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Durchsuchung I: Anfangsverdacht für Besitz von KiPo?, oder: Chat bei markt.de reicht nicht

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In die 32. KW starte ich heute mit zwei beschlüssen zur Anordnung der Durchsuchung, und zwar beide in sog. „Kipo-Verfahren.

Zunächst stelle ich den schon etwas älteren LG Bremen, Beschl. v. 13.01.2023 – 6 Qs 355/22. Es geht um die Annahme zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB geschlossen werden kann.

Ausgangspunkt ist die Sichtung eines Chatverlaufs durch die Polizeiinspektion Cloppenburg/Vechta auf der Onlineplattform „markt.de“, der mutmaßlich zwischen dem Beschuldigten und einem gesondert Verfolgten am 30.08.2021 stattgefunden haben soll. Der gesondert Verfolgte soll sich im Laufe des Chatverlaufs als 15-jähriger ausgegeben haben. Im Rahmen dieses Chatkontaktes tauschten sich die beiden über sexuelle Praktiken, Fantasien und körperliche Merkmale aus. Die Staatsanwaltschaft Bremen beantragte dann mit Verfügung vom 12.07.2022 den Erlass einer richterlichen Durchsuchungsanordnung für die Wohnung des Beschuldigten, welche am 15.07.2022 durch den Ermittlungsrichter des AG Bremen erlassen wurde. Die Durchsuchung der Wohnräume des Beschuldigten fand sodann am 15.08.2022 in der Zeit von 16:00 – 17:45 Uhr statt. Hierbei wurden diverse Medien- und Datenträger sichergestellt. Der Beschuldigte hat nach entsprechender Belehrung gegenüber den Polizeibeamten angegeben, sich an diesen konkreten Chatverlauf zu erinnern. Jedoch meine er, dass der Gesprächspartner angegeben habe, 16 Jahre alt zu sein.

Der Verteidiger des Beschuldigten hat der Sicherstellung der bei der Durchsuchung sichergestellten Gegenstände widersprochen und Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung erhoben. Daraufhin hat das Amtsgericht einen Bestätigungsbeschluss erlassen und der Beschwerde gegen die Durchsuchung nicht abgeholfen. Das Rechtsmittel hatte beim LG Erfolg:

„Die Anordnung der Durchsuchung war rechtswidrig, denn die Voraussetzungen einer Anordnung nach §§ 102, 105 StPO lagen nicht vor. Zwar bedarf es zu ihrer Anordnung keines hinreichenden oder gar eines dringenden Tatverdachts, ein einfacher Anfangsverdacht einer Straftat reicht aus. Einen solchen vermag die Kammer jedoch dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Vom Vorliegen eines Anfangsverdachts ist auszugehen, wenn konkrete Tatsachen vorliegen, die dafürsprechen, dass gerade der zu untersuchende Lebenssachverhalt eine Straftat enthält (BGH NStZ 1994, 499). Bloße, nicht durch konkrete Umstände belegte Vermutungen oder reine denktheoretische Möglichkeiten reichen nicht aus, wobei den Ermittlungsbehörden bei der Beurteilung der Frage, ob zureichende Anhaltspunkte vorliegen ein gerichtlich überprüfbarer Be-urteilungsspielraum zusteht (vgl. BeckOK StPO/Beukelmann, 45. Ed. 1.10.2022, StPO § 152 Rn. 4 und 5 sowie KK-StPO/Diemer, 9. Aufl. 2023, StPO § 152 Rn. 8).

Gemessen daran lag hier ein Anfangsverdacht nicht vor.

Die Anordnung der Durchsuchung erfolgte unter dem Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften. Dieser soll im Kern darauf beruhen, dass nach kriminalistischer Erfahrung zu erwarten sei, dass bei Menschen mit einem auf Jungen unter achtzehn Jahren gerichteten Sexualtrieb und ausgefallener Sexualpraktiken ein Hang zum Sammeln und Aufbewahren einmal erworbenen Materials vorliege, um das Material stets zur Verfügung zu haben. Als weiteren Anhaltspunkt zieht das Amtsgericht heran, dass in Anbetracht des dem Beschuldigten gegenüber mitgeteilten Alters von 15 Jahren und des sonstigen Gesprächsinhalts sich beim Beschuldigten hätten Zweifel hinsichtlich der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung seines Gesprächspartners aufdrängen müssen. Zusätzlich sei zu berücksichtigen gewesen, dass der Markt für die vom Beschuldigten präferierten Sexualpraktiken vergleichsweise gering sei, weshalb eine, wenn auch nicht sehr starke, Wahrscheinlichkeit dafür streite, dass der Beschuldigte versuche, diese sexuellen Vorlieben mit Bildern und Videos auszuleben.

