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Strafzumessung II: Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: „bequemliche Polizeiflucht“

Die zweite Entscheidung kommt vm OLG Hamm. Das hat im OLG Hamm, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 RVs 129/20 – die Strafzumessung in einem Urteil des LG Münster wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis beanstandet. Das hatte auf den der Fahrt zugrunde liegenden Anlass – Polizeiflucht – und darauf abgestellt, dass der Angeklagte „- trotz der offenen Bewährungen – allein aus Bequemlichkeitsgründen ungefähr 18 Monate nach der letzten Verurteilung durch das Amtsgericht Rheine vom 02.12.2016 erneut gegen das Verbot, ohne Fahrerlaubnis zu fahren, verstoßen hat und dabei mit seiner Polizeiflucht auch die Gefährdung Dritter Personen in Kauf genommen hat“. Das hat dem OLG nicht gefallen:

„2. Die auf die erhobene Sachrüge hin vorgenommene materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat im Rechtsfolgenausspruch jedoch durchgreifende Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben.

Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des tatrichterlichen Ermessens und daher vom Revisionsgericht nur darauf zu prüfen, ob Rechtsfehler vorliegen. Das Revisionsgericht darf daher nur eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich rechtsfehlerhaft sind, wenn der Tatrichter die ihm nach § 46 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt, insbesondere rechtlich anerkannte Strafzwecke nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat, oder die Strafe bei Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens unvertretbar hoch oder niedrig ist (st. Rspr. des BGH; vgl. BGH, Urteil vom 27.01.2015 -1 StR 142/14 -, juris; BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 525/11 -; BGHSt 57, 123, 127; jeweils mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 337 Rn. 34).

Solche Rechtsfehler liegen hier indes vor.

So hat das Landgericht strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte aus Bequemlichkeitsgründen mit dem Kraftfahrzeug gefahren ist. Diese Erwägung ist jedoch rechtsfehlerhaft, als sich hieraus allein noch kein auffälliges Missverhältnis von Anlass und Tat im Sinne einer „aus der Tat sprechenden Gesinnung“ gemäß § 46 Abs. 2 StGB ableiten lässt, sondern vielmehr nur das Fehlen eines triftigen Grundes für die Fahrt und damit das Fehlen nachvollziehbarer Motive strafschärfend berücksichtigt wurde.

Ferner hat das Landgericht rechtsfehlerhaft die „Flucht des Angeklagten vor der Polizei“ zu dessen Lasten gewertet. Der Versuch, sich der Strafverfolgung zu entziehen, darf aber grundsätzlich nicht zu Lasten eines Angeklagten herangezogen werden, es sei denn, das Nachtatverhalten schafft neues Unrecht oder der Täter verfolgt Ziele, die ein ungünstiges Licht auf ihn werfen, so wenn er sich damit erneut über strafrechtliche Gebote hinweg setzt (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.2011 – 2 StR 493/10 -, juris). Hinreichende Feststellungen dazu, dass ein solches Nachtatverhalten des Angeklagten vorliegt, sind den Urteilsgründen jedoch nicht zu entnehmen. Feststellungen dazu, dass es im Rahmen der Flucht des Angeklagten vor der Polizei zu einer konkreten Gefährdungssituation für die nachfahrenden Polizeibeamten oder andere Verkehrsteilnehmer gekommen ist, sind nicht getroffen worden. Auch kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden, dass zumindest eine abstrakte Gefährdung dergestalt bestanden hätte, dass der Angeklagte mit stark überhöhter Geschwindigkeit geflüchtet wäre. Auch liegt in der „Fluchtfahrt“ des Angeklagten keine neue Tat, die ggf. ein neues Unrecht begründen könnte, da es sich bei dem vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis um eine Dauerstraftat handelt, die grundsätzlich erst endet, wenn der Täter mit dem Weiterfahren endgültig aufhört und die Fahrtrichtungsänderung, um einer Polizeikontrolle zu entgehen, keine neue Tat beginnen lässt (vgl. BGH, NJW 1983, 1744 zur Trunkenheitsfahrt). Damit sind den Urteilsgründen im Ergebnis keine Umstände zu entnehmen, die über die abstrakte Gefährlichkeit, die mehr oder minder mit dem Vergehen gegen § 21 StVG verbunden ist und die allein nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, hinausgehen (vgl. Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, § 26. Auflage 2020, § 21 StVG Rn. 51). ….“

Strafzumessung I: Widerruf in anderer Sache droht, oder: Das muss erörtert werden

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Wenn ich es richtig sehe, habe ich im neuen Jahr noch keine Strafzumessungsentscheidungen vorgestellt. Das hole ich heute nach.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 09.09.2020 – 2 StR 281/20. Der BGH beanstandet eine landgerichtliche Strafzumessung als „lückenhaft“:

„a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. In die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).

