Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

StPO III: „Es handelt sich um „Verteidigerpost!“, oder: Auch Querlesen ist zur Kontrolle nicht erlaubt

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann noch etwas zu § 148 StPO, nämlich zum Begriff der „Verteidigerpost“.

Der Beschuldigte hat als Untersuchungsgefangener das Vorgehen eines Bediensteten der JVA  bei der Kontrolle der von ihm zu einer zu Verteidigerbesprechung mitgebrachten 14 handschriftlich beschriebenen Seiten beanstandet. Der Bedienstete hatte den Beschuldigten zu einer Besprechung mit dessen Verteidiger in die Vorführabteilung gebracht. Im Rahmen der Personenkontrolle auf der Station legte der Beschuldigte die beschriebenen Seiten auf dem Tisch ab und erklärte, dass es sich um Verteidigerpost handele, die der Bedienstete nicht lesen dürfe. Der Bedienstete erklärte daraufhin, er werde kurz darüber schauen, nahm die Unterlagen, blätterte sie durch und sichtete sie dabei auszugsweise, um feststellen zu können, ob es sich um Verteidigungsunterlagen handelte. Anschließend händigte er sie dem Antragsteller aus. Ob ein „Querlesen“ durch den Bediensteten stattfand, ist streitig.

Das LG Hamburg hat im LG Hamburg, Beschl. v. 17.01.2023 – 621 Ks 14/22 – die Vorgehensweise als rechtswidrig angesehen:

„2. Der Antrag ist auch begründet. Die Durchsicht der schriftlichen Unterlagen des Antragstellers am 13.12.2022 durch den Bediensteten der Antragsgegnerin war rechtswidrig. Sie verstieß gegen den Grundsatz des unüberwachten und ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem.

Gemäß § 23 Abs. 3 HmbUVollzG dürfen beim Besuch von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten mitgeführte Schriftstücke und sonstige Unterlagen übergeben werden, ihre inhaltliche Überprüfung ist nicht zulässig. Darüber hinaus wird der Schriftwechsel mit Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, soweit sie von den Untersuchungsgefangenen mit der Vertretung einer Rechtsangelegenheit nachweislich beauftragt wurden, gemäß § 25 Abs. 2 HmbUVollzG nicht überwacht. Auch der in § 148 Abs. 1 StPO niedergelegte Grundsatz des ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem beinhaltet, dass der Schriftverkehr des Beschuldigten mit dem Verteidiger inhaltlich nicht überwacht werden darf. Unter Anwendung dieses Grundsatzes beschränkt sich die Briefkontrolle der Haftanstalt darauf, ob sie nach den äußeren Kennzeichen eine Korrespondenz zwischen Mandanten und Verteidiger betrifft. Liegen diese Voraussetzungen vor, so ist die Post ohne inhaltliche Prüfung weiterzuleiten (OLG Frankfurt, Beschluss vom 12.11.2004 —3 VAs 20/04 —, juris; Willnow in Karlsruher Kommentar zur StPO, 9. Aufl. 2023, § 148 Rn. 8).

Allenfalls bei gewichtigen Anhaltspunkten für einen Missbrauch des Schutzes des ungehinderten Verkehrs zwischen Verteidiger und Beschuldigtem kann eine Durchsicht der Schriftstücke zulässig sein (OLG Frankfurt, a.a.O.; Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 148 Rn. 7).

Unter Anlegung dieser Maßstäbe war das Vorgehen der Antragsgegnerin bei der Kontrolle der Unterlagen rechtswidrig. Bei einer umfassenden Würdigung der Angaben des Antragstellers, der Antragsgegnerin und der Stellungnahme des Bediensteten hat die Kammer vorliegend keine Zweifel daran, dass der Bedienstete pp, die beschriebenen Seiten im Wege des „Überfliegens“ oder „Querlesens“ inhaltlich daraufhin überprüfte, ob es sich um Verteidigerpoet handelte, und die Schriftstücke nicht lediglich — ohne Kenntnisnahme von ihrem Inhalt — daraufhin überprüfte, ob sich dazwischen oder darunter auch gefährliche oder verbotene Gegenstände befanden. Soweit die Antragsgegnerin ein solches „Querlesen“ bestreitet, setzt sie sich dabei zu ihrem eigenen Vortrag in Widerspruch:

