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BayObLG II: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, oder: Körper des Beamten „gestreift“ – schon Gewalt?

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Die zweite Entscheidung des BayObLG, der BayObLG, Beschl. v. 01.06.2021 – 202 StRR 54/21 – nimmt zum Gewaltbegriff i.S.v. § 113 Abs. 1 StGB und zu den notwendigen Feststellungen zur Rechtsmäßigkeit der Diensthandlung i.S.v. § 113 Abs. 3 Stellung. Also: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.

Das LG hatte als Berufungsgericht folgende Feststellungen getroffen:

„Am 27.12.2019 war der Angeklagte gegen 15:40 Uhr in seinem Wohnort Sch. aus Richtung des Grenzübergangs zur tschechischen Republik joggend unterwegs. Hierbei trug er eine „Sturmhaube“, sodass sein Gesicht nicht zu erkennen war. Die Polizeibeamten A. und G. wollten den Angeklagten einer Personenkontrolle unterziehen. Sie wiesen sich gegenüber dem Angeklagten aus und baten diesen, sich ebenfalls auszuweisen, da er einer Personenkontrolle unterzogen werden sollte. Der Angeklagte erklärte daraufhin, nicht mit der Kontrolle einverstanden zu sein. Er zeigte auch keinen Ausweis vor, um sich über seine Personalien auszuweisen. Als die Beamten erklärten, sie würden ihn notfalls auch gegen seinen Willen durchsuchen, erwiderte er, dass er hiermit nicht einverstanden sei. Außerdem äußerte er zu den Polizeibeamten, dass sie einmal ohne Dienstmarken kommen sollen, dann würden sie schon sehen, was er machen werde. Daraufhin zog der Angeklagte, der türkischer Staatsangehöriger ist, sein Mobiltelefon aus der Tasche und erklärte, er werde jetzt das türkische Generalkonsulat anrufen. Die Beamten forderten den Angeklagten auf, das Telefonat bis nach Beendigung der Kontrolle zurückzustellen. Der Angeklagte kam dem jedoch nicht nach, sondern „hantierte weiter an seinem Handy“. Der Beamte A. wollte dem Angeklagten nun das Mobiltelefon aus der Hand nehmen, um „so die Kontrolle ordnungsgemäß zu Ende zu bringen“. Als der Beamte gerade dabei war, nach dem Telefon des Angeklagten zu greifen, begann dieser „mit den Armen stark rudernd, um sich zu schlagen, um zu verhindern, dass sein Mobiltelefon sichergestellt wird“. Dabei „streifte“ er mit seiner Hand auch den Brustbereich von PHK G. Aufgrund dieses Verhaltens wurde der Angeklagte durch die Beamten unter Einsatz körperlicher Gewalt zu Boden gebracht und fixiert. Dort ließ er sich Handschellen anlegen und leistete dabei keinen Widerstand, sodass er zur Dienststelle verbracht, dort durchsucht und seine Personalien festgestellt werden konnten.“

Dem BayObLG reicht das nicht für eine Verurteilung. Hier die Leitsätze der Entscheidung:

  1. Die Annahme von Gewalt i.S.d. § 113 Abs. 1 StGB setzt ebenso wie ein tätlicher Angriff i.S.d § 114 Abs. 1 StGB voraus, dass sich die Tathandlung gegen den Körper des Amtsträgers richtet.

  1. Im Falle der Verurteilung wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte leidet das tatrichterliche Urteil unter einem Darstellungsmangel, wenn sich aus der Schilderung des Geschehens die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung i.S.d. § 113 Abs. 3 StGB nicht ergibt.

Also: Aufgehoben und zurückverwiesen.

BayObLG I: Landfriedensbruch vom Fußballfan?, oder: Nur Mitmarschieren/nicht distanzieren reicht nicht

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Heute stelle ich dann mal drei Entscheidungen des BayObLG vor, und zwar sowohl zu StGB- als auch zu StPO-Fragen.

Ich beginne mit dem BayObLG, Beschl. v. 11.12.2021 – 206 StRR 421/20, den mir der Kollege Müller-Hpltz aus Düsseldorf geschickt hat. Es geht in dem Beschluss um die Frage, ob sich der Angeklagte an Gewalttätigkeiten aus einer Menschenmenge „beteiligt“ hat. Das AG Augsburg – Jugendrichter hat den Angeklagten wegen Landfriedensbruchs schuldig gesprochen. Dagegen die (Sprung)Revision.

