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Verkehrsrecht I: Geschwindigkeitsfeststellung, oder: Absichtsmerkmal beim Alleinrennen

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Ich habe länger keinen „Verkehrsrechtstag“ 🙂 mehr gemacht. Den bringe ich dann heute.

Zunächst hier der KG, Beschl. v. 08.05.2023 – 3 ORs 22/23 – 161 Ss 60/23 – zur Geschwindigkeitsfeststellung beim sog. „Alleinrennens“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB).

Das KG hat die Revision des Angeklagten nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Es hat zur einer Stellungnahme des Verteidigers nur „ergänzend“ Stellung genommen: nur ergänzende

„Als unproblematisch erweisen sich die äußeren Tatbestandsmerkmale des § 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB und der vom Landgericht festgestellte allgemeine Tatbestandsvorsatz. Die Feststellungen rechtfertigen auch die Bewertung der Tat als rücksichtslos. Der Erörterung bedarf lediglich Folgendes:

1. Im Grundsatz zutreffend problematisiert die Revision, dass die vom Landgericht festgestellten Geschwindigkeiten von zunächst 120 km/h, dann 149 km/h, hiernach wieder 120 km/h und schließlich 177 km/h (bei erlaubten 80 km/h) unorthodox festgestellt worden sind. Denn das Urteil teilt zwar mit, das „geeichte Messgerät ProViDa“ sei im verfolgenden Polizeifahrzeug eingeschaltet gewesen, „um die gefahrene Geschwindigkeit zu messen und hierüber die Geschwindigkeit des Angeklagten zu bestimmen“ (UA S. 5). Die Urteilsgründe verhalten sich aber nicht zum mit dem geeichten Gerät verwendeten Messverfahren (ProViDa), ein elektronisches Messverfahren zur Bestimmung der Durchschnittsgeschwindigkeit von Fahrzeugen. Die Gründe enthalten auch nichts zu der, wie senatsbekannt, hiermit üblicherweise verbundenen Auswertung durch eine so genannte Videodistanzanalysesoftware (ViDistA) und namentlich nichts dazu, welche (Durchschnitts-) Geschwindigkeit über dieses standardisierte Messverfahren gegebenenfalls beweissicher ermittelt worden ist. Vielmehr weisen die Urteilsfeststellungen nur aus, welche Werte der polizeiliche Zeuge auf dem Gerätedisplay situativ abgelesen hat. Diese belegen aber für sich betrachtet und ohne Weg-Zeit-Berechnung nur die vom Polizeifahrzeug gefahrene Geschwindigkeit, hingegen nicht diejenige des vorausfahrenden Angeklagten.

Diese Darstellung erweist sich aber im Ergebnis als nicht rechtsfehlerhaft. Es gibt nämlich keinen Numerus Clausus der Verfahren zur Geschwindigkeitsermittlung. Es besteht auch keine Regel, der zufolge ein Messverfahren ausschließlich seiner (komplexen) Bestimmung nach verwendet werden darf. Vielmehr gilt auch hier der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 261 StPO), welche für das Revisionsgericht nachvollziehbar darzulegen ist (§ 267 Abs. 1 StPO).

Die sich hieraus ergebenden Anforderungen erfüllt das Urteil. Es teilt nämlich mit, dass sich der zunächst „etwa gleichbleibende Abstand“ des verfolgenden Polizeifahrzeugs zum vom Angeklagten geführten PKW Porsche 911 im Zeitpunkt des Ablesens des höchsten Geschwindigkeitswertes (177 km/h) noch vergrößerte (UA S. 4 und 6 oben). Da das Urteil auch angibt, dass das Messgerät geeicht war (UA S. 5), kann der Senat die Bewertung des Landgerichts nachvollziehen, der Angeklagte habe gegen Ende der etwa 3.500 Meter langen Strecke tatsächlich die Geschwindigkeit von 177 km/h erreicht. Der Einwand der Revision, „dass Tachometer immer vorgestellt sind“ (RB S. 2), geht angesichts der festgestellten Eichung hier fehl.