Die Angabe des Bediensteten pp  in seiner Stellungnahme vom 20.12.2022, er habe die Unterlagen angeschaut, da sie nicht als Verteidigerunterlagen deklariert gewesen seien, bestätigt gerade die Darstellung des Antragstellers, wonach der Bedienstete die Unterlagen mit Blick auf deren Inhalt überprüfte. Dies ergibt sich auch unmissverständlich aus der Stellungnahme der Antragsgegnerin, wonach der Bedienstete gezwungen gewesen sei, die Unterlagen kurz zu sichten, um sicher feststellen zu können, dass es sich um Verteidigungsunterlagen handelte: „Dem Bediensteten wäre es nicht möglich gewesen zu entscheiden, ob die mitgeführten Unterlagen tatsächlich Verteidigungsunterlagen waren, ohne diese wenigstens auszugsweise zu sichten.“ Nahezu identisch lautete der Antragsschrift zufolge auch die Erklärung des  Bediensteten gegenüber dem Verteidiger, Rechtsanwalt pp., noch am 13.12.2022. Ein solches Vorgehen setzt aber gerade das „Querlesen“ der Unterlagen voraus, das nach Angaben der Antragsgegnerin dennoch nicht stattgefunden haben soll. Die Angabe des Bediensteten in seiner Stellungnahme vom 20.12.2022, er habe die Unterlagen nur auf gefährliche und verbotene Gegenstände durchsucht, ist vor diesem Hintergrund mit dem übrigen Vortrag der Antragsgegnerin ebenso wie mit seinen übrigen Angaben nicht vereinbar. Insofern geht die Kammer davon aus, dass der Bedienstete, wie von dem Antragsteller vorgetragen, diese Unterlagen tatsächlich mindestens auszugsweise „querlas“ und dieses Vorgehen auch gegenüber dem Verteidiger, Rechtsanwalt pp., wie im Antrag dargestellt auf Nachfrage bestätigte.

Der Umstand, dass es sich bei den Unterlagen – wie die Antragsgegnerin vorträgt -„nicht um offiziell gekennzeichnete ‚Verteidigerpost‘ handelte, sondern um ein Konvolut von handschriftlich beschriebenen Blättern, vermag nichts an der Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens zu ändern. Denn der Antragsteller hatte diese Schriftstücke unmissverständlich zu Beginn der Kontrolle — wenn auch nur mündlich — als solche Verteidigerpost deklariert. Vor dem Hintergrund, dass er sich, wie der Bedienstete wusste, gerade auf dem Weg zum Verteidigergespräch befind, konnte somit über die Zuordnung der Schriftstücke keinerlei begründeter Zweifel bestehen. Der Schutz des ungehinderten Schriftverkehrs mit dem Verteidiger kann nicht geringer ausfallen, wenn der Untersuchungsgefangene (sogar) darauf verzichtet, die entsprechenden Schriftstücke in einem verschlossenen, mit „Verteidigerpost“ beschriebenen Umschlag zu verwahren, sofern wie hier die Zuordnung als Verteidigerpost dennoch eindeutig ist.“

StPO II: Einspruchsbeschränkung auf den Tagessatz, oder: „Konkreter Vortrag bitte, wir suchen nicht..“

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Die zweite Entscheidung stammt auch aus einem Strafbefehlsverfahren.

