Archiv der Kategorie: Ermittlungsverfahren

EV II: Keine Beschwerde zum BGH bei Blutproben, oder: Konkreter Anfangsverdacht für Durchsuchung

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Die zweite Entscheidung kommt vom BGH. Der hat im BGH, Beschl. v. 10.08.2023 – StB 45 + 46/23 – zu Rechtsmitteln im Ermttlungsverfahren Stellung genommen.

Der GBA führt gegen den Beschuldigten und weitere Personen ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit einer Vereinigung, die auf die Begehung linksextremer Gewaltstraftaten ausgerichtet gewesen sein soll; soweit es den Beschuldigten betrifft, wegen des Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung gemäß § 129 Abs. 1 Satz 2 StGB. Auf seine Anträge hat der Ermittlungsrichter des BGH mit Beschlüssen vom 28. März 2023 zum einen die Durchsuchung der Person, der Wohnung und etwaiger weiterer Nebengelasse des Beschuldigten zum Zwecke der Sicherstellung im Einzelnen näher bezeichneter Tat- und sonstiger Beweismittel (1 BGs 547/23) und zum anderen die Entnahme einer Blutprobe beim Beschuldigten nebst deren molekulargenetischer Untersuchung und Abgleichung (1 BGs 548/23) angeordnet. Beide Beschlüsse sind am 6. Juli 2023 vollzogen worden. Bei der Durchsuchung ist eine Vielzahl von Gegenständen beschlagnahmt oder zur Durchsicht vorläufig sichergestellt worden.

Der Betroffene hat gegen beide Maßnahmen Beschwerde eingelegt, die er nicht begründet hat. Beide Rechtsmittel hatten keinen Erfolg:

„1. Die Beschwerde gegen den Beschluss zur Entnahme einer Blutprobe gemäß § 81a StPO und weiterer Maßnahmen gemäß §§ 81e, 81g StPO (1 BGs 548/23) ist bereits unzulässig. Sie ist gegen eine Verfügung des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs gerichtet, gegen die das Rechtsmittel nur in den in § 304 Abs. 5 StPO vorgesehenen Ausnahmefällen statthaft ist. Die angefochtene Anordnung der Entnahme einer Blutprobe des Beschuldigten zur Feststellung seines DNA-Identifizierungsmusters und Geschlechts sowie des Abgleichs des so gewonnenen Musters mit Vergleichsmaterial in künftigen Strafverfahren gemäß § 81a Abs. 1, Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 StPO, §§ 81e, 81f, 81g Abs. 1 bis 3 und 5 Satz 1 StPO ist hiervon nicht erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Juni 2020 – StB 16/20, juris Rn. 3 ff. mwN).

2. Die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss bleibt in der Sache ohne Erfolg.

a) Sie ist zwar gemäß 304 Abs. 5 StPO statthaft und auch im Übrigen zulässig, weil ihr Ziel noch nicht prozessual überholt ist. Angesichts der nicht abgeschlossenen Durchsicht der vorläufig sichergestellten elektronischen Speichermedien dauert die Durchsuchungsmaßnahme weiterhin an. Für eine Umdeutung in einen Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme besteht daher kein Raum (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. November 2021 – StB 6/21 u.a., NJW 2022, 795 Rn. 5 mwN, vom 13. Juni 2023 – StB 29/23, juris Rn. 4).

b) Die Beschwerde ist jedoch unbegründet, denn die Voraussetzungen für den Erlass der Durchsuchungsanordnung gegen den Beschuldigten (§ 102, 105 StPO) waren gegeben.

aa) Gegen den Beschuldigten lag ein die Durchsuchung nach 102 StPO rechtfertigender Anfangsverdacht vor, eine kriminelle Vereinigung, die auf die Begehung von Gewaltstraftaten gerichtet ist, unterstützt zu haben.

(1) Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen durchzuführenden Durchsuchung genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkt gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen wurde und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht (st. Rspr.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05, NJW 2007, 1443; BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2008 – StB 26/08, BGHR StPO § 102 Tatverdacht 2; vom 12. August 2015 – StB 8/15, NStZ 2016, 370).

(2) Gemessen hieran lagen sachlich zureichende Gründe für die Anordnung einer Durchsuchung der Person, der Wohnung und etwaiger weiterer Nebengelasse des Beschuldigten vor. Es bestand der Anfangsverdacht, dass der Beschuldigte zumindest zwischen Januar und Juni 2022 eine spätestens seit August 2018 in und um L.    bestehende kriminelle Vereinigung unterstützte, die sich zum Ziel gesetzt hatte, körperliche Übergriffe auf (vermeintliche) Angehörige der rechten Szene zu begehen. Hierzu im Einzelnen:

(a) Vier mutmaßliche Mitglieder der genannten Vereinigung sind zu Gesamtfreiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Gegenstand der Verurteilungen war neben der Mitgliedschaft in oder der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung jeweils auch die unterschiedlich geartete Beteiligung an mehreren mit erheblichen Körperverletzungen verbundenen gewalttätigen Überfällen auf verschiedene Geschädigte. Im Vorfeld der einzelnen Überfälle fanden Ausspähungsbemühungen statt, bei denen die handelnden Personen Verkleidungsutensilien zu ihrer Tarnung verwendeten.

