidung kommt dann hier der OLG Brandenburg, Beschl. v. 15.02.2023 – 1 ORs 5/23, der sich noch einmal zu Berufungsverwerfung – Stichworte: genügende Entschuldigung, Wiedereinsetzung – äußert.

Der Angeklagte ist vom LG zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er legt Berufung ein und wird ordnungsgemäß zur Berufungshauptverhandlung geladen. Wenige  Stunden vor dem geplanten Aufruf der Sache Angeklagte teilt der Angeklagte dem LG am Terminstag über seinen Verteidiger mit, dass er sich per Schnelltest positiv auf das Coronavirus getestet habe. Er habe sogleich einen PCR-Test durchführen lassen, dessen Ergebnis noch ausstehe, und sich in häusliche Quarantäne begeben. Zur Berufungshauptverhandlung erschien dann weder der Angeklagte noch sein Verteidiger.

Daraufhin hat das LG die Berufung des Angeklagten wegen unentschuldigten Ausbleibens nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen. Die Mitteilung des Verteidigers entbehre der erforderlichen Glaubhaftmachung. Namentlich beanstandete die Kammer, dass kein Nachweis über die Durchführung eines positiv ausgefallen Schnelltest bzw. die Teilnahme an einer PCR-Testung vorgelegt worden sei.

Hiergegen hat der Angeklagte unter Vorlage einer Bescheinigung über einen positiven PCR-Test sowohl Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung beantragt als auch Revision eingelegt. Den Wiedereinsetzungsantrag hat das LG verworfen und zur Begründung insbesondere darauf abgestellt, dass es an einer Glaubhaftmachung des geltend gemachten Entschuldigungsgrundes fehle. Auf die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Angeklagten hat das OLG den Beschluss aufgehoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt. Das Verwerfungsurteil und die Revision hiergegen seien deshalb gegenstandslos:

„1. a) Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 ist gemäß § 46 Abs. 3 StPO statthaft und nach §§ 306, 311 Abs. 1 StPO form- und fristgerecht eingelegt worden.

b) In der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg.

aa) Nach §§ 329 Abs. 7 StPO kann ein Angeklagter unter den Voraussetzungen von §§ 44, 45 StPO die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beanspruchen, wenn er darlegt und glaubhaft macht, dass er ohne Verschulden verhindert war, an der Berufungsverhandlung teilzunehmen. Hierzu sind nach § 329 Abs. 7 i. V. m. § 45 Abs. 2 S. 1 StPO binnen Wochenfrist nach Wegfall des Hindernisses die Tatsachen so vollständig vorzutragen, dass ihnen – als wahr unterstellt – die unverschuldete Verhinderung des Angeklagten ohne weiteres entnommen werden kann. Hierzu bedarf es einer genauen Darstellung der Tatsachen, die für die Frage bedeutsam sind, wie und durch welche Umstände es zur Versäumung der Berufungsverhandlung gekommen ist. Das Mittel der Glaubhaftmachung kann auch im Beschwerderechtszug nachgereicht werden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 45 Rn. 7 m. w. N.).

Diesen Formerfordernissen hat der Angeklagte entsprochen, indem er mit den am 14. Februar 2022 und am 19. Mai 2022 bei Gericht angebrachten Anwaltsschriftsätzen, spätestens am 19. Mai 2022 unter Vorlage des positiven PCR-Testergebnisses vom 28. Januar 2022, dargelegt hat, dass er im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung an einer SARS-Cov-2-Infektion gelitten habe.

bb) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung ist nicht durch die gleichzeitig erhobene Revision ausgeschlossen (vgl. § 342 StPO).