Die Angeklagte hat Einspruch gegen einen Srafbefehl des Amtsgerichts Erlangen eingelegt. Die Verteidigerin beschränkte den Einspruch auf die Tagessatzhöhe und führte hierzu an, monatliche Mietbelastungen, eine Schuldentilgung für einen Küchenkauf sowie monatliche Unterhaltszahlungen in Höhe von 800 EUR an die Tochter der Angeklagten seien bei der Bemessung der Tagessatzhöhe zu berücksichtigen. Als Anlage zu dem Schreiben waren diverse Unterlagen beigefügt. Hierunter befand sich ein Kontoauszug, aus dem unter anderem eine Überweisung an … von 800 EUR mit dem Verwendungszweck „Unterhalt“ hervorgeht. Das Amtsgericht Erlangen reduzierte auf den Einspruch hin mit Beschluss vom 20.10.2022 die Tagessatzhöhe auf 60 EUR. Gegen diesen Beschluss legte die Verteidigerin mit Schreiben vom 25.10.2022 Beschwerde ein und führte aus, im vorliegenden Fall seien zwar die Unterhaltsverpflichtungen der Beschuldigten berücksichtigt, nicht aber die Mietzins- und Schuldenbelastungen.

Das LG hat die Beschwerde mit Beschluss vom 15.11.2022 als unbegründet verowrfen. Dagegen legte die Verteidigerin für die Beschuldigte Gehörsrüge nach § 33a StPO ein. Sie führte aus, das Gericht habe ein entscheidungserhebliches Beweismittel nicht zur Kenntnis genommen. Zwar habe die Verteidigerin in ihrem Schreiben vom 22.09.2022 nur eine Unterhaltszahlung von monatlich 800 EUR genannt, gleichwohl habe sich aus dem als Anlage beigefügten Kontoauszug ergeben, dass auch eine weitere Unterhaltszahlung von 500 EUR an das weitere Kind der Beschuldigten, …, geleistet worden sei (Überweisung mit Verwendungszweck: „… Sepa-Überweisung IBAN … BIC … SVWZ+ Unterhalt KREF+ …“).

Die Anhörungsrüge hatte keinen Erfolg. Das LG Nürnberg-Fürth hat sie mit dem LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.12.2022 – 12 Qs 68/22 – zurückgewiesen:

„Die Anhörungsrüge ist unbegründet, da die Kammer das Recht der Beschuldigten auf rechtliches Gehör nicht verletzt hat. Eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör kommt in Betracht, wenn das Gericht zum Nachteil des Antragstellers Tatsachen oder Beweisergebnisse verwertet hat, zu denen er nicht gehört worden ist, oder wenn es zu berücksichtigendes Vorbringen des Antragstellers übergangen hat (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 33a Rn. 3).

Die Kammer hat sämtliche durch die Verteidigerin in ihrer Beschwerde vom 25.10.2022 vorgetragenen Einwände gegen die Entscheidung des Amtsgerichts Erlangen sowie die Ausführungen in ihrem Schriftsatz vom 22.09.2022 berücksichtigt. In der Beschwerde führt die Verteidigerin aus, das Amtsgericht Erlangen habe die Unterhaltsverpflichtungen der Angeklagten bereits berücksichtigt. Auch im Schreiben vom 22.09.2022 spricht sie lediglich von einer Unterhaltszahlung für die Tochter in Höhe von 800 €. Weder ergibt sich aus den Schreiben ein Hinweis auf eine zweite Tochter noch auf eine weitere bestehende Unterhaltsverpflichtung. Ohne entsprechenden Sachvortrag war das Gericht nicht gehalten, in dem vorgelegten Kontoauszug nach Belegen für etwaige weitere berücksichtigungsfähige Zahlungen zu suchen. Der Kontoauszug wurde allein als Beleg für die schriftsätzlich angeführte Unterhaltsverpflichtung in Höhe von 800 € vorgelegt und war nur insoweit vom Gericht zu prüfen, zumal die als übergangen gerügte Überweisung von 500 € erst nach der Überweisung von 800 € im Auszug notiert ist.“

StPO I: Voraussetzung für den Erlass eines Strafbefehls, oder: Hinreichender Tatverdacht gegeben?

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Und heute dann mal wieder drei StPO-Entscheidungen. Alle drei stammen von Landgerichten.

Die erste Entscheidung, den LG Karlsruhe, Beschl. v. 04.01.2023 – 16 Qs 98/22 – hatte ich bereits wegen einer der vom LG behandelten materiellen Fragen vorgestellt (vgl. hier StGB III: Sind die Audioaufnahmen „unbefugt“ erstellt?, oder: Restriktive Auslegung bei Beweisnot ). Ich komme heute dann auf den Beschluss zurück, und zwar wegen der Problematik in Zusammenhang mit der Problematik der Ablehnung des Strafbefehlserlasses durch das AG.