(b) Der Beschuldigte stand im Verdacht, die kriminelle Vereinigung dadurch unterstützt zu haben, dass er für die Ausspäheinsätze geeignete und bestimmte Verkleidungsutensilien wie verschiedenartige Firmenbekleidung beschaffte, zur Verfügung stellte und in seiner Wohnung verwahrte. Solche bekleidungsstücke waren bereits am 15. Juni 2022 anlässlich einer gemäß § 103 StPO angeordneten Durchsuchung des Zimmers des jetzigen Beschuldigten in der Wohnung einer Mitbeschuldigten aufgefunden worden (vgl. Beschlüsse des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni 2022 – 1 BGs 129/22, vom 15. Juni 2022 – 1 BGs 168/22; Senat, Beschluss vom 20. Juli 2022 – StB 29/22). An den dort sichergestellten Bekleidungsgegenständen waren tatrelevante DNA-Spuren nachweisbar.

(c) Hinzu kommt, dass der Beschuldigte mit weiteren mutmaßlichen Vereinigungsmitgliedern in freundschaftlicher Verbindung stand und deren ideologische Überzeugung teilte.

(d) Zu den Einzelheiten der den Anfangsverdacht gegen den Beschuldigten begründenden Umstände wird auf die detaillierten Ausführungen in dem Durchsuchungsbeschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 28. März 2023 (1 BGs 547/23) verwiesen.

bb) Weiterhin war es trotz der bereits am 15. Juni 2022 erfolgten Durchsuchung des Zimmers des jetzigen Beschuldigten und Sicherstellung der Verkleidungsutensilien zu erwarten, dass die neuerliche Durchsuchung zum Auffinden (weiterer) beweiserheblicher Gegenstände und Daten führen werde. Während die vormalige Durchsuchung gegen die Mitbeschuldigte gerichtet war (Beschluss des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni 2022 – 1 BGs 129/22), zielte die aktuelle Durchsuchung auf den Beschuldigten selbst, so dass nunmehr auch eindeutig ihm zuzuordnende Beweisgegenstände der Sicherstellung unterlagen.

cc) Die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts und damit auch diejenige des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs war gegeben. Gegen die Annahme der besonderen Bedeutung im Sinne des 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 GVG in Verbindung mit § 74a Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 GVG ist mit Blick auf die konkreten Umstände des Tatgeschehens nichts zu erinnern.

dd) Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit war gewahrt. Die Durchsuchungsanordnung gegenüber dem Beschuldigten war geeignet und erforderlich, zur weiteren Aufklärung seiner Beteiligung an dem Tatgeschehen beizutragen. Die Anordnung der Durchsuchung stand zudem in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung und Schwere der aufzuklärenden Straftat.“

BVerfG II: Acht Monate Untätigkeit sind zu viel, oder: Klatsche für das AG Tiergarten

entnommen openclipart.org

In der zweiten Entscheidung aus Karlsruhe hat es eine Klatsche für das AG Tiergarten gegeben. Das hatte über einen bei ihm eingegangenen Eilantrag acht Monate nicht entschieden. Es ging um die Frage, ob ein bei einer Durchsuchung in angeblichen Redaktionsräumen gefundener USB-Stick versiegelt wird. Durchsucht worden waren im Rahmen von zwei Ermittlungsverfahren wegen strafbewehrter Verstöße gegen das Parteiengesetz am 28.09.2022 mehrere Objekte u.a. in Berlin. Hintergrund war der Vorwurf, dass für die Jahre 2016 bis 2018 falsche Rechenschaftsberichte für eine Partei eingereicht worden seien.

Bei der Durchsuchung wurde in einem Panzerschrank ein Umschlag mit einem USB-Stick sichergestellt. Gestützt darauf, dass die Redaktionsräume nicht hätten durchsucht werden dürfen, und die Daten dem journalistischen Quellenschutz unterlägen, beantragte das Nachrichtenportal, das von der Partei betrieben wurde, am 01.11.2022 die Rückgabe. Außerdem beantragte sie, den Umschlag sofort bis zur Entscheidung über die Herausgabe zu versiegeln. Telefonische Rückfragen nach gut einer Woche blieben eben so unbeantwortet wie eine schriftliche Sachstandsanfragen im Januar 2023. Aufgrund einer Dienstaufsichtsbeschwerde bewegte sich dann endlich etwas.

Das hat dem BVerfG im BVerfG, Beschl. v. 26.06.2023 – 1 BvR 491/23  – aber nicht gereicht:

„2. Die Verfassungsbeschwerde ist, soweit sie zulässig ist, offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG). Die fortbestehende ermittlungsrichterliche Untätigkeit betreffend den Eilantrag in dem Verfahren 237 Js 536/22 verletzt die Beschwerdeführerin in Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.

a) Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgt effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Verletzungen der Individualsphäre durch Eingriffe der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 51, 176 <185>; 67, 43 <58>; 101, 106 <122 f.>). Dieser Rechtsschutz darf sich dabei nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch ein mit zureichender Entscheidungsmacht ausgestattetes Gericht führen (vgl. BVerfGE 101, 106 <123>). Hierbei bedeutet wirksamer Rechtsschutz auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass Eilrechtsschutz soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können (vgl. BVerfGE 37, 150 <151 ff.>; 65, 1 <70>; BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Februar und 25. Mai 2022 – 2 BvR 167/22 -, Rn. 2 bzw. Rn. 20, m.w.N.).

b) Diesen Anforderungen wird der Ermittlungsrichter im Ermittlungsverfahren 237 Js 536/22 nicht gerecht. Sein Umgang mit dem Eilantrag der Beschwerdeführerin verletzt deren Anspruch auf effektiven Rechtschutz.