Bei der Darstellung seiner Strafzumessungserwägung im Urteil ist das Tatgericht nur gehalten, die bestimmenden Zumessungsgründe mitzuteilen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; BGH, Urteil vom 2. August 2012 – 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337). Ein der Strafzumessung in sachlich-rechtlicher Hinsicht anhaftender Rechtsfehler liegt jedoch dann vor, wenn das Tatgericht bei seiner Zumessungsentscheidung einen Gesichtspunkt, der nach den Gegebenheiten des Einzelfalls als bestimmender Strafzumessungsgrund in Betracht kommt, nicht erkennbar erwogen hat (vgl. BGH, Urteile vom 27. Februar 2020 – 4 StR 552/19, juris Rn. 10, vom 4. April 2019 – 3 StR 31/19, juris Rn. 15; Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, aaO).

b) Diesen Anforderungen wird die Strafzumessungsentscheidung des angefochtenen Urteils nicht in jeder Hinsicht gerecht. Sie erweist sich als lückenhaft.

aa) Die Strafkammer hat einerseits rechtsfehlerfrei zum Nachteil des Angeklagten unter anderem dessen strafrechtliche Vorbelastung aufgrund einer Verurteilung vom 1. Juni 2017 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie die Begehung der neuerlichen Tat während der bis zum 31. Mai 2020 für die vorgenannte Verurteilung laufenden Bewährungszeit berücksichtigt.

bb) Sie hätte indes mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), angesichts des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung einer erheblichen Restfreiheitsstrafe auch das den Angeklagten treffende Gesamtstrafübel in den Blick nehmen und erörtern müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 478/14, juris Rn. 3; Senat, Urteil vom 22. August 2012 – 2 StR 235/12, juris Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2009 – 5 StR 243/09, NStZ-RR 2009, 367, vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 314; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis für Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 740; MüKo-StPO/Wenske, § 267 Rn. 395). Zwar hatte der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen in dem zum Widerruf anstehenden Verfahren in der Zeit vom 17. Dezember 2016 bis zum 1. Juni 2017 Untersuchungshaft erlitten. Gleichwohl wird die Gesamtverbüßungsdauer durch den drohenden Bewährungswiderruf der verbleibenden Reststrafe von mehr als einem Jahr hier erheblich verlängert. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.“

OWi II: Ablehnung eines Beweisantrages ohne Begründung, oder: Das geht auch in Bayern nicht

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Die zweite Entscheidung kommt aus Bayern, und zwar vom BayObLG. Dort hatte der Betroffene gegen seineVerurteilung wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung geltend gemacht, dass das AG einen Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens ohne Begründung abgelehnt hat. Die GStA fand das wohl nicht so schlimm und hatte beantragt, die Rechtsbeschwerde des Betroffenen als unbegründet zu verwerfen. Das BayObLG meint hingegen im BayObLG, Beschl. v. 04.12.2020 – 201 ObOWi 1471/20 -, dass das selbst in bayern 🙂 nicht geht:

„1. Der Verfahrensrüge liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Der Verteidiger beantragte in der Hauptverhandlung vom 17.07.2020 nach Angaben des Verteidigers zur Fahrereigenschaft sowie Vernehmung des Messbeamten als Zeugen die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die vorliegende Messung nicht den Vorgaben der Bedienungsanleitung des verwendeten Messgeräts ESO 3.0 genügt und daher nicht verwertbar ist. Das Fahrzeug des Betroffenen habe sich fast die ganze Fahrzeuglänge vor der Fotolinie befunden, hätte sich aber nach der Bedienungsanleitung auf Höhe der markierten Fotolinie befinden müssen. Das Amtsgericht lehnte diesen Beweisantrag ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 17.07.2020 per Beschluss mit dem Wortlaut „Der Antrag wird zurückgewiesen.“ ab. In den Urteilsgründen wird ausgeführt, dass der Beweisantrag aufgrund der Aussage des Messbeamten gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zu-rückgewiesen werden konnte. Den Beweisantrag hatte der Verteidiger dem Amtsgericht zusätzlich bereits einen Tag vor der Hauptverhandlung schriftsätzlich übermittelt.