Das AG hatte folgende Feststellungen getroffen:

1. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass sich der Angeklagte am 19. Januar 2019 in einer Gruppe von Fußballfans aus Düsseldorf in einer Gaststätte in Augsburg aufgehalten habe. Ca. 50 dieser Fans hätten die Gaststätte auf Kommando einer nicht bekannten Person schlagartig verlassen und seien anschließend mit ca. 30 Anhängern des FC Augsburg zusammengetroffen. Das Aufeinandertreffen sei in eine körperliche Auseinandersetzung einzelner Personen der Gruppierung gemündet. Dee Düsseldorfer Gruppe sei durch lautstarkes Geschrei — seitens in den Feststellurgen namentlich benannter Personen — zum Herbeieilen und zur Beteiligung an der Auseinandersetzung animiert worden. Als die Mitglieder der Augsburger Fangruppierung den Rückzug angetreten hätten, wurden nach den Feststellungen keine weiteren Tätlichkeiten verübt. Die Mitglieder der Düsseldorfer Gruppierung hätten sich dann zusammengeschlossen, sich durch lautstarkes Skandieren ihres Vereinsnamens und Erheben der Arme gegenseitig angepeitscht und seien den Flüchtenden „für kurze Zeit“ hinterhergestürmt, um die gegnerischen Fans zu verletzen, hätten die Verfolgung sodann jedoch ohne weitere Gewalttätigkeiten ab

Hinsichtlich des Angeklagten heißt es in den Feststellungen, dieser habe den Angriff durch seine „Anwesenheit“ unterstützt (UA S. 4), was sich nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen auf die erste Phase des einheitlichen Geschehens bezieht, nämlich auf das Aufeinandertreffen der Gruppen, bei dem Tätlichkeiten und damit Gewalttätigkeiten i.S.d. § 125 Abs. 1 Nr. I StGB begangen wurden. Im Abschnitt zur Beweiswürdigung, die der Senat zur Ergänzung des die Feststellungen enthaltenden Abschnitts heranziehen kann, weil die Urteilsurkunde eine Einheit bildet (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 267 Rn. 3), wird ergänzend ausgeführt, er habe sich „keineswegs … von der Gruppe der Düsseldorfer Fans distanziert“. Er „stehe mitten in der Gruppe“ (UA §, 5). Ferner habe er sich an der kurzen Verfolgungsjagd beteiligt und die Gruppierung durch lautstarke Rufe und „in die Hände klatschen“ [sic] unterstützt (UA S. 4).2

Dem BayObLG reicht das für eine Verurteilung nahc § 125 StGB nicht:

1) Ob sich jemand an Gewalttätigkeiten aus einer Menschenmenge beteiligt, bestimmt sich nach den allgemeinen Teilnahmegrundsätzen der §§ 25 ff. StGB (BGH, Urteil vom 24. Mai 2017, 2 StR 414/16, NJW 2017, 3456 Rn. 10; Beschluss vom 9. September 2008, 4 StR 368/08, NStZ 2009, 28). Strafgrund ist diese Beteiligung, nicht aber der bloße Anschluss an eine unfriedliche Menge (BGH NStZ 2009, 28). Nicht derjenige soll bestraft werden, der sich nach Gewalttätigkeiten nicht veranlasst sieht, sich zu entfernen, sondern nur derjenige, der sich aktiv an Gewalttätigkeiten beteiligt (BGH a.a.O.; vgl. BT Drs. Vl/502, S. 9). Bloß inaktives Dabeisein oder Mitmarschieren genügt nicht (BGH a.a.O.; BGH NJW 2017, 3456 Rn. 12, im Fall jedoch anders für ein „ostentatives Mitmarschieren“ durch Eingliederung in eine Marschformation).

(2) Das Verhalten des Angeklagten vor bzw. während der Begehung der Gewalttätigkeiten, wie es in den Urteilsgründen festgestellt wird, stellt sich nach diesen Maßstäben als bloße inaktive Anwesenheit in der Gruppe dar. Selbst wenn er sich mit dieser in diesem Tatabschnitt fortbewegt haben sollte, sind keine Besonderheiten festgestellt, die auf Unterstützungshandlungen hindeuten. Das bloße Dabeisein und der Umstand, dass er sich, wie die Urteilsgründe ihm anlasten, „nicht von der Gruppe der Düsseldorfer Fans distanziert hat“ (UA S. 5), erfüllt in seiner Person weder die Voraussetzungen. der täterschaftlichen Verübung von Gewalttätigkeiten noch der (psychischen) Beihilfe hierzu.