Dazu führt das LG aus:

„Die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Beschluss des Amtsgerichts Maulbronn ist gem. §§ 311 Abs. 1, 408 Abs. 2 Satz 2, 210 Abs. 2 StPO statthaft und gem. §§ 311 Abs. 2, 35 Abs. 2 Satz 1 StPO form- und fristgerecht erhoben.

II.

Die sofortige Beschwerde ist indes unbegründet. Das Amtsgericht Maulbronn hat den Erlass des Strafbefehls nach § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO zu Recht abgelehnt. Es fehlt vorliegend an dem für den Erlass eines Strafbefehls erforderlichen hinreichenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten wegen der Verletzung der Vertraulichkeit des Wortes gem. § 201 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Ein hinreichender Tatverdacht ist nur zu bejahen, wenn nach praktischer Erfahrung bei vorläufiger Tatbewertung auf Grundlage des Ermittlungsergebnisses die Verurteilung in einer Hauptverhandlung mit vollgültigen Beweismitteln wahrscheinlich ist (vgl. BGH, Beschl. v. 22.04.2003 – StB 3/03, juris, dort Rn. 9; BGH, Urt. v. 18.06.1970 – III ZR 95/68, juris, dort Rn. 15). Ein hinreichender Tatverdacht besteht dagegen nicht, wenn (i) nach Aktenlage offensichtlich ist, dass tatsächliche Zweifel am Schuldnachweis nicht zu überwinden sind oder (ii) ein nicht behebbares Verfahrenshindernis besteht oder (iii) der aufgrund der Ermittlungen wahrscheinliche Tatvorgang aus Rechtsgründen nicht strafbar ist (vgl. Maur in KK-StPO, 9. Aufl. 2023, § 408 Rn. 17; Szesny in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, 2017, Wirtschaftsstrafrecht, § 408 StPO Rn. 4).

1. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe – Zweigstelle Pforzheim – weist zunächst zu Recht darauf hin, dass unüberwindbare tatsächliche Zweifel am Schuldnachweis nicht offensichtlich sind. Verbleibende tatsächliche Zweifel am Tatnachweis berechtigen den Tatrichter lediglich dazu, analog § 202 Satz 1 StPO Nachermittlungen anzuordnen oder die Hauptverhandlung gem. § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO anzuberaumen (vgl. BeckOK StPO/Temming, 45. Ed. 01.10.2022, StPO § 408 Rn. 5; Szesny in: Esser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, 2017, § 408 StPO Rn. 4; a.A. AG Meiningen Beschl. v. 02.04.2009 – 340 Js 3972/08 – 8Cs, BeckRS 2010, 22265; KK-StPO/Maur, StPO, 9. Aufl. 2023, § 408 Rn. 9). Der Tatrichter darf den Strafbefehl in diesen Fällen aber nicht gem. § 408 Abs. 2 Satz 1 StPO ablehnen (vgl. MüKoStPO/Eckstein, 1. Aufl. 2019, StPO § 408 Rn. 8). Weder kommt dem Tatrichter insoweit ein Ermessen zu noch greift der Grundsatz „in dubio pro reo“ bei der anzustellenden Wahrscheinlichkeitsprognose über den hinreichenden Tatverdacht (vgl. BGH, Urt. v. 18.06.1970 – III ZR 95/68, juris, dort Rn. 15 f.; Schmitt/Meyer-Goßner, StPO, 65. Aufl. 2022, § 408 Rn. 7 unter Verweis auf § 203 Rn. 2).“

Aber: Der Strafbefehl war aber auch aus anderen Gründen nicht zu erlassen.