2. Die zulässig erhobene Verfahrensrüge der fehlerhaften Ablehnung des Beweisantrags er-weist sich als begründet, weil die gerichtliche Ablehnungsentscheidung rechtlicher Überprüfung nicht standhält. Die Ablehnung unbedingter Beweisanträge darf nicht den Urteilsgründen überlassen werden. Die Ablehnung eines Beweisantrags hat gemäß § 71 Abs. 1 OWiG, § 244 Abs. 6 StPO durch einen noch vor Schluss der Beweisaufnahme mit Gründen zu versehenen und mit diesen gemäß § 273 Abs. 1 StPO zu protokollierenden Gerichtsbeschluss zu erfolgen (BGHSt 40, 287, 288; OLG Köln, Beschl. v. 30.01.1970 – 1 Ws [OWi] 9/70 = BeckRs 9998, 109184; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 63. Aufl. § 244 Rn. 82 m.w.N.; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 77 Rn. 23). Die Begründung soll den Antragsteller davon in Kenntnis setzen, wie das Gericht seinen Antrag beurteilt. Er soll dadurch in die Lage versetzt werden, sein weiteres Verteidigungs- bzw. Prozessverhalten auf die neue Verfahrenssituation rechtzeitig einzustellen (vgl. OLG Bamberg, Beschl. v. 04.12.2006 – 3 Ss OWi 1614/06 [unveröffentlicht]). Hier liegt überhaupt keine Begründung der Ablehnung vor, es wurde lediglich der Antrag „zurückgewiesen“. Die willkürliche Ablehnung eines Beweisantrags, also die Ablehnung eines Beweisantrags ohne nachvollziehbare, auf das Gesetz zurückzuführende Begründung, die unter Berücksichtigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist, verletzt aber das rechtliche Gehör (BVerfG NJW 1992, 2811). Daran ändert auch die nachträgliche Begründung der Ablehnung des Beweisantrags im Urteil nichts. Denn daraus kann nicht geschlossen werden, aus welchen Gründen der Beweisantrag in der Hauptverhandlung abgelehnt worden ist.“

OWi I: Wenn beim Rotlichtverstoß Angaben des Polizeibeamten nicht reichen, oder: Augenblicksversagen

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Heute und morgen dann noch „normale Berichterstattung“, bevor dann Weihnachtsruhe eintritt. Ein sicherlich anderes Weihnachten als in den vergangenen Jahren, aber: Ruhe dann eben doch.

Ich stelle dann heute hier noch einmal OWi-Entscheidungen vor, und zwar zunächst den BayObLG, Beschl. v. 04.08.2020 – 201 ObOWi 927/20, der sich mit einem Rotlichtverstoß befasst. Das BayObLG hat die Verurteilung des Betroffenen, bei dem das AG von einem Fahrverbot abgesehen hatte, auf die Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hin, aufgehoben. Begründung:

Zunächst: Die Urteilsgründe waren anch Auffassung des BayObLG lückenhaft:

„2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht hinreichend gerecht. Der Beweis-würdigung fehlt hinsichtlich der festgestellten Rotlichtdauer von „über“ 1 Sekunde eine tragfä-hige Grundlage. Das Amtsgericht trifft im Rahmen der Beweiswürdigung u.a. folgende Fest-stellungen:

„Auf Grund der Aussage von POMin L., die der Betroffenen folgte und sie unmittelbar danach anhielt – steht zum ein fest, dass der Pkw zum Tatzeitpunkt von der Betroffenen geführt wurde und zum anderen, dass die von ihr überfahrene Rotphase länger als 1 Sekunde andauerte. Insoweit gab die Zeugin glaubwürdig an, sicher zu sein, dass die von der Betroffenen passierte Ampel schon deutlich länger als 1 Sekunde rot zeigt. Die Betroffene, die den Rotlichtverstoß nicht in Abrede stellen wollte […]“