(3) Soweit der Angeklagte nach den Feststellungen aktive Unterstützungshandlungen durch eine Beteiligung an der Verfolgung der Augsburger Gruppe „schnellen Schritts“ (UA S. 5) und durch lautstarke Rufe und In-die-Hände-Klatschen (UA S.  4) begangen hat, erfolgten diese nach Beendigung der Gewalttätigkeiten. Eine Beteiligung an dieser und damit die Verwirklichung der Tatvariante des § 125 Abs. 1 Nr. 1 StGB können diese nachträglichen Handlungen nach allgemeinen Teilnahmegrundsätzen nicht mehr begründen, denn sie wurden für die Verwirklichung dieser Tatvariante nicht mehr ursächlich. Zwar ist denkbar, aus den festgestellten Handlungen im Rahmen der Beweiswürdigung Rückschlüsse auf das Verhalten des Angeklagten vor oder während der Gewalttätigkeiten zu schließen, zu solchen Folgerungen ist das Jugendgericht jedoch nicht gelangt. Dem Revisionsgericht ist eine eigene Beweiswürdigung verwehrt.

(dd) Die genannten Verhaltensweisen des Angeklagten im Anschluss an die Gewalttätigkeiten (Mitlaufen, Rufen, Klatschen) könnten zwar geeignet sein, im Rahmen des einheitlichen und fortdauernden Geschehens die Verwirklichung des Landfriedensbruch in der Tatvariante des § 125 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu begründen. Jedoch reichen insoweit die Feststellungen im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal einer „Bedrohung“ von Menschen mit einer Gewalttätigkeit nicht aus. Sollte es darauf ankommen, wird vom neuen Tatgericht festzustellen sein, ob ausdrückliche Bedrohungen ausgesprochen wurden oder, was ausreichen würde, konkludent erfolgten (vgl. Fischer, StGB, 67. Aufl. 2020, § 125 Rn. 6); ggf. mag auch der bloßen Verfolgung der sich zurückziehenden Gruppe durch die Fangruppe aus Düsseldorf bereits eine bedrohende Wirkung innegewohnt haben, was anhand konkreter Umstände (z.B. Verfolgungsdauer und -strecke, Abstand zwischen den Gruppen, Anzahl der Verfolger und Verfolgten) unter Berücksichtigung etwaiger fortwirkender Auswirkungen vorangegangener Gewalttätigkeiten festzustellen sein wird.

b) Ungeachtet der keine der beiden Tatbestandsvarianten des § 125 Abs. 1 StGB tragenden Feststellungen weist das angegriffene Urteil durchgreifende Rechtsfehler insoweit auf, als das zugrunde gelegte Verhalten des Angeklagten nicht rechtsfehlerfrei belegt ist…..“

Urteil III: Der BGH und die Länge der Urteilsgründe, oder: In der Kürze liegt die Würze

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Ich habe ja schon häufiger über Entscheidungen des BGH zum Umfang der Urteilsgründe berichtet. Nein, nicht die Problematik, dass dem BGH die Feststellungen nicht reichen, die Gründe also ggf. „zu kurz/knapp“ sind, sondern die Thematik, dass dem BGH die Urteilsgründe – insbesondere die Beweiswürdigungen – zu lang sind. Man sieht förmlich den Berichterstatter oder die Berichterstatterin über dem Urteil sitzen und sich die Haare raufen, während er/sie denkt: Man, man, das muss ich alles lesen.

Daher mahnt der BGH in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder kürzere Urteilsgründe an, zumal zu lange Gründe ja auch nicht „ungefährlich“ sind. So auch in den Entscheidungen, die ich heute vorstelle:

Das sind zunächst der BGH, Beschl. v. 15.12.2020 – 2 StR 476/19 und der BGH, Beschluss vom 01.06.2021 – 6 StR 113/21.