Zuständigkeit II: Umfangreicheres BtM-Verfahren, oder: Strafmaßprognose bestimmt die Gerichtszuständigkeit

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Dresden, Beschl. v. 05.12.2022 – 2 Ws 230/22 – geht es auch um ide Problemati: AG oder LG?, und zwar in einem BtM-Verfahren. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, sich wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen strafbar gemacht zu haben. Er soll am 15.05.2020 insgesamt sechs Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % Tetrahydrocannabinol (THC) für 33.000,00 EUR angekauft und gewinnbringend für mindestens 36.000,00 EUR weiterveräußert haben. Außerdem soll er im Zeitraum vom 25.05.2020 bis 28.05.2020 weitere fünf Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von zumindest 10 % THC erworben und für 26.000,00 EUR weiterverkauft haben. Schließlich wird dem Angeklagten angelastet, am 11.06.2020 abermals zwei Kilogramm Marihuana mit einem durchschnittlichen Wirkstoffgehalt von mindestens 10 % THC zu einem Preis von 10.000,00 EUR gekauft und anschließend für 11.000,00 EUR weiterverkauft zu haben. Der Angeklagte hat sich zum Tatvorwurf bislang nicht geäußert. Er ist nach den Ermittlungsergebnissen der Staatsanwaltschaft bisher strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten.

Das LG hat die Anklage ohne Änderungen zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren aber abweichend vom Antrag der Staatsanwaltschaft vor dem AG – Schöffengericht — eröffnet. Dagegen die sofortige Beschwerde der StA, die keinen Erfolg hatte:

„Die Zuständigkeit des Landgerichts ist im vorliegenden Fall weder aufgrund der Straferwartung im Einzelfall noch deshalb eröffnet, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

a) Die Zuständigkeit des Landgerichts Leipzig ergibt sich nicht aus § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 GVG.

Nach § 24 Abs. 1 GVG liegt die sachliche Zuständigkeit der ersten Instanz grundsätzlich bei den Amtsgerichten (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 1959 -1 BOR 295/58 = BVerfGE 23, 223 (227); Eschelbach in Beck-OK GVG, 16. Ed., 15. August 2022, § 24, Rn. 6). Eine Ausnahme von diesem Leitbild für den gesetzlichen Richter kann sich aus den Nr. 1 bis 3 der Vorschrift ergeben. Für die Verschiebung der Zuständigkeit nach § 24 Abs. 1 Nr. 2 GVG aufgrund der Begrenzung des Strafbanns für Amtsgerichte auf vier Jahre (§ 24 Abs. 2 GVG) ist maßgeblich, Ob im Einzelfall eine höhere Strafe als vier Jahre (Gesamt-)Freiheitsstrafe zu erwarten ist. Das bedeutet, dass bei einer überschlägigen Prognoseentscheidung unter Abwägung der für die Strafzumessung maßgeblichen Umstände eine jedenfalls höhere Wahrscheinlichkeit dafür bestehen muss, dass eine Strafe von mehr ais vier Jahren ausgesprochen wird, Es kommt insofern nicht darauf an – wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Beschwerdebegründung ausführt —es sei (lediglich) „nicht auszuschließen, dass eine Gesamtfreiheitsstrafe von über vier Jahren zu verhängen sein könnte“.

Die Strafmaßprognose zur Bestimmung der Gerichtszuständigkeit ist zunächst von der Staatsanwaltschaft bei Anklageerhebung und sodann vom Gericht bei der Eröffnungsentscheidung einzelfallbezogen vorzunehmen. Dabei obliegt dem Gericht nicht nur eine Nachprüfung der Zuständigkeitsauswahl der Staatsanwaltschaft, sondern mit der Prüfung auch eine gerichtliche Entscheidung über den vorbestimmten gesetzlichen Richter (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 10). Für die zu treffende Prognoseentscheidung besteht ein weiter Beurteilungsspielraum (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2015 – 2 StR 405/14, juris), der im Rahmen seiner Entscheidung dem Landgericht zusteht.