Das Amtsgericht hat sich zur Feststellung des qualifizierten Rotlichtverstoßes somit allein auf die Bekundungen der Polizeibeamtin und die Angabe der Betroffenen, sie wolle den Verstoß nicht in Abrede stellen, gestützt. Zwar können für den Beweis eines – auch eines qualifizierten – Rotlichtverstoßes grundsätzlich auch Schätzungen von Zeugen, insbesondere von Polizei-beamten, herangezogen werden. Hier ist aber nicht erkennbar, ob die Aussage der Beamtin das Ergebnis richtig ermittelter objektiver Anknüpfungstatsachen und deren richtiger Verknüp-fung aufgrund verkehrsanalytischer Erfahrungssätze ist, oder ob es sich lediglich um eine freie Schätzung handelt. Zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich sind freie Schät-zungen aufgrund gefühlsmäßiger Erfassung generell ungeeignet, da erfahrungsgemäß hierbei ein erhebliches Fehlerrisiko besteht (BayObLGSt 2002, 100, 101). Tatsächliche Anhaltspunkte, die die Richtigkeit der Schätzung überprüfen ließen, etwa die Geschwindigkeit der Betroffenen und ihr Abstand von der Haltelinie beim Umschalten auf Rotlicht, werden im Urteil nicht mitge-teilt. Es wird auch nicht mitgeteilt, ob es sich um eine gezielte Rotlichtüberwachung, bei der die Wahrnehmung der hierbei tätigen Polizeibeamten entsprechend geschärft ist (vgl. OLG Hamm NZV 2010, 44f.), oder aber lediglich um eine zufällige Rotlichtüberwachung, bei der die wahr-nehmenden Polizeibeamten in der Regel weniger aufmerksam sind, gehandelt hat. Feststel-lungen, mit welcher Methode die Zeugin den Rotlichtverstoß gemessen hat, fehlen im Urteil.

Die Feststellung, die Betroffene habe den Rotlichtverstoß nicht in Abrede stellen wollen, belegt den qualifizierten Rotlichtverstoß ebenfalls nicht tragfähig, denn daraus ergibt sich zum einen nicht, dass die Dauer des Rotlichts eingeräumt wurde, und zum anderen führt das Amtsgericht auch nichts dazu aus, ob die Betroffene überhaupt Angaben zur konkreten Dauer machen konnte.“

Und:

„2. Die Feststellungen im angefochtenen Urteil sind auch hinsichtlich des Rechtsfolgenaus-spruchs lückenhaft. Die Feststellungen des Amtsgerichts hinsichtlich eines sog. Augenblicks-versagens zeigen durchgreifende Rechtsfehler auf.

Hierzu führt die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme vom 07.07.2020 wie folgt aus: „Das angegriffene Urteil enthält keine konkreten Feststellungen zur genauen Dauer der Rotlichtphase beim Überfahren der Haltelinie bzw. Einfahrt in den Kreuzungsbereich durch die Betroffene, dem Fahrverhalten der Betroffenen bei Annäherung und Erreichen der Lichtzei-chenanlage, der Beobachtungsposition der den Rotlichtverstoß feststellenden Polizeibeamten, der Methode zur Feststellung des qualifizierten Rotlichtverstoßes und sonstigen Umständen zur Tatsituation, beispielsweise Verkehrsdichte, vorausfahrenden sowie nachfolgenden Fahr-zeugen oder Haltemöglichkeiten für den Fall einer Fahrzeugpanne, die Rückschlüsse darauf ermöglichen, ob das von der Betroffenen geltend gemachte Ereignis des plötzlichen Aufleuch-tens einer Warnleuchte geeignet war, […] ein Augenblicksversagen anzunehmen, das ein Ab-sehen vom Regelfall des Fahrverbots zu begründen vermag. Das Ereignis des plötzlichen Auf-leuchtens von Warnleuchten müsste einem unübersichtlichen, besonders schwierigen, überra-schenden oder verwirrenden Verkehrsgeschehen gleichstehen. Dies erfordert zumindest Fest-stellungen dazu, welche konkreten Warnleuchten aufleuchteten, ob und ggf. welche sonstigen Auffälligkeiten am Fahrzeug der Betroffenen plötzlich auftraten, in welcher zeitlichen Phase der Annäherung an die Ampelanlage dies erfolgte und wie sich das sonstige Verkehrsgeschehen darstellte. Zudem erscheinen die Urteilsgründe insofern widersprüchlich, als das Tatgericht einerseits zwar von einer Verunsicherung der Betroffenen ausgeht, andererseits aber zugleich annimmt, dass bei einer blinkenden Kontrollleuchte nicht sofort ein schwerwiegender Defekt zu erwarten sei, sondern die Weiterfahrt problemlos möglich sei. Dadurch ist aber die angenom-mene Verunsicherung der Betroffenen nicht nachvollziehbar begründet, zumal Fehlfunktionen des Fahrzeugs nicht festgestellt sind. Bei vorliegenden Defekten erscheint demgegenüber ein Anhalten aus Sorge um Schäden am Fahrzeug die naheliegende Reaktion im Gegensatz zu einer Weiterfahrt. Damit setzen sich die Urteilsgründe nicht auseinander.“