In ihrem Schriftsatz vom 1. November 2022 hat sie ausdrücklich folgenden Antrag gestellt:

„Ich beantrage ferner die sofortige Versiegelung des „Kuverts […]“ inkl. des darin enthaltenen USB-Sticks (1 TB) bis zur Herausgabe an meine Mandantin, jedenfalls bis zur richterlichen Entscheidung.“

In der Antragsbegründung kritisierte die Beschwerdeführerin, dass die Durchsuchungsbeamten „noch nicht einmal“ den sichergestellten Datenträger versiegelt hätten, was nunmehr – so ausdrücklich – umgehend nachgeholt werden müsse.

Unbeschadet dieser unmissverständlichen Formulierungen musste sich dem Ermittlungsrichter auch deshalb die Eilbedürftigkeit dieses Antrags aufdrängen, weil dieser erkennbar darauf ausgerichtet war, vollendete Zustände zu verhindern. Mit ihrem Hauptantrag auf ermittlungsrichterliche Entscheidung bezweckte die Beschwerdeführerin – wie ebenfalls von ihr ausdrücklich benannt – die Aufhebung der Sicherstellung und Herausgabe des Kuverts inklusive des darin befindlichen USB-Sticks. Sie berief sich im Weiteren auf ihre besondere Stellung als Presseorgan, weshalb jede Einsichtnahme der Ermittlungsbehörden in die auf dem USB-Stick gespeicherten Daten verhindert werden soll.

Vor diesem Hintergrund war klar, dass der Entscheidung über den Hauptantrag und damit dem durch das Fachrecht vorgesehenen Rechtsbehelf nach § 110 Abs. 4, § 98 Abs. 2 Satz 2 StPO praktisch keine Bedeutung mehr zukommt, sobald die Ermittlungsbehörden den USB-Stick ausgewertet haben. Um daher einem solchen irreversiblen Zustand zuvorzukommen, hat die Beschwerdeführerin einen Eilantrag formuliert. Damit hatte sie einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf dessen seiner Dringlichkeit entsprechenden Bescheidung.

Ein Zurückstellen der Entscheidung über den Eilantrag seit nunmehr über acht Monaten ist hiermit unvereinbar. Ein dies rechtfertigender Grund folgt auch – worauf das Land Berlin in seiner Stellungnahme gedrungen hat – nicht daraus, dass der Ermittlungsrichter zunächst vor Entscheidung über die Anträge der Beschwerdeführerin vom 1. November 2022 abwarten durfte, wie über eine durch den Geschäftsführer der Beschwerdeführerin im eigenen Namen angebrachte Beschwerde entschieden wird. Ein solches am Gedanken der Prozessökonomie ausgerichtetes Vorgehen kann allenfalls rechtfertigen, dass die Entscheidung über den Hauptantrag vom 1. November 2022 zurückgestellt wird, um divergierende Sachentscheidungen zu vermeiden. Dies gilt für den Eilantrag vom 1. November 2022 hingegen nicht, weil die Beschwerdeführerin mit diesem keine Entscheidung in der Sache, sondern nur eine vorläufige Sicherung ihrer geltend gemachten Rechtsposition begehrt.“

StPO III: Mal wieder zum Klageerzwingungsverfahren, oder: Notanwalt und erneuter Antrag

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Und zum Tagesschluss dann mal wieder ezwas zum Klageerzwingungsverfahren (§§ 172 ff. StPO).

Das OLG Frankfurt am Main hat im OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 10.10.2023 – 7 Ws 148/23 – zu zwei Fragen dazu Stellung genommen, und zwar zur Beiordnung eines Notanwalts und zum wiederholter Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach §§ 172 ff. StPO. Das OLG hat den Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts zurückgewiesen:

„Die Beiordnung eines sogenannten Notanwalts ist im Klageerzwingungsverfahren grundsätzlich unzulässig (ständige Rechtsprechung des OLG Frankfurt am Main, vgl. z.B. Beschluss vom 15. Februar 2023 – 7 Ws 23/23 = BeckRS 2023, 5527). Ein Antragsteller, der die Kosten für einen Rechtsanwalt nicht aufbringen kann, erhält Prozesskostenhilfe, wenn der Klagerzwingungsantrag hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 172 Abs. 2 S. 2 StPO, § 114 ZPO). Für die denkbaren, wenn auch seltenen Fälle, in denen das Klageerzwingungsverfahren aussichtsreich erscheint und sich gleichwohl ein vertretungsbereiter Anwalt nicht finden lässt, kann die Beiordnung eines Notanwalts in entsprechender Anwendung von § 78b ZPO in Betracht kommen. Dies setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller darlegt und glaubhaft macht, welche erfolglosen Bemühungen er entfaltet hat, um die Übernahme des Mandats durch einen Rechtsanwalt zu erreichen (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 23. Februar 2023 – 7 Ws 288/22 und Beschluss vom 15. Februar 2023 – 7 Ws 23/23, a.a.O.). Außerdem muss sich aus seinem Vortrag ohne Beiziehung der Akten ergeben, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht mutwillig oder aussichtslos erscheint (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 17. Januar 2019 – 3 Ws 1036/18; OLG Bamberg, Beschluss vom 7. Mai 2007 – 3 Ws 113/06 = NJW 2007, 2274). Beide Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt.