(1.) Der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung nach § 329 Abs. 7 StPO setzt voraus, dass zur Entschuldigung geeignete Tatsachen geltend und glaubhaft gemacht werden, die dem Berufungsgericht nicht bekannt waren (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 31. Juli 2008, 3 Ss 288/08, zit. n. juris; OLG Köln StV 1989, 53; OLG München NStZ 1988, 377). Die Rechtsfehlerhaftigkeit der Verwerfung der Berufung bei fehlerhafter Würdigung gerichtsbekannter Tatsachen kann nicht im Wiedereinsetzungsverfahren, sondern nur mit der Revision geltend gemacht werden (vgl. OLG Hamm wistra 2008, 40; OLG Hamm wistra 1997, 157; OLG Düsseldorf StV 2009, 13; OLG Düsseldorf wistra 2003, 399 f.; OLG Düsseldorf VRS 97, 139; OLG Jena VRS 205, 299). Auch auf neue Beweismittel für die vom Berufungsgericht schon gewürdigten Tatsachen kann der Wiedereinsetzungsantrag nicht gestützt werden (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 28. September 2017, 4 Ws 120/17, zit. n. juris; OLG Düsseldorf NStZ 1992, 99f.; OLG Hamburg MDR 1991, 469; zum Ganzen: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. § 329 Rdnr. 42 m.w.N.).

(2.) Es kann vorliegend dahinstehen, ob die Tatsache, dass der Angeklagte auch mit dem PCR-Test positiv auf eine Coronainfektion getestet wurde, eine neue Tatsache ist, die die Prüfung der Wiedereinsetzung veranlasst. Denn der Grundsatz, dass eine Wiedereinsetzung nicht mit der gleichen Tatsachenbehauptung beantragt werden kann, mit der ein Angeklagter sein Nichterscheinen bereits entschuldigt hat, gilt jedenfalls dann nicht, wenn es das Berufungsgericht versäumt hat, diese Tatsache in dem Urteil nach § 329 Abs. 1 StPO zu würdigen (vgl. OLG München, Beschluss vom 21. April 1988, 2 Ws 191/88, NStZ 1988, 377 f.; Löwe/Rosenberg, StPO, 23. Aufl., § 329 Rn. 118; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 329 Rn. 42 jeweils m.w.N.).

Ein solcher Fall liegt hier vor. Das Berufungsgericht hat das tatsächliche Vorbringen des Angeklagten nicht gewürdigt. In dem Verwerfungsurteil des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 ist zwar ausgeführt, dass der Verteidiger mitgeteilt habe, „der Angeklagte habe sich per Schnelltest positiv auf Corona getestet und habe sich vorsorglich in die häusliche Quarantäne begeben“, jedoch erachtet das Berufungsgericht diesen Vortrag als unbeachtlich, da diese Mitteilung des Verteidigers „der erforderlichen Glaubhaftmachung etwa durch einen Nachweis eines positiv ausgefallenen Schnelltestes“ entbehre. Die von der Berufungskammer postulierte Notwendigkeit einer Glaubhaftmachung, aufgrund derer in die Prüfung der Entschuldigungsgründe nicht eingetreten wurde, ist rechtsfehlerhaft. Eine Entschuldigung gemäß § 329 Abs. 1 StPO ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 – 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Bamberg DAR 2008, 217). Dabei trifft den Angeklagten hinsichtlich des Entschuldigungsgrundes im Rahmen des § 329 Abs. 1 StPO – anders als im Wiedereinsetzungsverfahren (§ 45 Abs. 2 Satz 1 StPO) – keine Pflicht zur Glaubhaftmachung oder auch zu einem lückenlosen Nachweis (vgl. bereits BGHSt 17, 391, 396, KG JR 1978, 36; OLG Celle StV 1987, 192; OLG Koblenz VRS 64, 211, 212; OLG Köln NZV 1999, 261, jeweils m.w.N.). Daraus wiederum folgt, dass eine genügende Entschuldigung nicht schon deshalb zu verneinen ist, weil der Entschuldigungsgrund nicht glaubhaft gemacht worden ist (vgl. BayObLG NJW 1998, 172; OLG Köln NJW 1953, 1046).

Erforderlich und ausreichend ist hier, dass der Angeklagte vor der Hauptverhandlung schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen, dem Gericht somit hinreichende Anhaltspunkte für eine genügende Entschuldigung zur Kenntnis gebracht sind (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010 a.a.O.; OLG Bamberg DAR 2008, 217).