Ich zitiere zunächst aus dem BGH, Beschl. v. 15.12.2020 – 2 StR 476/19

„1. Die den Feststellungen zugrundeliegende Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Überprüfung stand.

a) Zwar fehlt es an einer Darstellung, ob und wie sich der Angeklagte zu den Fällen 7 und 8 der Urteilsgründe in der Hauptverhandlung eingelassen hat (vgl. Senat, Beschlüsse vom 11. März 2020 – 2 StR 380/19, juris Rn. 6; vom 30. Dezember 2014 – 2 StR 403/14, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 2 Einlassung 2 Rn. 2 f.). Auf dieser Darstellungslücke beruht der Schuldspruch indes nicht, da sich die Beweislage angesichts der detaillierten Aussage der Zeugin K. , die durch die Angaben der Zeugin W. und WhatsApp-Kommuni- kation bestätigt wird, als erdrückend darstellt.

b) Die rund 180 Seiten umfassende Beweiswürdigung gibt dem Senat Anlass darauf hinzuweisen, dass die schriftlichen Urteilsgründe, wie der Bundesgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, nicht dazu dienen, all das zu dokumentieren, was in der Hauptverhandlung an Beweisen erhoben wurde; sie sollen nicht das vom Gesetzgeber abgeschaffte Protokoll über den Inhalt von Angeklagten- und Zeugenäußerungen ersetzen, sondern vielmehr das Ergebnis der Hauptverhandlung wiedergeben und die Nachprüfung der getroffenen Entscheidung ermöglichen (vgl. nur BGH, Beschluss vom 4. Mai 1999 – 1 StR 104/99, juris Rn. 4 mwN). Eine umfängliche Wiedergabe der Zeugenaussagen in den Urteilsgründen ohne Bezug zu Einzelheiten der Beweiswürdigung oder die breite Wiedergabe von Chat-Inhalten ist deshalb regelmäßig verfehlt und kann die gebotene Würdigung, Abwägung und Gewichtung der einzelnen Beweise nicht ersetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. August 1999 – 3 StR 271/99 mwN; vom 30. Juni 2015 – 3 StR 179/15, juris Rn. 4).“

Da kann man dann nur den Kopf schütteln: 180 Seiten Beweiswürdigung, aber die Einlassung des Angeklagten nicht mitgeteilt.

Und dann aus dem  BGH, Beschluss vom 01.06.2021 – 6 StR 113/21.

„Der Schuldspruch wird von den Feststellungen getragen. Die zugrunde liegende Beweiswürdigung nimmt der Senat auch angesichts der Fülle von für die Täterschaft des Angeklagten streitenden Anzeichen noch hin. Er weist allerdings darauf hin, dass die schriftlichen Urteilsgründe nicht der Nacherzählung des Gangs der Hauptverhandlung dienen. Es ist Aufgabe des Tatgerichts, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden und die Begründung seiner Entscheidung so zu fassen, dass der Leser die wesentlichen Erwägungen ohne aufwendige eigene Bemühungen erkennen kann (st. Rspr., vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2006 – 2 StR 470/06, NStZ 2007, 720). Damit ist es nicht vereinbar, wenn – wie hier – vielfach in der Hauptverhandlung erfolgte, teils sehr umfängliche Vorhalte wörtlich in die Urteilsurkunde eingesetzt werden, um danach auszuführen, wie sich der jeweilige Zeuge hierzu geäußert hat. Eine derartige Vorgehensweise lässt unter Umständen besorgen, dass das Beweisergebnis nicht (nur) aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung (§ 261 StPO) geschöpft worden ist, und kann den Bestand des Urteils gefährden.“

Dazu: „Schwein gehabt“, der BGH nimmt „noch hin“.

Und dann noch der BGH, Beschl. v.  27.04.2021 – 4 StR 55/21:

„Die schriftlichen Urteilsgründe sind so zu fassen, dass die wesentlichen die Entscheidung tragenden Feststellungen und rechtlichen Erwägungen erkennbar sind (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Februar 2009 ? 1 StR 687/08, NStZ-RR 2009, 183 mwN). Dies gilt auch für die Darstellung der Vorstrafen. Es besteht daher in der Regel kein Anlass, in früheren Verurteilungen festgestellten Chatverkehr in seinem vollen Wortlaut in die Urteilsgründe aufzunehmen (UA S. 10-14 und 19-36). Stattdessen wäre es angezeigt gewesen, die die Vorverurteilungen tragenden Feststellungen, soweit diese für die Beurteilung der Schuld des Angeklagten im aktuellen Verfahren von Bedeutung sind, in gedrängter Form darzustellen.“

Es ist eben auch eine Kunst Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.