1. In Bezug auf die von dem Antragsteller angestellten Bemühungen, einen zur Vertretung bereite Rechtsanwältin oder einen solchen Rechtsanwalt zu finden, fehlt es bereits an einer aus sich heraus nachvollziehbaren Darlegung in der Antragsschrift, bei welchen Rechtsanwälten und in welcher Art und Weise er Nachfrage gehalten hat. Insbesondere genügt es nicht, lediglich auf die dem Antrag beigefügte E-Mail-Korrespondenz zu verweisen und erst recht ist es nicht ausreichend, diese E-Mail-Korrespondenz beschränkt auf die Antwortschreiben der Rechtsanwälte beizufügen, bleibt auf diese Weise doch im Dunklen, ob sich die Anfrage des Antragstellers überhaupt auf den hier in Rede stehenden Sachverhalt bezogen hat. Hinzu kommt vorliegend, dass der Antragsteller in der Antragsschrift sogar dargelegt hat, „weitere Strafrechtler“ gefunden zu haben, die sich mit der Übernahme der Angelegenheit bereit erklärt hätten. Insofern hätte der Antragsteller darlegen müssen, dass diese dem Grunde nach zu einer Mandatsübernahme bereiten Rechtsanwälte – sofern er finanziell nicht zur Zahlung des Honorars in der Lage ist – ein Tätigwerden auf der Basis der gesetzlichen Gebühren ausgeschlossen haben. Der pauschale Verweis in der Antragsschrift, dass sich ein Rechtsanwalt, „der die Sache zu den gesetzlichen Gebühren vertreten wollte, […] auch im Rahmen einer fortgesetzten Suche gar nicht gefunden [hat]“, genügt dem Darlegungserfordernis nicht.

2. Darüber hinaus verspricht der von dem Antragsteller anvisierte Antrag auf gerichtliche Entscheidung von vornherein keinen Erfolg. Soweit man den Antrag des Antragstellers in seiner Antragsschrift vom 25. Juni 2023, der ausdrücklich als „Antrag auf Beiordnung eines Notanwalts im Klageerzwingungsverfahren als Folgeverfahren zu 1 Ws 132/12“, bezeichnet ist, mit Blick auf die behauptete Fehlerhaftigkeit der vormaligen Entscheidung als Antrag auf erneute Bescheidung versteht, ist der Rechtsbehelf aufgrund der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 16. Oktober 2013 unter dem vorgenannten Aktenzeichen grundsätzlich bereits verbraucht. Ein neuerlicher Klageerzwingungsantrag ist nur dann statthaft, wenn der Antragsteller unter Einhaltung der sich aus §§ 172 ff. StPO ergebenden Formerfordernisse neue Tatsachen und/oder Beweismittel vorbringt, die die tragenden Gründe der Vorentscheidung in einem Maße erschüttern, dass nunmehr ein hinreichender Tatverdacht gegeben ist (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 22. Juli 2023 – 3 Ws 751/03 = BeckRS 2003, 268; OLG Köln, Beschluss vom 14. Februar 2003 – 1 Zs 1656/02 = NStZ 2003, 682).

Die Antragsschrift vom 25. Juni 2023 wird diesen Formerfordernissen – auch unter Berücksichtigung des Schreibens vom 2. September 2023 – nicht gerecht. So werden nicht einmal der oder die Namen des bzw. der Antragsgegner genannt, es fehlt an einer in sich geschlossenen Darstellung zu dem behaupteten strafrechtlich relevanten Vorwurf, die dem Senat auch ohne Heranziehung der Akten eine Prüfung des Sachverhalts ermöglicht, und erst recht lässt sich den Schreiben des Antragstellers nicht entnehmen, dass sich seit der Entscheidung des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main im Jahre 2013 neue Tatsachen oder Beweismittel ergeben hätten.

3. Soweit die Ausführungen des Antragstellers in der Antragsschrift vom 25. Juni 2023 dahin zu verstehen sind, dass sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung gegen das die künftige Bescheidung von Anträgen versagende Schreiben der Staatsanwaltschaft Fulda vom 26. September 2022 richtet, hätte dieser schon deshalb keinen Erfolg, weil es sich hierbei nicht um einen Verwerfungsbescheid im Sinne von § 172 Abs. 2 StPO handelt. Gegen andere Entscheidungen der (General-)Staatsanwaltschaft, wie etwa auch dienstaufsichtsrechtlichen Entscheidungen ist der Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 StPO nicht statthaft (vgl. OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 21. September 2023 – 7 Ws 19/23 m.w.N).“

StPO I: Akteneinsicht der Verletzten/Nebenklägerin, oder: Wann ist der Untersuchungszweck gefährdet?

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Und heute am letzten Oktobertag – hier in Niedersachsen ist Feiertag – ein wenig StPO.