Die vorliegend getroffene Entscheidung bewegt sich im Rahmen dieses Beurteilungsspielraumes, Die Strafkammer hat – auch unter Beachtung der ergänzenden Ausführungen im Ver-merk vom 25. Juli 2022 – anhand sachlicher Erwägungen und unter Benennung der für die Strafzumessung bestimmenden Umstände eine nicht zu beanstandende Prognoseentscheidung getroffen. Die Kammer hat unter konkretem Verweis auf die beim Landgericht Leipzig für vergleichbare Fälle bestehende Spruchpraxis nachvollziehbar dargelegt, welche Einzelstrafen zu erwarten sein werden. Zwar binden in anderen Verfahren verhängte Einzelstrafen die Strafkammer für ihre Urteilsfindung nicht. Gleichwohl ist die Orientierung am im Gerichtsbezirk für vergleichbare Taten üblicherweise verhängten Strafmaß ein geeignetes Beurteilungskriterium für die zu treffende Prognose, Es bewegt sich deshalb im Rahmen des der Kammer zustehenden Beurteilungsspielraums, wenn diese unter Beachtung der im Vergleich zu anderen Verfahren deutlich geringeren Betäubungsmittelmengen der ,,weichen Droge“ Marihuana, vor dem Hintergrund, dass der Angeklagte zwar nicht geständig, aber bislang auch nicht vorbestraft ist, Einzelstrafen von deutlich unter drei Jahren erwartet. Dass das Landgericht schließlich bei den innerhalb nur eines Monats liegenden Tatzeitpunkten für eine im verurteilungsfall zu bildende Gesamtstrafe auf einen engen zeitlichen, sachlichen und situativen Zusammenhang abstellt und unter Beachtung der seit Tatbegehung vergangenen Zeit eine Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als vier Jahren nicht prognostiziert, überschreitet die Grenze des Beurteilungsspielraums ebenfalls nicht.

b) Die Zuständigkeit des Landgerichts ergibt sich auch nicht aus § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG, weil die Staatsanwaltschaft wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung des Falles Anklage beim Landgericht erhoben hätte.

Voraussetzung des § 24 Abs, 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ist grundsätzlich, dass die Staatsanwaltschaft gerade wegen des besonderen Umfangs oder der besonderen Bedeutung der Sache zum Landgericht anklagt. Die Vornahme dieser Einschätzung hat sie regelmäßig in der Anklageschrift darzulegen. Mitzuteilen sind die Umstände, aus denen die Staatsanwaltschaft den besonderen Umfang oder die besondere Bedeutung der Sache ableitet. Etwas anderes gilt nur, wenn die Anknüpfungspunkte dafür bereits offensichtlich sind (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 18; BGH, Beschluss vom 10. Februar. 1998 – 1 StR 760/97; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 24 GVG, Rn. 5; RiStBV Nr. 113 Abs. 2). Vorliegend wäre die Staats-anwaltschaft zu solchen Ausführungen verpflichtet gewesen, da sich unter Beachtung des Ausnahmecharakters des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG ein besonderer Umfang oder eine besondere Bedeutung der Sache nicht aufdrängen.

Ungeachtet dessen ist der Senat nicht gehindert, die Eröffnungsentscheidung des Landgerichts auch unter diesem Gesichtspunkt zu überprüfen. Denn der „besondere Umfang“ und die „besondere Bedeutung des Falles“ sind unbestimmte Rechtsbegriffe, die der gerichtlichen Nachprüfung unterliegen. Insofern hat die Staatsanwaltschaft auch keinen Beurteilungs- oder -Ermessensspielraum für eine Anklageerhebung zum Landgericht (vgl. BVerfGE 9, 223 (227), Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Auf ihre sofortige Beschwerde, mit der sie auch auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG abstellt, ist deshalb die umfassende Überprüfung der Zuständigkeitsentscheidung möglich (vgl. KG Berlin, Beschluss -vom 27. September 2004 – 5 Ws 255/04; OLG Hamburg, Beschluss vom 4. März 2005 – 2 Ws 22/05; Schuster in Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. 2018, § 24 GVG, Rn. 5).

Im Ergebnis. dieser Überprüfung sind weder ein besonderer Umfang noch eine besondere Bedeutung der vorliegenden Sache im Sinne von § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG gegeben.