2. Die Feststellungen weisen auch aus, dass der Angeklagte in der Absicht handelte, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“ (§ 315d Abs. 1 Nr. 3 StGB) (UA S. 3). Dass die Strafkammer hierbei eine Formulierung verwendet, die fast dem Gesetzeswortlaut entspricht, ist hinzunehmen. Zum einen wird die gesetzliche Phrase um tatsächliche Merkmale ergänzt („mit seinem hochmotorisierten PKW über eine längere Wegstrecke bei der konkret vorliegenden Verkehrslage“ [UA S. 3]). Zum anderen enthält auch die Beweiswürdigung weitere tatsächliche Eigenschaften des gesetzlichen Absichtsmerkmals (hierzu nachfolgend).

3. Die Absicht, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“, wird auch durch die Beweiswürdigung getragen.

a) Zur Erfüllung des tatbestandlichen Absichtsmerkmals muss der Täter nicht das Ziel verfolgen, die Möglichkeiten seines Fahrzeugs „voll auszureizen“. Ein solches Erfordernis würde den Täter, der ein hochmotorisiertes Fahrzeug führt und sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen kann, ohne an das Limit der technischen Leistungsfähigkeit zu gehen, unangemessen und sinnwidrig begünstigen (vgl. Senat NZV 2019 314 [m. zust. Anm. Quarch]). Das Gesetz stellt hier auf die „relativ höchstmöglich erzielbare Geschwindigkeit“ ab (vgl. Senat a.a.O.; BeckOK StGB/Kulhanek, 56. Ed., § 315d Rn. 35; MüKo/Pegel, StGB 4. Aufl., § 315d Rn. 26; vgl. auch BT-Drs. 18/12964, 5). Dies fasst insbesondere die fahrzeugspezifische Beschleunigung und Höchstgeschwindigkeit (wobei diese nicht erreicht sein muss), das subjektive Geschwindigkeitsempfinden, die Verkehrslage und die Witterungsbedingungen zusammen (BT-Drs. 18/12964, 5, vgl. auch Senat a.a.O.). Auf diese Weise sollen der nachgestellte Renncharakter manifestiert, bloße Geschwindigkeitsüberschreitungen hingegen nicht von der Strafbarkeit umfasst werden, auch wenn sie erheblich sind (BT-Drs. 18/12964, 6). Gerade nicht erforderlich ist demnach, dass der Täter tatsächlich mit der fahrzeugspezifisch höchstmöglichen Geschwindigkeit gefahren ist (vgl. Schönke/Schröder/Hecker, StGB 30. Aufl., § 315d Rn. 9).

b) Nachvollziehbar hat die Strafkammer aus der nach außen erkennbar gewordenen Fahrweise des Angeklagten auf die nach diesen Maßgaben bestimmte Absicht geschlossen, „eine höchstmögliche Geschwindigkeit zu erreichen“. Als tatsächlich zweifelhaft mag dabei erscheinen, ob die frappierend hohe und die zulässige Höchstgeschwindigkeit um fast 100 km/h und mehr als 120% überschreitende Geschwindigkeit allein eine tragfähige Grundlage gewesen wäre, auf das gesetzliche Absichtsmerkmal zu schließen. Das Landgericht hat seine Schlussfolgerung auf die innere Tatseite aber auf weitere äußere Umstände gestützt. Zum einen hat es eine äußerst bedrängende Fahrweise festgestellt: Der Angeklagte fuhr nämlich über einen Großteil der Strecke mit einem Abstand von nur 20 bis 25 Meter hinter einem PKW, wobei letzterer nach dem ersten „Auffahren“ des Angeklagten von 120 auf 149 km/h beschleunigt wurde (UA S. 3). Zum anderen beschleunigte der Angeklagte sein Fahrzeug „sofort stark“ (UA S. 4) von 120 auf 177 km/h, nachdem das vorausfahrende Fahrzeug die linke Fahrspur verlassen hatte. Eine noch höhere Geschwindigkeit, so teilt das Urteil als glaubhafte Bekundung des polizeilichen Zeugen mit, sei „in Anbetracht der Verkehrslage“ unmöglich gewesen (UA S. 6). Der Zusammenhang der Feststellungen legt zudem nahe, dass dem Angeklagten eine noch höhere Geschwindigkeit auch deshalb nicht möglich gewesen wäre, weil er nach Erreichen der 177 km/h die Autobahn an der Anschlussstelle Späthstraße verließ. Dies räumt auch, ohne dass es darauf ankäme, die Verteidigung in ihrer Stellungnahme vom 3. Mai 2023 ein. Die Einwendung der Revision, „ein Porsche“ sei technisch in der Lage, „höchste Geschwindigkeiten (bis über 300 km/h) zu halten“ (RB S. 2), mag sachlich allgemein zutreffen, geht aber an den hier getroffenen tatsächlichen Feststellungen, nach denen eine höhere Geschwindigkeit als 177 km/h situationsbedingt nicht möglich war, vorbei. Unverständlich bleibt in diesem Zusammenhang auch die Erklärung der Revision, die vom Angeklagten erreichte Geschwindigkeit sei „erforderlich“ gewesen, um „die nächste Ausfahrt zu erreichen“ (Gegenerklärung vom 3. Mai 2023).