Der Senat tritt diesen Ausführungen bei. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass das Tatge-richt keine eigenen, die Annahme eines Ausnahmefalls rechtfertigenden Feststellungen getrof-fen, sondern im Wesentlichen die Ausführungen der Betroffenen übernommen hat.“

StGB III: Das Werfen mit dem „Cafestuhl“ oder: Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs?

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Und als dritte und letzte Entscheidung des Tages stelle ich dann das OLG Oldenburg, Urt. v. 23.11.2020 – 1 Ss 166/20 – vor.

Entschieden hat das OLG über folgenden Sachverhalt:

„Nach den Feststellungen des Landgerichts kam es im Zusammenhang mit einem Fußballländerspiel zwischen der niederländischen und der deutschen Nationalmannschaft am TT.MM 2018 in der Innenstadt von Amsterdam vor dem Café „(pp.)“, Straße1, zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe Deutscher und einer Gruppe Niederländern, die aus Anlass des Fußballspiels nach Amsterdam gereist waren, wobei diese aufeinander einschlugen und eintraten und sich mit Stühlen aus dem Außenbereich des Cafés bewarfen. Der Angeklagte, der zunächst an einer Grachtenfahrt teilgenommen hatte, entschloss sich, an dieser Auseinandersetzung teilzunehmen. In der Folge wirkte er in der aus mindestens 25 Personen bestehenden deutschen Gruppe mit, indem er sich gewalttätig gerierte und in der Folgezeit insgesamt drei Caféstühle aus Metall mit Lehnen in Richtung der niederländischen Gruppe warf. Dabei nahm er zumindest billigend in Kauf, einen Niederländer zu treffen und zu verletzen. Ob durch den ersten geworfenen Stuhl jemand getroffen wurde, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Der zweite Stuhl ging bereits vor Erreichen der Niederländer zu Boden. Beim dritten Wurf war ein Niederländer gezwungen, eine Ausweichbewegung zu machen, um nicht von dem Stuhl getroffen zu werden.“

Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist der Angeklagte wegen Landfriedensbruchs unter Annahme eines unbenannten besonders schweren Falls (§ 125a Satz 1 StGB) verurteilt worden. Dagegen die Revision, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte:

3. Auch die Strafzumessung hält im Ergebnis revisionsrechtlicher Prüfung stand.

a) Das Landgericht hat die Tat als unbenannten besonders schweren Fall im Sinne des § 125a Satz 1 StGB eingestuft. Zwar liege keines der Regelbeispiele vor. Indem aber der Angeklagte dreifach Gegenstände auf Personen geworfen habe, wobei es Zufall sei, dass keine erheblichen Verletzungen entstanden seien, sei die Tat den Regelbeispielen vergleichbar. Wenngleich die Gefahr schwerer Gesundheitsschädigungen nicht bestanden habe, gehe das Verhalten deutlich über den bereits ohne die Stuhlwürfe erfüllten Grundtatbestand des § 125 StGB hinaus.

b) Diese Erwägungen sind – worauf die Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Zuschrift vom 14. September 2020 zu Recht hinweist – nicht unbedenklich.

Die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles erfordert, dass die Tat im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut mit den benannten Regelbeispielen vergleichbar ist. Indem das Landgericht zwar auf eine mögliche erhebliche Verletzung abstellt, indessen ausdrücklich das Fehlen der Voraussetzungen des § 125a Satz 2 Nr. 3 StGB feststellt, liegt insoweit eine Vergleichbarkeit gerade nicht vor. Das wiederholte Werfen allein vermag die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles ebenfalls nicht zu begründen.

c) Indessen beruht die Strafzumessung nicht auf diesem Rechtsfehler.