OWi II: Wer hat den Pkw gefahren?, oder: Anthropologisches Identitätsgutachten im Urteil

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Zu den Klassikern im Owi-Recht gehören Entscheidungen, die sich mit den Anforderungen an die Urteilsgründe in den Fällen der Identifizierung des bestreitenden Betroffenen als Fahrer zum Vorfallszeitpunkt anhand eines von dem Verkehrsverstoß gefertigten Lichtbildes befassen. Das habe ich dann mal wieder eine, nämlich den OLG Koblenz, Beschl. v. 31.05.2021 – 3 OWi 32 SsBs 97/21, der Stellung nimmt zum Umfang der Darlegungspflicht bei Verwertung eines anthropologischem Identitätsgutachten im Urteil. Dem OLG haben die Ausführungen des AG nicht gereicht:

„Zunächst lässt sich vorliegend die Sacheinlassung des Betroffenen dem Urteil noch hinreichend entnehmen. In der Beweiswürdigung wird darauf eingegangen, dass der Betroffene pauschal auf Dritte als potentielle Nutzer verwiesen, mithin die Fahrereigenschaft abgestritten hat.

Mit Blick auf die erfolgte Fahreridentifizierung hat das Tatgericht – insoweit rechtsfehlerfrei – auf das Lichtbild ausdrücklich gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. zwar einen geminderten Schärfe- und Kontrastgrad aufweist, es die einzelnen Gesichtszüge und -konturen der abgebildeten Person aber im Wesentlichen – mit Ausnahme von Haaransatz und Stirn des Fahrers, die nur teilweise zu sehen sind – erkennen lässt. Das Messbild ist daher trotz der benannten Einschränkungen in der Bildqualität zur Fahreridentifizierung geeignet. In Ansehung dieser Einschränkungen hat der Tatrichter sich auch nicht allein auf die Verweisung nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG beschränkt, sondern daneben Ausführungen dazu getätigt, welche Identifizierungsmerkmale er zur Beurteilung der Identität des Betroffenen mit dem abgebildeten Fahrzeugführer herangezogen hat. Daneben wurde nachvollziehbar zur Haltereigenschaft (Firma, hinter der der Betroffene steht) als hinzutretendes Indiz für die Fahrereigenschaft ausgeführt.

Ergänzend hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zu der Frage eingeholt, ob der Betroffene die Person auf dem genannten Messbild ist. Misst das Tatgericht – wie vorliegend – einem Sachverständigengutachten Beweisbedeutsamkeit bei, so muss es die Ausführungen des Sachverständigen in einer (wenn auch gerade in Bußgeldsachen nur gedrängt) zusammenfassenden Darstellung unter Mitteilung der zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen und der daraus gezogenen Schlussfolgerungen wenigstens insoweit wiedergeben, als dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner gedanklichen Schlüssigkeit erforderlich ist. Dies gilt insbesondere, wenn es sich, wie hier bei einem anthropologischen Identitätsgutachten, nicht um eine standardisierte Untersuchungsmethode (vgl. KG Berlin, Beschl. 3 Ws (B) 11/18 v. 26.01.2018 <Rn. 44 n. juris m.w.N.>), bei der sich die Darstellung im Wesentlichen auf die Mitteilung des Ergebnisses des Gutachtens beschränken kann (vgl. OLG Zweibrücken, Beschl. 1 OWI 2 Ss Bs 98/17 v. 29.01.2018 – BeckRS 2018, 3979 <Rn. 10 m.w.N.>), handelt. Erforderlich ist in diesem Fall vielmehr eine verständliche und in sich geschlossene Darstellung der dem Gutachten zugrunde liegenden Anknüpfungstatsachen, der wesentlichen Befundtatsachen und der das Gutachten tragenden fachlichen Begründung; die bloße Aufzählung der mit einem Lichtbild übereinstimmenden morphologischen Merkmalsprägungen eines Betroffenen reicht dagegen nicht aus (vgl. OLG Bamberg, Beschl. 3 Ss OWi 180/08 v. 20.02.2008 <Rn. 10 n. juris>; OLG Celle, Beschl. 222 Ss 124/02 (OWi) v. 17.07.2002 – NZV 2002, 472). Enthält das anthropologisches Sachverständigengutachten – wie im vorliegenden Fall – keine Wahrscheinlichkeitsberechnung, so muss das Urteil, da den einzelnen morphologischen Merkmalen jeweils eine unterschiedliche Beweisbedeutung zukommt, Ausführungen dazu enthalten, welchen der festgestellten Übereinstimmungen – gegebenenfalls in Kombination mit anderen festgestellten Merkmalen – eine besondere Beweisbedeutung zukommt, das heißt, welche Aussagekraft der Sachverständige den Übereinstimmungen zumisst und wie er die jeweilige Übereinstimmung bei der Beurteilung der Identität gewichtet hat (vgl. OLG Koblenz, Beschl. 2 OWi 6 SsBs 210/20 v. 31.08.2020; 2 OWi 6 SsBs 67/20 v. 25.03.2020; 1 OWi 6 SsBs 59/19 v. 29.04.2019; KG Berlin, a.a.O. <Rn. 45 n. juris m.w.N.>). Soweit der Sachverständige im Rahmen seiner Gutachtenerstattung zudem (weitere) Lichtbilder in sein Gutachten einbezogen hat, muss prozessordnungsgemäß (auch) auf diese verwiesen werden (vgl. OLG Bamberg, a.a.O.).