Dadurch, dass das Berufungsgericht das Verwerfungsurteil (rechtsfehlerhaft) auf die fehlende Glaubhaftmachung eines Entschuldigungsgrundes gestützt hat, folgt, dass es das tatsächliche Vorbringen des Angeklagten, sich am Tag der Hauptverhandlung wegen eines positiven Corona-Schnelltests in häuslicher Quarantäne befunden zu haben, nicht bei seiner Entscheidung erwogen und gewürdigt hat, ja nicht einmal konkrete Tatsachen festgestellt hat und auch nicht in das Freibeweisverfahren, beispielsweise zur Ermittlung des Aufenthalts des Angeklagten, eingetreten ist. Die Verwehrung einer Sachentscheidung im Wiedereinsetzungsverfahren ist nur gerechtfertigt, wenn sich aus der Wiederholung des Tatsachenvortrages ergibt, dass sich der Antragsteller damit lediglich gegen die Beweiswürdigung wendet und rügt, dass das Berufungsgericht das Vorbringen zu Unrecht als zur Entschuldigung nicht genügend angesehen habe. In einem solchen Fall ist im Hinblick auf die Möglichkeit der Revision kein Schutzbedürfnis dafür gegeben, dass der gleiche Sachverhalt von dem Berufungsgericht ein zweites Mal entschieden werden soll. Die Berechenbarkeit des Rechts erfordert aber, dass der Angeklagte auch weiß, dass sein Entschuldigungsvorbringen bereits in vollem Umfang gewürdigt wurde. Ein solches Wissen ist nur aus dem Urteil selbst zu gewinnen. Gibt das Urteil darüber keinen ausreichenden Aufschluss, kann der Angeklagte durchaus der Meinung sein, dass sein Vorbringen zumindest teilweise übersehen oder auch nur im Tatsächlichen verkannt wurde, also über erhebliche Gründe möglicherweise noch gar nicht entschieden ist (vgl. OLG München, Beschluss vom 21. April 1988, 2 Ws 191/88 NStZ 1988, 377 f.). Letzteres ist hier der Fall, da das Berufungsgericht das Verwerfungsurteil auf die fehlende Glaubhaftmachung gestützt hat und die vorgebrachten Tatsachen dazu konsequent nicht erwogen hat.

Nach alledem ist der Antrag auf Wiedereinsetzung in die Berufungshauptverhandlung der maßgebliche Rechtsbehelf (vgl. § 342 StPO).

cc) Aufgrund der über seinen Verteidiger vorgetragenen Coronainfektion ist das Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung am 27. Januar 2022 genügend entschuldigt und im Wiedereinsetzungsverfahren durch das im Beschwerdeverfahren eingereichte positive Ergebnis des PCR-Tests auch ausreichend glaubhaft gemacht worden.

Nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung ist § 329 Abs. 1 StGB eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift, die sich bei der Frage der genügenden Entschuldigung in Zweifelsfällen zu Gunsten des Angeklagten auswirkt (vgl. OLG Stuttgart Justiz 2004, 126 m. zahlr. N.; BayObLG StV 2001, 338). Entscheidend ist nicht, ob sich der Angeklagte genügend entschuldigt hat, sondern ob er genügend entschuldigt ist (ganz h. M., vgl. statt vieler: BayObLG NZV 1998, S. 426; OLG Düsseldorf VRS 92, S. 259; OLG Koblenz VRS 60, S. 465; OLG Stuttgart NZV 1992, S. 462). Eine Entschuldigung ist dann genügend, wenn die im Einzelfall abzuwägenden Belange des Angeklagten einerseits und seine öffentlich-rechtliche Pflicht zum Erscheinen in der Hauptverhandlung andererseits den Entschuldigungsgrund als triftig erscheinen lassen, d.h. wenn dem Angeklagten unter den gegebenen Umständen ein Erscheinen billigerweise nicht zumutbar war und ihm infolgedessen wegen seines Fernbleibens auch nicht der Vorwurf schuldhafter Pflichtverletzung gemacht werden kann (vgl. Senatsbeschluss vom 8. April 2010, 1 Ss OWi 84 B/10; Senatsbeschluss vom 23. Februar 2009 – 1 Ss (OWi) 9 B/09; OLG Bamberg DAR 2008, 217). Dabei ist es, wie bereits ausgeführt, erforderlich, dass der Angeklagte mit dem Wiedereinsetzungsantrag schlüssig einen Sachverhalt vorträgt oder vortragen lässt, der geeignet ist, sein Ausbleiben genügend zu entschuldigen. Eine Krankheit stellt dabei einen ausreichenden Entschuldigungsgrund dar, wenn sie nach ihrer Art und nach ihren Wirkungen, insbesondere nach dem Umfang der von ihr ausgehenden körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen eine Beteiligung an der Hauptverhandlung unzumutbar erscheinen lässt (OLG Düsseldorf NStZ 1984, 331; OLG Köln DAR 1987, 267). Ein Sachvortrag, der dem Gericht eine Bewertung von Krankheit eines Angeklagten als Entschuldigungsgrund nach diesen Kriterien ermöglichen soll, erfordert für seine Schlüssigkeit daher zumindest die Darlegung eines krankheitswertigen Zustandes, also eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustands, der ärztlicher Behandlung bedarf (vgl. auch BSGE 35, 10 ff., 12). Für den Fall, dass eine Infektion mit dem Coronavirus vorgebracht wird, ist ein solches Vorbringen indes nicht erforderlich, denn das Fernbleiben ist in diesem Fall nicht lediglich durch eine Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten, sondern bereits durch die Schutzbedürftigkeit anderer Prozessbeteiligter vor einer Infektion gerechtfertigt (BayObLG, Beschluss vom 25.10.2022 – 206 StRR 286/22BeckRS 2022, 30918). Eine Infektion mit dem Coronavirus rechtfertigte und gebot zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung schon aufgrund bestehender öffentlich-rechtlicher Vorschriften (auch ohne das Vorliegen von Krankheitssymptomen) das Fernbleiben von einer Gerichtsverhandlung (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 2. SARS-CoV-2-EindV).

Der bloße Verdacht, dass ein Entschuldigungsgrund nur vorgeschützt sein könnte, rechtfertigt es im Übrigen nicht, den Angeklagten als unentschuldigt zu behandeln. Bleibt zweifelhaft, ob er genügend entschuldigt ist, dann sind die Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gegeben; solche Zweifel verpflichten vielmehr zu ihrer Klärung (Gössel in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage, § 329 Rn. 26).

Mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Angeklagte weit mehr als den Verdacht einer bei ihm akut vorliegenden Coronainfektion vorgetragen und durch den Befundbericht vom 28. Januar 2022 über das positive Ergebnis des PCR-Tests vom 26. Januar 2022 glaubhaft gemacht, nämlich dass er tatsächlich im Zeitpunkt der Berufungshauptverhandlung mit dem SARS-Cov-2-Virus infiziert war. Entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft bestehen keine begründeten Zweifel an einer Coronainfektion des Angeklagten zu jenem Zeitpunkt.

Zur Glaubhaftmachung der Wiedereinsetzungstatsache genügt es, dass dem Gericht in einem nach Lage der Sache vernünftigerweise zur Entscheidung hinreichendem Maß die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dargetan wird (OLG Düsseldorf NJW 1985, 2207, wistra 1990, 364). Das vorgelegte Testergebnis des Labors bezieht sich auf den Angeklagten, dessen Vor- und Zuname sowie sein Geburtsdatum dort korrekt angegeben sind. Zwar ist eine Personalausweis- oder Reisepassnummer nicht eingetragen, sodass die Testung eines anderen mit dem Coronavirus infizierten Mannes, der die Personalien des Angeklagten angegeben hat, theoretisch möglich ist. Der Senat betrachtet dies jedoch unter Berücksichtigung der üblichen Gepflogenheiten im medizinischen Bereich als fernliegend, Anhaltspunkte dafür sind jedenfalls nicht ersichtlich.

Nach alledem ist der Angeklagte unverschuldet der Berufungshauptverhandlung am 27. Januar 2022 ferngeblieben, mithin als entschuldigt anzusehen, so dass er unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses der 7. kleinen Strafkammer des Landgerichts Potsdam vom 29. März 2022 gegen die Versäumung der Berufungshauptverhandlung am 27. Januar 2022 in den vorigen Stand zu setzen ist.