c) Die durch das Landgericht vom äußeren Tatgeschehen auf die „Höchstgeschwindigkeitserzielungsabsicht“ gezogene Schlussfolgerung erweist sich damit als möglich und vertretbar. Sie entzieht sich mithin revisionsrechtlicher Intervention.“

 

 

 

Gesetze II: Was der Gesetzgeber geschafft hat, oder: Neuregelung der Unterbringung in der Entziehung

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Und im zweiten Posting dann auch etwas zu neuen Gesetzen, aber nicht zu Gesetzesvorhaben, sondern zu gesetzlichen Neuregelungen, die die „Ampel“ geschafft hat.

Und zwar: Am 02.08.2023 ist das „Gesetz zur Überarbeitung des Sanktionenrechts – Ersatzfreiheitsstrafe, Strafzumessung, Auflagen und Weisungen sowie Unterbringung in einer Entziehungsanstalt“ (BGBl. 2023 I Nr. 203) in Kraft getreten. Das Gesetz bringt zahlreiche Neuregelungen. Kurz gefasst (vor allem):

  • Die in § 64 StGB geregelten Voraussetzungen für die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt sind mehrfacher Hinsicht verschärft worden.
  • Überdies ist die in § 67 Abs. 5 Satz 1 a.F. noch gegebene Möglichkeit, im Falle eines erfolgreichen Therapieabschlusses bereits nach Verbüßung der Hälfte der ausgeurteilten Strafe eine Reststrafenaussetzung zur Bewährung zu erhalten, massiv eingeschränkt bzw. für die allermeisten Verurteilten praktisch abgeschafft worden.

Das Gesetz tritt am 01.10.2023 in Kraft. Bis dahin ist ja noch ein wenig Zeit. Aber: „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Und daher hatten wir bereits in der aktuellen Ausgabe des StRR einen Beitrag eines meiner Coautoren aus den Handbüchern Ermittlungsverfahren und Hauptverhandlung RiLG T. Hillenbrand aus Stuttgart mit dem Titel:

Die Neuregelung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt.

Kollege Hillenbrand stellt in dem Beitrag – sicherlich der erste zu der Thematik – die Neuregelungen vor. Und als besonderen Service das ZAP-Verlages, von StRR und vom BOB ist der Volltext hier verlinkt.

Viel Spaß 🙂 beim Lesen.

Bewährung III: Wenn der Angeklagte gelogen hat, oder: Grund für ungünstige „Sozialprognose“?

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Und zum Schluss dann noch etwas vom BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 16.08.2022 – 4 StR 186/22.

Das LG hat den Angeklagten wegen Betrugs in zwölf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Dagegen die Revision, die Erfolg hatte:

„Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine ungünstige Sozialprognose (§ 56 Abs. 1 StGB) begründet hat, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Insoweit ist in den Urteilsgründen unter Bezugnahme auf als unzutreffend gewertete Angaben des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen Folgendes ausgeführt:

„Darüber hinaus hat sich im Verlauf der Hauptverhandlung gezeigt, dass es dem Angeklagten immer noch nicht gelingt, aufrichtig zu sein und Sachverhalte so darzustellen wie sie sind. […] Unzutreffende Angaben hat der Angeklagte auch über seine derzeitige Arbeitgeberin getätigt […]“.