Diesen Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht gerecht.

Das Amtsgericht beschränkt sich letztlich auf die Bezugnahme einer schlichten Aufzählung derjenigen Merkmale, bezüglich derer es selbst Übereinstimmungen zwischen dem Betroffenen und dem Messbild festgestellt hat. „Auch aufgrund“ dieser Merkmale (“gesamte Kopf- und Gesichtsform, die weit auseinanderstehenden Augen, die relativ breite Nasenwurzel, die insgesamt relativ gerade Nase mit rundlicher Nasenspitze und etwas weiter nach unten gezogener linker Nasenhälfte sowie mittelgroßen, hinten geraden, oben runden Ohren“) soll die Sachverständige nach den Urteilsausführungen zu der Einschätzung gelangt sein, dass die Person auf dem Messbild „sehr wahrscheinlich“ mit dem Betroffenen identisch sei. Hiernach bleibt schon offen, wie viele bzw. ob die Sachverständige weitere Merkmale („auch“) benannt hat und wenn ja welche, die eine – wie hohe (weitere) – Übereinstimmung begründen oder auch solche, die eher dagegen sprechen. Darüber hinaus verhalten sich die Urteilsgründe nicht dazu, mit welchem Gewicht die Sachverständige die einzelnen benannten Merkmale in die Gesamtbewertung der Identitätswahrscheinlichkeit eingestellt hat. Es kann nicht nachvollzogen werden, ob die Sachverständigen das Wahrscheinlichkeitsprädikat allein aufgrund der Anzahl der als übereinstimmend identifizierten Merkmale vergeben hat oder ob und weshalb einzelne Merkmale von besonderer Individualität und damit Aussagekraft gewesen sind. Im Übrigen verhält sich das Urteil zu dem von der Sachverständigen im Rahmen zu Vergleichszwecken gefertigten und im Rahmen ihrer Begutachtung als Anlage zum Protokoll gereichten Lichtbild des Betroffenen nebst digitaler Ausschnittsvergrößerung des Messbildes nicht, insbesondere erfolgt hierauf keine Bezugnahme gemäß § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG. Dem Beschwerdegericht ist es nach alledem nicht möglich, die Schlüssigkeit des von der Sachverständigen gefundenen Ergebnisses nachzuprüfen…“

OWi I: Leivtex XV 3 ist (derzeit) nicht standardisiert, oder: Das ist aber nicht „Schuld“ des Betroffenen

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Heute dann ein OWi-Tag.

Und den eröffne ich mit zwei Entscheidungen zu Leivtec XV3. Zunächst stelle ich den OLG Celle, Beschl. v. 18.06.2021 – 2 Ss (OWi) 69/21 – vor. Es geht (noch einmal) um die Frage der Verwertbarkeit von Leivtec XV3 Messungen. Das OLG sagt nach Darstellung der Erkenntnisse der PTB: Derzeit kein standardisiertes Messverfahren und daher reichten die Feststellungen nicht aus:

„b) Der Senat erachtet unter Berücksichtigung der dargelegten Erkenntnisse der PTB beim Messgerät Leivtec XV3 die Richtigkeit des ermittelten Geschwindigkeitswertes derzeit ins-gesamt nicht mehr für garantiert. Eine Differenzierung danach, ob das sog. Messung-Start-Foto – wie vorliegend – die in der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung genannten Anforderungen erfüllt (vgl. hierzu: OLG Oldenburg (Oldenburg), Be-schluss vom 20. April 2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 –, juris; OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 16. März 2021 – 2 Ss (OWi) 67/21 –, juris; OLG Braunschweig, Beschluss vom 3. Juni 2021, 1 Ss (OWi) 218/20) erachtet der Senat insoweit nicht für geboten. Viel-mehr bieten Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 auch unabhängig davon, ob es sich um eine Rechts-, Links- oder Geradeausmessung handelt, derzeit keine hinreichende Gewähr mehr für die Annahme, dass die Geschwindigkeitsüberschreitung zuverlässig ausgewiesen wurde.

c) Der Senat hat bei der Beurteilung dieser Frage in die Bewertung eingestellt, dass die Messwertabweichungen lediglich vereinzelt auftraten und nach Angabe der PTB zudem jeweils gemein hatten, dass die Länge der Messstrecke weniger als 12,2 m betrug. Ausweislich der abschließenden Mitteilung der PTB traten Messwertabweichungen zu Ungunsten des Betroffenen zudem ausschließlich bei Rechtsmessungen auf.

Es bleibt indes festzuhalten, dass lange Versuchsreihen der PTB jedenfalls in Einzelfällen unzulässige Messwertabweichungen sowohl zu Gunsten, als auch zu Lasten Betroffener zu Tage förderten, die außerhalb des Toleranzbereiches liegen. Bereits dieser Umstand stellt das Vorliegen eines standardisierten Messverfahrens in Frage.

Maßgebliche Bedeutung kommt zudem dem Umstand zu, dass gegenwärtig selbst bei Einhaltung der Maßgaben der ergänzten Gebrauchsanweisung vom 14.12.2020 über der Toleranzgrenze liegende Messwertabweichungen nicht auszuschließen sind, denn diese regelt zur Verwertbarkeit der Beweisbilder zwar ergänzende Bedingungen und Anforderungen für das sog. Messung-Start-Bild, lässt aber Rechtsmessungen, bei denen auch in den Versuchen der PTB außerhalb des Toleranzbereiches liegende Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener zu beobachten waren, explizit zu. Zudem enthält die Bedienungsanleitung keine Vorgaben bzgl. der Einhaltung einer Mindestlänge der Messtrecke.

Auch in Fällen, bei denen die Anforderungen der am 14. Dezember 2020 geänderten Gebrauchsanweisung eingehalten wurden und das sog. Messung-Start-Foto das komplette Kennzeichen innerhalb des Messfeldrahmens ausweist, waren zudem bereits im Zeitpunkt der Erstellung des Zwischenstandes durch die PTB am 27. Mai 2021 – wie dargelegt – unzulässige Messwertabweichungen, wenn auch ausschließlich zu Gunsten Betroffener, zu beobachten.

Der Senat kann die Frage offenlassen, ob bei ausschließlich zu Gunsten des Betroffenen zu beobachtenden Messwertabweichungen noch von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann (diesbezüglich verneinend: OLG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 20. April 2021 – 2 Ss (OWi) 92/21 –, juris), denn nach dem Abschlussbericht der PTB bleibt zu konstatieren, dass auch Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener auftraten, die außerhalb des vorgegebenen Toleranzwertes lagen.

Der Senat hat aufgrund der Tatsache, dass die PTB unzulässige Abweichungen zu Ungunsten Betroffener nur bei Rechtsmessungen beobachten konnte, erwogen, eine Differenzierung dahingehend vorzunehmen, ob im jeweiligen Einzelfall eine Links-, Rechts oder Geradeausmessung vorlag. Allerdings lässt die derzeitige Gebrauchsanweisung des Messgerätes – wie dargelegt – auch Rechtsmessungen explizit zu. Zudem erschöpft sich der Abschlussbericht der PTB in der Mitteilung, alle Fälle unzulässiger Abweichungen, die zu Ungunsten des Betroffenen ausgefallen wären, seien bei einer Rechtsmessung aufgetreten, ohne indes eine eindeutige Aussage dahingehend zu treffen, dass unzulässige Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener in Fällen von Links- und Geradeaus-messungen kategorisch ausgeschlossen wären. Der abschließenden PTB-Stellungnahme sind auch keine statistischen Daten zu entnehmen, die einen Rückschluss des Senates auf eine solche Einschätzung zulassen würden. Sie enthält keine Angaben darüber, in wie vielen Fällen von Links- und Geradeausmessungen keine Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener zu beobachten waren und ab welcher Anzahl unauffälliger Messungen eine derartige Aussage zulässig ist.