Denn entgegen der Auffassung der Strafkammer ist durch das Werfen mit einem Metallstuhl das Regelbeispiel des § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB erfüllt. Anders als bis zur Änderung dieser Vorschrift durch das 44. Strafrechtsänderungsgesetz (m.W.v. 05.11.2011) erfordert dieses Regelbeispiel nicht mehr das Beisichführen einer anderen Waffe als einer Schusswaffe in Verwendungsabsicht, sondern lässt hierfür das Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs ausreichen. In der aktuellen und auch zur Tatzeit gültigen Fassung das 52. Strafrechtsänderungsgesetz (m.W.v. 30.05.2017) bedarf es nicht einmal mehr der Verwendungsabsicht beim Beisichführen.

Ein Beisichführen liegt bereits dann vor, wenn sich der Täter des Gegenstandes ohne Schwierigkeiten bedienen kann, also etwa durch Ergreifen eines auf dem Boden liegenden Pflastersteines während der Tat (vgl. MüKo-Schäfer, StGB, 3. Aufl., § 125a Rz. 19). Die von dem Angeklagten geworfenen Metallstühle stellen auch gefährliche Werkzeuge im Sinne dieses Regelbeispiels dar. Hierunter fallen auch Gegenstände, die zwar nicht bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, wohl aber nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Art ihrer Benutzung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Verletzungen zuzufügen. Dazu zählen nicht nur Flaschen, Steine etc., sondern etwa auch als Wurfgeschoss verwendete Plastikklappstühle (vgl. KG, Urteil v. 06.07.2010, 1 Ss 462/09, bei juris Rz. 20). Das Werfen von Caféstühlen aus Metall erfüllt daher, wovon bereits die unverändert zugelassene Anklage vom 29. Oktober 2019 zutreffend ausgegangen ist, erst Recht das Regelbeispiel. Die Kommentierung bei Fischer (StGB, 67. Aufl., § 125a Rz. 4) steht dem nicht entgegen. Diese bezieht sich, wie sich aus dem Zusammenhang ergibt, allein auf die Frage, ob mitgeführte Alltagsgegenstände auch ohne Verwendungsabsicht schon geeignet sind, das Regelbeispiel zu erfüllen. Hierauf kommt es aber angesichts der durch die Würfe dokumentierten tatsächlich vorliegenden Absicht, die Gegenstände als Werkzeug gegen Personen einzusetzen (vgl. dazu BGH, Beschluss v. 26.03.2019, 4 StR 381/18, bei juris Rz. 21; LK-Krauß, StGB, 12. Aufl., § 125a Rz. 17), nicht an.

Eine über diese Gebrauchsabsicht hinausgehende Verletzungsabsicht ist hingegen nicht erforderlich. Soweit das Kammergericht in seiner Entscheidung vom 6. Juli 2010 (a.a.O., Rz. 22) dahingehende Feststellungen für erforderlich gehalten hat, um zur Bejahung eines besonders schweren Falles des Landfriedensbruchs zu gelangen, ist dieses der damaligen, andere gefährliche Werkzeuge nicht umfassenden Ausgestaltung des Regelbeispiels in § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB geschuldet. Angesichts des damaligen Wortlauts der Vorschrift wäre es mit dem Analogieverbot nicht vereinbar gewesen, durch die Annahme eines unbenannten besonders schweren Falles im Sinne von § 125a Satz 1 StGB das Beisichführen eines anderen gefährlichen Werkzeugs in Verwendungsabsicht ohne Weiteres dem das Regelbeispiel des § 125a Satz 2 Nr. 2 StGB erfüllenden Beisichführen einer Waffe in Verwendungsabsicht gleichzustellen. Der deswegen durch das Kammergericht aufgestellten weitergehenden Anforderungen an die subjektive Tatseite bedarf es aber nach der Erweiterung des Regelbeispiels auf andere gefährliche Werkzeuge nicht mehr.

Angesichts der Ausführungen des Landgerichts schließt der Senat aus, dass dieses bei Annahme eines benannten statt eines unbenannten Regelbeispiels gleichwohl zu Gunsten des Angeklagten von der Anwendung des für besonders schwere Fälle vorgegebenen Strafrahmens abgewichen wäre. Die Festsetzung der danach zulässigen Mindeststrafe beschwert den Angeklagten nicht. Gleiches gilt auch für Strafaussetzung zur Bewährung.“