Ein besonderer Umfang der Sache kann sich in einer Gesamtschau aus der Zahl der Angeklagten, der Zahl der vorgeworfenen Taten, aus dem Umfang des Aktenmaterials und der zu erwartenden Beweisaufnahme und Verfahrensdauer ergeben (vgl. Beck-OK GVG, Rn. 14, OLG Karlsruhe, StV 2011, 614; Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 7). Die besondere Bedeutung der Sache kann auf rechtlichen oder tatsächlichen Gründen beruhen, wobei das Ausmaß der Rechtsverletzung, die Auswirkungen der Straftat, eine Erhöhung des Unrechtsgehalts durch eine herausragende Stellung des Angeklagten oder des Verletzten in den Blick zu nehmen ist. Im Ergebnis dieser Betrachtung muss schließlich beurteilt werden, ob es sich um ein Verfahren handelt, welches sich aus der Masse der durchschnittlichen Strafsachen (auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität) heraushebt oder es um die Entscheidung einer für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle bedeutsame Rechtsfrage geht (vgl. Beck-OK GVG, a.a.O., Rn. 16, Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Rn. 8).

Solche Umstände liegen für das hiesige Verfahren, das einer Einzelfallbetrachtung zu unter-ziehen ist, nicht vor. Dies gilt auch unter Beachtung dessen, dass es sich um ein Verfahren aus den „Encrochat-Fällen handelt. Die Sachakten bestehen derzeit aus lediglich zwei Leitzordnem Sachakten mit insgesamt 573 Seiten sowie neun Sonderbänden (sechs Leitzordner und drei Aktenbände). Bedeutsame Rechtsfragen sind geklärt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 — 5 StR 457/21; OLG Dresden, Beschluss vom 16. Juni 2021 -3 Ws 37/21 und Beschluss vom 25. August 2021 – 3 Ws 63/21; OLG Delle Beschluss vom 12. August 2021 — 2 Ws 250121).“

Zuständigkeit I: Steuerhinterziehung beim AG?, oder: Klassiker

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Heute dann drei OLG-Entscheidungen, die sich mit Zuständigkeitsfragen befassen, und zwar zwei StPO-Entscheidungen und eine aus dem Auslieferungsrecht.

Zunächst hier der OLG Brandenburg, Beschl. v. 10.02.2022 – 2 Ws 202/21. Es ist der Klassiker. Die Staatsanwaltschaft legt dem Angeschuldigten zur Last, im Zeitraum vom 31.05.2014 bis zum 31.05.2019 in sieben Fällen die Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen in Unkenntnis gelassen und dadurch Steuern verkürzt zu haben (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO), wobei in einem Fall lediglich eine versuchte Tat vorliegen soll.

Das LG hat die Anklage teilweise zur Hauptverhandlung zugelassen, das Hauptverfahren jedoch abweichend von der Entschließung der Staatsanwaltschaft vor dem AG – Strafrichter – eröffnet, weil die Sache weder einen besonderen Umfang noch eine besondere Bedeutung aufweise (§ 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG). Wegen eines anderen teils hat das LG die Eröffnung abgelehnt.

Dagegen die sofortige Beschwerder der Staatsanwaltschaft, die vor dem LG verhandeln will. Das OLG führt zur Zuständigkeit aus:

„1. Die Strafkammer hat mit zutreffender Begründung das Hauptverfahren vor dem sachlich zuständigen Amtsgericht – Strafrichter – eröffnet (§ 209 Abs. 1 StPO, § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, § 74 Abs. 1 Satz 2 GVG) und dabei mit Recht angenommen, dass eine Zuständigkeit des Landgerichts sich nicht aus einem – hier ersichtlich nicht vorliegenden – besonderen Umfang des Verfahrens und auch nicht aus einer besonderen Bedeutung des Falles ergibt (§ 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 GVG). Im Falle eines etwaigen, bislang hier auch konkret noch nicht abzusehenden Medien- und Öffentlichkeitsinteresses ist im Hinblick auf das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) eine die Zuständigkeit des Landgerichts begründende besondere Bedeutung nur ausnahmsweise bei Konstellation eines überragenden oder bundesweiten Interesses anzunehmen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 10. Dezember 2019 – III-4 Ws 268/19, zit. nach Juris). Einen solchen Fall hat die Strafkammer mit Recht verneint.“

Ich sage doch: Klassisch :-).