Nach alledem liegt jedenfalls derzeit bei sämtlichen Geschwindigkeitsmessungen mit dem Messgerät Leivtec XV3 kein vereinheitlichtes (technisches) Verfahren mehr vor, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob eine andere Bewertung dieser Frage für Links- und Geradeausmessungen geboten wäre, wenn unzulässige Messwertabweichungen zu Ungunsten Betroffener in diesen Fällen nach den üblichen Maßstäben der PTB mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit auszuschließen wären.

Da es sich im vorliegenden Fall nach alledem nicht um eine Geschwindigkeitsmessung im standardisierten Messverfahren handelt, wird die festgestellte Geschwindigkeitsüberschreitung durch die Beweiswürdigung des angefochtenen Urteils nicht tragfähig belegt. Diese erweist sich vielmehr als lücken- und somit rechtsfehlerhaft. Auf diesem Rechtsfehler beruht das angefochtene Urteil.“

Aber: Anders als die OLG, die sich bislang mit der Frage befasst haben, stellt das OLG Celle das Verfahren nicht ein, sondern hat an das AG zurückverwiesen mit folgendem „Auftrag“ an das AG:

„Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgende Umstände hin:

1. Das Amtsgericht wird mithilfe eines Sachverständigen zu prüfen haben, ob es bei der vorliegenden Geschwindigkeitsmessung zu unzulässigen Messwertabweichungen gekommen sein könnte. Der Sachverständige wird sich, ggf. nach Rücksprache mit der PTB bzw. den von der PTB zitierten Sachverständigen, mit möglichen Fehlerquellen bei der Messung auseinanderzusetzen haben, die sich zulasten des Betroffenen ausgewirkt haben könnten.

2. Für den Fall, dass die weitere Sachaufklärung erneut eine Geschwindigkeitsüberschreitung von 37 km/h ergeben und das Amtsgericht erneut die Verhängung eines Fahrverbotes für geboten erachten sollte, wird das Amtsgericht in den Blick zu nehmen haben, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ein Absehen vom Fahrverbot gem. § 25 StVG erst in Betracht kommt, wenn seit dem Verkehrsverstoß eine Verfahrensdauer von zwei Jahren oder mehr gegeben ist und der Betroffene sich zwischen-zeitlich verkehrsgerecht verhalten hat (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 23. Dezember 2004 – 211 Ss 145/04 (OWi) –, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 02. Juli 2007 – 3 Ss OWi 360/07 –, juris; KG Berlin, Beschluss vom 05. September 2007 – 2 Ss 193/073 Ws (B) 459/07 –, juris). Selbst wenn der erforderliche 2-Jahres-Zeitraum überschritten sein sollte, wird das Amtsgericht in die Bewertung einzustellen haben, dass die Ursache für die Verfahrensverzögerung jedenfalls teilweise allein auf das Verhalten des Betroffenen zurückzuführen war (OLG Celle a.a.O.).“

So weit, so gut, oder auch nicht. Nachvollziehen kann ich ja noch die Aufhebung, obwohl die Einstellung sicherlich angebrachter gewesen wäre. Nicht nachvollziehen kann ich aber die Auffassung des OLG zum 2-Jahres-Zeitraum beim Fahrverbot. Abgesehen davon, dass der noch lange nicht erreicht ist, erschließt sich mir nicht, warum denn eine ggf. eingetretene Verfahrensverzögerung „allein auf das Verhalten des Betroffenes zurückzuführen“ sein soll.  Grund für die Verzögerung ist das miese Messverfahren. Dessen Verwendung kann man doch nicht dem Betroffenen anlasten; andere Umstände, die der Betroffene zu „vertreten“ hätte, ergeben sich aus dem Beschluss nicht. Das OLG Celle ist schon manchmal „komisch“.

Zur Abrundung dann noch der OLG Oldenburg, Beschl. v. 20.04.2021 – 2 Ss (OWi) 92/2. Das hat – entsprechend seiner bisherigen Rechtsprechung – ein Verfahren mit einer Leictex XV3 Messung eingestellt, was m.E. auch verhältnismäßig ist.