Ich beginne mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 13.09.2023 – 1 Ws 141/23 – zur Akteneinsicht des Verletzten. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeschuldigten vorgeworfen wird, zum Nachteil der Nebenklägerin im Zeitraum vom Januar 2019 bis Ende November 2019 in zehn Fällen eine Vergewaltigung, jeweils in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, begangen zu haben. Bei der Geschädigten handelt es sich um die Ehefrau des Angeschuldigten. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens ist noch nicht entschieden.

Die Geschädigte hat ihren Anschluss als Nebenklägerin erklärt. Das Amtsgericht hat ihr gem. § 406h StPO einen Verletztenbeistand bestellt. Der hat Akteneinsicht beantragt. Die als Verletztenbeistand tätige Rechtsanwältin hat erklärt, sie werde nach Absprache mit der Verletzten dieser weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis geben. Akteneinsicht ist bewilligt worden, allerdings ist deren tatsächliche Gewährung für den Fall der Beschwerdeerhebung bis zur Entscheidung des Beschwerdegerichtes zurückgestellt worden. Über die Beschwerde hat nun das OLG entschieden. Sie hatte in der Sache keinen Erfolg:

„a) Die Verletzte hat gemäß § 406 e Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Satz 2 StPO über ihre Rechtsanwältin auch ohne Darlegung eines berechtigten Interesses einen Anspruch auf umfassende Einsicht in die Verfahrensakten, denn es liegt ein in § 395 StPO genannter Fall vor. Die Verletzte ist laut der Anklage vom 13. April 2023 durch rechtswidrige Taten nach §§ 177 und 223 StGB verletzt, so dass sie sich nach § 395 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 3 StPO der öffentlichen Klage mit der Nebenklage anschließen kann. Es steht lediglich die Entscheidung des Gerichtes über die Befugnis zum Anschluss aus.

b) Es ist nicht zu beanstanden, dass der stellvertretende Vorsitzende der Strafkammer die beantragte Akteneinsicht gewährt und nicht nach § 406 e Abs. 2 StPO abgelehnt hat.

aa) Nach § 406 e Abs. 2 Satz 1 StPO ist die Einsicht in die Akten zu versagen, soweit überwiegende schutzwürdige Interessen des Beschuldigten oder anderer Personen entgegenstehen. Bei der Entscheidung über die Gewährung von Akteneinsicht sind daher die Interessen der Betroffenen gegeneinander abzuwägen. Vorliegend sind bei der Abwägung insbesondere die Schwere der gegen den Angeschuldigten erhobenen Tatvorwürfe und der Umstand zu berücksichtigen, dass angesichts der Erhebung der öffentlichen Klage ein erheblicher Verdachtsgrad gegen ihn besteht. Hiernach kommt dem Interesse der mutmaßlichen Verletzten und künftigen Nebenklägerin, den vollständigen Akteninhalt kennenzulernen, ein hohes Gewicht zu. Besonders sensible Daten des Angeschuldigten, wie sie etwa in medizinischen oder psychiatrischen Gutachten enthalten sein können, sind vorliegend nicht Aktenbestandteil; der den Angeschuldigten betreffende Auszug aus dem Bundeszentralregister enthält einige Eintragungen bezüglich Vorstrafen sowie Suchvermerke, allerdings wird er ohnehin im Falle der Eröffnung des Hauptverfahrens Gegenstand der mündlichen Erörterung in der Hauptverhandlung. Soweit Zeugen genannt sind, enthält die Akte keine sensiblen Daten, die über die Schilderung der dem Angeschuldigten zur Last gelegten Straftaten hinausgehen.

bb) Ein Versagungsgrund nach § 406 e Abs. 2 Satz 2 StPO besteht ebenso wenig. Nach dieser Vorschrift kann dem Berechtigten die Akteneinsicht versagt werden, soweit der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Gefährdung des Untersuchungszwecks kann angenommen werden, wenn zu befürchten ist, dass bei Gewährung der Akteneinsicht die Sachaufklärung beeinträchtigt wird, weil etwa – wie hier vom Verteidiger insbesondere im Hinblick auf das erstellte aussagepsychologische Gutachten geltend gemacht – die Kenntnis der Verletzten vom Akteninhalt die Zuverlässigkeit und den Wahrheitsgehalt einer von ihr noch zu erwartenden Zeugenaussage beeinträchtigen kann (vgl. KG, NStZ 2016, 438; OLG Braunschweig, NStZ 2016, 629). Allein die Rolle der Verletzten als Zeugin in dem anhängigen Strafverfahren und die deshalb durch das Akteneinsichtsrecht grundsätzlich eröffnete Möglichkeit einer „Präparierung“ ihrer Aussage anhand des Akteninhalts reicht für eine Versagung der Akteneinsicht nicht aus (vgl. Beschluss des Senates vom 06. Juli 2020, Az.: 1 Ws 81/20; Hanseatisches OLG Hamburg, NStZ 2015, 105). Denn zum einen geht mit der Wahrnehmung des gesetzlich eingeräumten Akteneinsichtsrechts nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (vgl. BGH, NStZ 2016, 367; OLG Braunschweig NStZ 2016, 629). Zum anderen würde durch die generalisierende Annahme, dass mit der Akteneinsicht durch den Verletztenbeistand die Glaubhaftigkeit der Angaben eines Verletzten stets in besonderer Weise in Zweifel zu ziehen sei, seine freie Entscheidung, Akteneinsicht zu beantragen, beeinträchtigt werden; gerade denjenigen, die Opfer einer Straftat geworden sind, würden damit die Schutzfunktionen der §§ 406 d f. StPO entzogen (vgl. BGH, a.a.O.; der Senat a.a.O.; KG, NStZ 2016, 438; KG, Beschluss vom 21. November 2018, Az.: 3 Ws 278/18, juris; OLG Düsseldorf, StV 1991, 202).

Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Aussagekonstellation erscheint die Annahme eines geringen Grades der Gefährdung des Grundsatzes der Wahrheitsermittlung angesichts der von der als Verletzenbeistand tätigen Rechtsanwältin abgegebenen Zusicherung, ihrer Mandantin weder die Akte samt Gutachten zur Verfügung zu stellen noch ihr Inhalte zur Kenntnis zu geben, und der möglichen Vernehmung der Verletzten als Zeugin zu dieser Frage nicht ermessensfehlerhaft (vgl. der Senat a.a.O.; OLG Braunschweig, a.a.O.). Der Senat geht davon aus, dass Rechtsanwältin („Name 02“) als erfahrene Vertreterin der Nebenklage mit den erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die tatrichterliche Beweiswürdigung vertraut ist, wie sie in einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auch in Bezug auf die Bedeutung der Konstanzanalyse gelten, und infolgedessen auch bemüht sein wird, den Beweiswert der Aussage ihrer Mandantin nicht zu reduzieren.

Zwar ist dem Beschwerdeführer insoweit zuzustimmen, dass die Einhaltung einer solchen Zusage weder erzwungen noch sanktioniert werden könnte. Die Einhaltung der Verzichtserklärung ist indes für das Tatgericht überprüfbar. Denn es kann und muss die Verletzte als Zeugin befragen. Anders als der Angeschuldigte, später möglicherweise der Angeklagte, ist die Verletzte und künftige Nebenklägerin als Zeugin zur Wahrheit verpflichtet und muss für den Fall einer Lüge mit einer erheblichen Strafe rechnen. Eine „Präpararation“ durch ihren Beistand anhand der aus der Akte gewonnenen Erkenntnissen, insbesondere des erstellten aussagepsychologischen Gutachtens dürfte einer erfahrenen Vernehmungsperson, zu denen Strafrichter zu zählen sind, in aller Regel nicht verborgen bleiben. Die mögliche Aktenkenntnis der künftigen Zeugin kann hiernach bei der Beweiswürdigung – soweit erforderlich – berücksichtigt werden (vgl. BGH, NJW 2005, 1519). Dabei dürfte es sich im Ergebnis eher zu Gunsten als zu Lasten des Angeklagten auswirken, wenn eine festgestellte Konstanz in der Aussage der Verletzten wegen einer vorherigen Akteneinsicht an Wert für die Beurteilung ihrer Angaben als richtig verliert.

c) Eine Versagung der Akteneinsicht nach § 406 e Abs. 2 Satz 3 StPO wegen drohender erheblicher Verfahrensverzögerung kommt ersichtlich nicht in Betracht.“

Die Woche beginnt und endet mit ANOM-Chat, oder: Wunder 2.0 – OLG München verneint Verwertbarkeit

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Und dann eine „Sondermeldung“ am Gebührenfreitag, die nichts mit Gebühren zu tun hat. Ich meine aber, dass ich die Entscheidung schnell einstellen und dazu hier berichten soll.

Es handelt sich um den OLG München, Beschl. v. 19.10.2023 – 1 Ws 525/23. Ich stelle ihn – außer der Reihe – ein, weil er auch die ANOM-Problematik zum Gegenstand habe, über die ich ja schon am Montag mit dem LG Memmingen, Urt. v. 21.08.2023 – 1 Kls 401 Js 10121/22 – berichtet habe (vgl. hier BtM II: Verwertbarkeit des ANOM-Chatverkehrs, oder: LG Memmingen nimmt Beweisverwertungsverbot an).

. Die Woche beginnt und endet also mit ANOM.

Und was viel wichtiger ist: Beide Entscheidungen lehnen die Verwertung der durch die Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ erlangten Erkennntisse mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, ab. dabei geht es im OLG München-Beschluss auch um ein beim LG Memmingen anhängiges Verfahren, es handelt sich aber nicht um das Verfahren, in dem das Urteil v. 21.08.2023 ergangen ist. Das OLG nimmt aber auf den Beschluss des LG Memmingen Bezug und tritt ihm in der Argumentation bei. Ich beschränke mich daher – auch wegen des Umfangs des Beschlusses – hier auf (meinen) Leitsatz, der (ebenfalls) lautet:

„Die Erkenntnisse aus der Auswertung gesicherter Chatverläufe des Krypto-Messengerdienstes „ANOM“ sind mangels Überprüfbarkeit, was zu einem Beweisverwertungsverbot führt, nicht verwertbar.“

Hinweisen will ich hier aber auf die Ausführungen des OLG zu EncroChat-Rechtsprechung des BGH:

„Der BGH verneint dabei die Anwendbarkeit des § 100e Abs. 6 Nr. 1 auf den Fallkomplex EncroChat mit der Begründung, die Maßnahmen der französischen Strafverfolgungs-behörden seien gerade keine Maßnahmen nach den §§ 100b, 100c gewesen, was § 100e Abs. 6 Nr. 1 voraussetze. Aufgrund der Besonderheiten des Rechtshilferechts und des europäischen Rechtsrahmens seien die Maßstäbe für die Verwertbarkeit von durch ausländische Ermittlungseingriffe erlangte Beweismittel nicht vollständig identisch mit denjenigen, welche für inländische Ermittlungsmaßnahmen gelten. Allerdings könne zur Gewährleistung des notwendigen Grundrechtsschutzes auf die in den strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen „verkörperten Wertungen“ – hier also § 100e Abs. 6 Nr. 1 – zurückgegriffen werden, um eine mangelnde Überprüfung der Eingriffsschwellen des französischen Strafverfahrensrechts auszugleichen. Die Voraussetzungen der in § 100e Abs. 6 Nr. 1 verkörperten Wertungen lägen indes vor, weil für die Bejahung des notwendigen Tatverdachts im Verwertungszeitpunkt auch auf die EncroChat-Daten selbst zurückgegriffen werden dürfe.

Weder bedürfe es allerdings einer über § 261 StPO hinausgehenden Rechtsgrundlage für die Umwidmung der Daten aus den französischen Strafverfahren zur Verwendung in deutschen Strafverfahren noch müsse es im deutschen Strafverfahrensrecht eine vergleichbare Ermittlungsmaßnahme geben. Diese Auffassung verkennt, dass sowohl nach deutschem Verfassungsrecht als auch nach europäischem Datenschutzrecht (Art. 4 Abs. 2 und Art. 8 RL 2016/680/EU) jede Verarbeitung personenbezogener Daten einer gesetzlichen, normenklaren und spezifischen Rechtsgrundlage bedarf – hierzu zählt insbesondere auch die zweckumwidmende Verwendung von Daten in strafprozessualen Ermittlungsverfahren. § 261 StPO stellt dabei nur eine Rechtsgrundlage für die Beweisverwertung durch die Tatgerichte, nicht aber eine Rechtsgrundlage für die Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren dar.

Der strafprozessuale Begriff der Verwendung umfasst dabei jede Nutzung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren, wie die Analyse, Auswertung, Speicherung, Übermittlung und das Ziehen von Schlüssen aus den Daten zur Gewinnung eines Tatverdachts für weitere Ermittlungsmaßnahmen oder die Anklageerhebung. Auf die §§ 161, 163 kann angesichts der massiven Grundrechtseingriffe durch die heimliche Infiltration von über 30 000 Mobilfunkgeräten offensichtlich auch nicht zurückgegriffen werden, da diese auf geringfügige Grundrechtseingriffe beschränkt sind.

Verneint der BGH nun die Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 (und damit wohl auch die von § 479 Abs. 2 S. 1 für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten), fehlt es an einer notwendigen Rechtsgrundlage für die Verwendung der EncroChat-Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren. Der BGH hätte sich somit auf Grundlage seiner Ablehnung der Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob aus der rechtsgrundlosen Verwendung der Daten durch die Strafverfolgungsbehörden im Ermittlungsverfahren (entspricht der Beweiserhebung) ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot folgt.

Es geht bei der Prüfung der Eingriffsschwere im Rahmen der Beweisverwertung nämlich nicht um eine Überprüfung ausländischer Ermittlungsmaßnahmen an ausländischem Recht, sondern um die Anwendung des § 261 StPO als innerstaatliches Recht auf die Beweisverwertung im deutschen Urteil und damit um einen innerstaatlichen Sachverhalt. Der begehrte zweckumwidmende Transfer der Daten vom französischen in das deutsche Strafverfahren richtet sich im deutschen Recht nach §§ 100e Abs. 6 Nr. 1 (für auf den infiltrierten Geräten gespeicherte Daten jenseits der Grenze des § 100a Abs. 1 S. 3 StPO) und 479 Abs. 2 S. 1 StPO (für die „laufenden“ Telekommunikationsdaten). Dieser Weg würde somit ebenfalls zur Anwendbarkeit von § 100e Abs. 6 Nr. 1 und § 479 Abs. 2 S. 1 führen. Diese Prüfung hätte – wie oben ausgeführt ergeben, dass die Verwendung der Daten nicht zulässig gewesen wäre.

Die vorgenannten Zweifel an der – vom BGH jedoch bejahten – Verwertbarkeit der EncroChats haben im gegenständlichen Strafverfahren betreffend den Nachweis von Tathandlungen nur durch die ANOM-Chats umso stärkeres Gewicht, als hier bereits ausführliche Aufklärungsarbeit im Strafverfahren durch das Landgericht geleistet wurde, ohne dass ein Drittland benannt oder bekannt wurde und es auch in Zukunft offenbar nicht benannt werden wird. Auch das Vorbringen, es habe im Drittland Gerichtsentscheidungen gegeben, steht ohne Nachweis im Raum, auch dies hat die Hauptverhandlung vor dem Landgericht bereits ergeben. Im gegenständlichen Strafverfahren erscheint daher die Verwertbarkeit der ANOM-Chats mindestens zweifelhaft, weswegen die ANOM-Chats im derzeitigen Aktenstand keinen dringenden Tatverdacht begründen. Hierbei war folgendes zu bedenken:

Die ANOM-App diente dem FBI zur Abhörung vermeintlich abhörsicherer Handykommunikation. Diese App schuf das FBI selbst und vertrieb sie über ein Scheinunternehmen für verschlüsselte Telefone. Einmal installiert konnte auf dem Handy nur noch über ANOM kommuniziert werden. Alle außerhalb der USA versandten Nachrichten waren mittels eines Masterkeys des FBI zu entschlüsseln (OLG Frankfurt NJW 2022, 710), sie wurden automatisch gespiegelt und an einen zentralen Server weitergeleitet. Der Server durfte nicht auf US-amerikanischem Boden stehen und das FBI durfte mit dieser Methode keine US-Bürger abhören. Ein erster Server wurde deswegen in Australien gehostet, dessen Gerichte untersagten jedoch die Datenweitergabe an die USA und weitere Staaten.

Deswegen suchte das FBI nach einem neuen Drittstaat und fand ihn in der EU (BT-Drs. 20/1249, S. 6). Dort hat die Bundesregierung die Frage 10 (Was ist der Bundesregierung darüber bekannt, auf welche Weise sich das FBI für die „Operation Trojan Shield“ Zugang zu den Daten des Kryptodienstes „ANOM“ verschaffte?) geantwortet: Nach hier vorliegendem Informationsstand erhielt das Federal Bureau of Investigation (FBI) die Daten per Rechtshilfe von einem nicht bekannten Mitgliedstaat in der Europäischen Union, da die Daten zunächst an einen dort befindlichen Server ausgeleitet worden waren. Auf die weitere Frage (a. Wurden nach Kenntnis der Bundesregierung die Daten von dem Kryptodienst direkt auf Server unter Kontrolle des FBI ausgeleitet oder auf Server in einem Drittstaat?) antwortete die Bundesregierung: Nach hier vorliegendem Informationsstand wurden die Daten zunächst an einen Server in einem nicht bekannten Mitgliedstaat der Europäischen Union ausgeleitet und erst von dort auf Grundlage eines Rechtshilfeersuchens an einen Server des FBI in den Vereinigten Staaten von Amerika weitergeleitet. Auf die weitere Frage (b. Ist dem BKA dieser Drittstaat bekannt, und falls nein, aus welchem Grund bleibt dieser ge-heim?) antwortete die Bundesregierung: Der Drittstaat ist dem Bundeskriminalamt ebenso wenig bekannt wie der Grund für dessen Geheimhaltung durch das FBI. Auf die weitere Frage (c. Erhielten deutsche Behörden bzw. erhielt Europol die Daten aus dem Kryptodienst „ANOM“ aus diesem Drittstaat oder vom FBI selbst?) antwortete die Bundesregierung: Das FBI stellte die Daten dem Bundeskriminalamt und Europol zur Verfügung. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die vorgenannte Bundestagsdrucksache Bezug genommen.

Der Drittstaat ist somit weder der Bundesregierung noch auch dem Bundeskriminalamt bekannt. Angeblich sollen die Gerichte dieses Drittstaats Beschlüsse erlassen haben, die eine Auswertung und Weitergabe dieser Daten an das FBI gestatteten. Auch dies kann nicht überprüft werden.

Die bekannt gewordenen gerichtlichen Entscheidungen zu ANOM-Chats gehen offensichtlich da-von aus, dass der Verteidigung keine weiteren Erkenntnisse außerhalb der Akten zur Verfügung gestellt werden müssten (vgl. „Strafverfolgung in Deutschland aufgrund US-amerikanischer Daten“ von Staatsanwalt Simon Pschorr und Prof. Dr. Liane Wörner, StV 2023, 274 ff., 279 ff.).

Durch die Trennung von beweiserhebendem und beweisverwertendem Staat werden bei der Verwertung von ANOM-Chats die Verteidigungsrechte von Angeklagten erheblich beschränkt; es werden aber auch die Aufklärungsmöglichkeiten des befassten Strafgerichts erheblich eingeschränkt, ohne dass bei Beginn der Abhörmaßnahmen ein individualisierter Tatverdacht gegen die betroffenen Personen überhaupt vorlag. Im Gegenteil, die ANOM-App wurde vom FBI unbeschränkt verbreitet und die Abhörung unbeschränkt vorgenommen, ob die Nutzer zuvor hinreichend verdächtig waren oder nicht. Aus diesem Grund bestehen erhebliche Zweifel daran, ob für die Datenerhebungen nach US-amerikanischem Recht oder nach deutschem Recht eine Ermächtigungsgrundlage besteht. Gleiches gilt für die Weitergabe von Daten an die ermittelnden Behörden.

Der BGH hat über die Verwertbarkeit von ANOM-Chats bislang nicht entschieden.

Die EncroChats, die vom BGH für verwertbar gehalten wurden, sind jedoch mit den Problemstellungen bei den ANOM-Chats nur schwerlich vergleichbar. Denn bei ANOM ist weder das vom FBI (nach Australien) als neues Drittland gewonnene Drittland bekannt, noch die von diesem unbekannten Drittland erlassenen gerichtlichen Beschlüsse….“

Man wird sehen, was daraus wird. Jedenfalls haben wir in dieser Woche zwei bayerische Wunder 🙂 .