Diese Erwägungen sind ‒ worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat ‒ rechtlich durchgreifend bedenklich. Sie lassen besorgen, dass das Landgericht nicht hinreichend bedacht hat, dass der Angeklagte im Strafprozess nicht zu wahrheitsgemäßen Angaben verpflichtet ist (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 ‒ 5 StR 295/18 Rn. 4) und zulässiges Verteidigungsverhalten nicht zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt werden darf (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2021 ‒ 3 StR 411/21, StraFo 2022, 116; Beschluss vom 19. Januar 2016 ‒ 4 StR 521/15 Rn. 4; Beschluss vom 22. Mai 2013 ‒ 4 StR 151/13, StraFo 2013, 340). Wahrheitswidrige oder beschönigende Angaben des Angeklagten dürfen deshalb regelmäßig weder strafschärfend berücksichtigt noch zur Ablehnung einer günstigen Sozialprognose im Rahmen des § 56 StGB herangezogen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 2. Juni 2021 ‒ 6 StR 224/21, StV 2022, 158; Beschluss vom 20. April 1999 ‒ 4 StR 111/99, StV 1999, 602; Beschluss vom 20. Februar 1998 ‒ 2 StR 14/98, StV 1998, 482). Dies gilt nicht nur dann, wenn der Angeklagte dem Tatvorwurf mit wahrheitswidrigem Vorbringen entgegentritt, sondern auch in Fällen, in denen er in dem Bestreben, einen günstigeren Rechtsfolgenausspruch zu erreichen, falsche Angaben zu seinen persönlichen Verhältnissen macht (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2018 ‒ 5 StR 295/18 Rn. 4). Die Grenzen zulässigen Verteidigungsverhaltens sind regelmäßig erst überschritten, wenn das Vorbringen eine selbstständige Rechtsgutsverletzung enthält oder hierdurch eine neue Straftat begangen wird (vgl. BGH, Urteil vom 8. April 2004 ‒ 4 StR 576/03, NStZ 2004, 616, 617). Feststellungen, die diese Annahme tragen könnten, sind den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zu entnehmen.“

Bewährung II: Widerruf von Strafaussetzung, oder: Leichte Kriminalität und Vertrauensschutz

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Und dann im zweiten Posting zwei KG-Entscheidungen, und zwar:

Im KG, Beschl. v. 16.02.2023 – 2 Ws 1/23 – geht es um den Bewährungswiderruf bei wiederholter Begehung von Delikten der leichteren Kriminalität.

Dazu führt das KG aus:

„Jede in der Bewährungszeit begangene Straftat von einigem Gewicht rechtfertigt, unabhängig davon, ob sie einschlägig oder nicht einschlägig ist, den Widerruf der Bewährungsentscheidung (std. Rspr., vgl. Senat, Beschlüsse vom 11. Januar 2023 – 2 Ws 192/22 –, vom 14. April 2014 – 2 Ws 116/14 – und vom 14. Oktober 2013 – 2 Ws 494-495/13 –, juris; alle m.w.N.). Auch Straftaten, die nur mit Geldstrafen geahndet wurden, sind grundsätzlich als Widerrufsgrund geeignet. Denn § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB setzt nicht voraus, dass die neue Tat der früheren nach Art und Schwere entspricht (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2019 – 2 Ws 79/19 – m.w.N.). Es kommt also nicht darauf an, ob die neue Tat und die frühere kriminologisch vergleichbar sind oder sonst in einem inneren Zusammenhang stehen. Die Erwartung künftiger Straffreiheit wird vielmehr durch jede Tat von nicht unerheblichem Gewicht in Frage gestellt, auch durch eine solche, die nicht mit Freiheitsstrafe geahndet wurde (vgl. Senat, Beschlüsse vom 11. Januar 2023 – 2 Ws 192/22 – und vom 17. Juni 2019 – 2 Ws 79/19 –). Allerdings stellt die „Erwartungsformel“ klar, dass bloße Gelegenheits- bzw. Fahrlässigkeitstaten und sonstige Verfehlungen von geringem Gewicht nicht in jedem Fall zu einem Widerruf führen, wenn sie zu der früheren Tat in keiner Beziehung stehen und nach der Gesamtschau weiterhin von einer günstigen Prognose ausgegangen werden kann. Ist daher der Verurteilte innerhalb der Bewährungszeit erstmals durch ein nicht einschlägiges Bagatelldelikt aufgefallen, das sich in Anbetracht seiner mittlerweile wieder soliden Lebensführung und unter Berücksichtigung der Tatumstände als einmalige Entgleisung darstellt, so scheidet ein Widerruf der Strafaussetzung schon aufgrund der Erwartungsklausel – und nicht erst in Anwendung von § 56f Abs. 2 StGB – aus (vgl. Senat, Beschluss vom 17. Juni 2019 – 2 Ws 79/19 –). Für den Widerruf kann es andererseits jedoch ausreichen, wenn bei einer Mehrzahl neuer vorsätzlicher Taten jede einzelne zwar nur gering wiegt, alle zusammengenommen nach Unrecht und Schuld aber nicht als bedeutungslos bezeichnet werden können. Auch kann die wiederholte Begehung von Delikten der leichteren Kriminalität zur Widerlegung der der Strafaussetzung zugrundeliegenden Prognose führen (vgl. Senat a.a.O. m.w.N. und Beschluss vom 21. Oktober 2008 – 2 Ws 520/08 –, juris).

Gemessen an diesen Maßstäben erfordert die Gesamtschau aller Umstände den Widerruf der Bewährung. 3 Abs. 1 Satz 1 StPO.“

Und dann der KG, Beschl. v. 23.11. 2022 – 2 Ws 161/22 – zum Bewährungswiderruf wegen einer durch Strafbefehl geahndeten Tat und zum Vertrauensschutz. Zum Vertrauensschutz führt das KG aus:

„3. Dem danach angezeigten Widerruf stehen entgegen der Rechtsauffassung der Verteidigung auch nicht Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes entgegen.

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Kammergerichts kann einem Widerruf entgegenstehen, dass bei dem Verurteilten ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde, ein Widerruf der Strafaussetzung wegen der Anlasstat werde nicht mehr erfolgen (vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 20. März 2013 – 2 BvR 2595/12 –, juris; Senat, Beschluss vom 22. Januar – 2 Ws 17/14 –, juris; KG, Beschluss vom 24. März 2015 – 5 Ws 30/15 –). Der Schutz dieses Vertrauens folgt aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfG, a. a. O.). Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalles. Dabei kann ein bestimmtes Tun oder Unterlassen der zuständigen Justizstellen dazu beitragen, aus der maßgeblichen Sicht des Verurteilten ein Vertrauen zu schaffen, zu einem Widerruf werde es nicht mehr kommen (vgl. Senat, a. a. O.; KG, a. a. O.).

b) Gemessen daran durfte der Verurteilte nicht darauf vertrauen, dass ein Widerruf im hiesigen Verfahren nicht mehr ergehen werde…..“

Bewährung I: Zweimal „besondere Umstände“, oder: Bewährungsgrund- und Reststrafenaussetzung

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Heute dann ein Tag mit Bewährungsentscheidungen.

Zunächst hier dann zwei Entscheidungen zu „besonderen Umständen“, und zwar einmal zu § 56 Abs. 2 StGB – also „Bewährungsgrundaussetzung“ – und einmal zu § 57 Abs. 2 StGB – also Reststrafenaussetzung. Und zwar:

1. Die Beurteilung, ob besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB vorliegen, die für die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr erforderlich sind, hat das Tatgericht aufgrund einer Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Angeklagten vorzunehmen.

2. Besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB sind Milderungsgründe von besonderem Gewicht, was sich auch aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben kann.

3. Die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung hält der revisionsgerichtlichen Nachprüfung nicht stand, wenn das Tatgericht trotz Vorliegens mehrerer gewichtiger Milderungsgründe diesen ohne Begründung von vornherein jede Bedeutung für die nach § 56 Abs. 2 StGB zutreffende Entscheidung abspricht und auch die gebotene Gesamtbetrachtung unterlässt.

4. Will das Tatgericht die Versagung einer Strafaussetzung zur Bewährung darauf stützen, dass die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung der Freiheitsstrafe im Sinne des § 56 Abs. 3 StGB gebietet, ist auch hierfür eine umfassende Gesamtwürdigung von Tat und Täter erforderlich.

Ergibt das kriminalprognostische Gutachten, dass die positive Entwicklung des Verurteilten während des Strafvollzuges erheblich über das Maß hinausgeht, was zur Erstellung einer günstigen Prognose erforderlich ist, kann – insbesondere bei Zusammentreffen mit weiteren Milderungsgründen – auch das Vorliegen besonderer Umstände im Sinne des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zu bejahen sein.