Aus diesen und den weiteren im angefochtenen und im Beschluss vom 20.12.2022 festgehaltenen Erwägungen lässt sich kein Anfangsverdacht begründen. Es liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte vor, aus denen auf das Vorliegen einer Straftat gemäß § 184c Abs. 3 StGB zu schließen wäre. Der Umstand, dass der Beschuldigte mit dem gesondert Verfolgten den aus der Beweismittelakte ersichtlichen Chat geführt hat, reicht hierfür nicht aus. Das Amtsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass das Verhalten des Beschuldigten nicht strafbar ist. Die Einschätzung, es ergäben sich aus dem Chatverlauf Anhaltspunkte dafür, dass der gesondert Verfolgte noch nicht über die Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung verfüge und somit Anhaltspunkte für ein potenziell strafwürdiges Verhalten bestünden, teilt die Kammer jedoch nicht. Sofern sich aus dem Chatverlauf über die sexuelle Selbstbestimmungsfähigkeit des gesondert Verfolgten überhaupt etwas ableiten ließe, dann nach Auffassung der Kammer allenfalls das Gegenteil, da aus den Nachrichten des gesondert Verfolgten hervorgeht, dass ein sexuelles Grundverständnis (Sexualpraktiken, körperliche Eigenschaften) besteht. Nach dem Chatverlauf, in dem die Initiative gleichmäßig verteilt zu sein scheint und nicht etwa ein Drängen des Beschuldigten zu erkennen ist, musste sich dem Beschuldigten jedenfalls die Annahme einer fehlenden Fähigkeit seines Chatpartners zur sexuellen Selbstbestimmung nicht aufdrängen. Bereits die Initiative des damals dreizehn Jahre alten gesondert Verfolgten, sich auf der Plattform anzumelden und gezielt vermeintlich pädophile Nutzer „in die Falle zu locken“ spricht zudem gegen die Annahme, der gesondert Verfolgte sei zur Selbstbestimmung nicht in der Lage gewesen.

Die Durchsuchungsanordnung stützt den Anfangsverdacht ferner auf die mutmaßliche auf den sexuellen Kontakt zu Jugendlichen gerichtete sexuelle Neigung des Beschuldigten. Hierbei handelt es sich jedoch um eine bloße Vermutung, da sie nach Aktenlage keine feststellbare Stütze findet.

Aus dem Chatverlauf und den sonstigen Akteninhalten ergibt sich nicht, dass der Beschuldigte zielgerichtet auf der Suche nach unter 18-jährigen Chat- bzw. Sexualpartnern war. Die genutzte Plattform ist zudem eine im Internet frei zugängliche. Der Beschuldigte hat gerade nicht im sogenannten Darknet mit einschlägigen Begriffen nach Kindern oder Jugendlichen gesucht oder eine erkennbar für Kinder und Jugendliche gedachte Seite aufgerufen, sondern sich auf einer Plattform angemeldet, die — soweit aus der Akte erkennbar — regelmäßig von erwachsenen Nutzern frequentiert wird. Der Beschuldigte hat ausweislich des Chatverlaufs nicht auch nach dem Alter des Gesprächspartners gefragt, vielmehr ist ihm diese Information gemeinsam mit Angaben zu körperlichen Eigenschaften durch den gesondert Verfolgten aus eigener Initiative mitgeteilt worden. Die Antwort des Beschuldigten lässt auch nicht erkennen, dass ihm das Alter des potenziellen Partners besonders wichtig war. Insoweit lässt sich auch kein auf kriminalistische Erfahrungswerte gestützter Rückschluss ziehen, da dieser an eine bloß vermutete Tatsache knüpft. In diesem Zusammenhang muss auch die Einlassung des Beschuldigten im Rahmen der Durchsuchung berücksichtigt werden, wonach er sich bislang nur mit über 18-jährigen Personen getroffen habe.

Weitere Anhaltspunkte, etwa strafrechtliche Voreintragungen des Beschuldigten im Zusammenhang mit Sexualdelikten, die diese Vermutung stützten würden, liegen nicht vor.

Nach alldem lag kein Anfangsverdacht wegen Besitzes jugendpornographischer Schriften gegen den Beschuldigten vor und die Anordnung der Durchsuchung seiner Wohnung sowie die Bestätigung der Sicherstellung erfolgten zu Unrecht.“

VerfG II: Erfolgreicher Eilantrag gegen Berufungsurteil, oder: Zu schnell geschossen beim LG Frankfurt/Main?

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Im zweiten Posting kommt dann hier der BVerfG, Beschl. v. 19.07.2024 – 2 BvR 829/24. In dem Beschluss hat das BVerfG in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren, das sich gegen ein Berufungsurteil richtet, das nach einer Verhandlung über die Berufung der Staatsanwaltschaft in Abwesenheit des Verteidigers und des Angeklagten ergangen ist, eine einstweilige Anordnung erlassen, mit der die Vollstreckung aus dem landgerichtlichen Berufungsurteil ausgesetzt worden ist.

„1. Mit Urteil vom 3. März 2023 verurteilte das Amtsgericht Frankfurt am Main den Beschwerdeführer wegen Körperverletzung und Bedrohung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu jeweils 10,00 Euro; mit Urteil vom 17. März 2023 des Amtsgerichts Frankfurt am Main – Außenstelle Höchst – wurde der Beschwerdeführer wegen versuchter Körperverletzung in einem besonders schweren Fall zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu jeweils 40,00 Euro verurteilt.

2. Gegen diese Urteile legten die Staatsanwaltschaft und der Beschwerdeführer Berufung ein. Ihre Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 3. März 2023 nahm die Staatsanwaltschaft später zurück.

Am 11. September 2023 erklärte der Verteidiger telefonisch, der Beschwerdeführer sei erkrankt und verhandlungsunfähig; ein Attest werde nachgereicht. Das Landgericht hielt am festgesetzten Termin zur Berufungshauptverhandlung am 13. September 2023 fest. Der Beschwerdeführer erschien zu diesem Termin nicht. Auch sein Verteidiger nahm an der Berufungshauptverhandlung nach entsprechender Ankündigung nicht teil.

Nach Verwerfung der Berufung des Beschwerdeführers durch gesondertes Urteil, das nicht Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist, verhandelte das Landgericht Frankfurt am Main zu der allein noch offenen Berufung der Staatsanwaltschaft.

Mit hier angegriffenem Urteil vom 13. September 2023 fasste das Landgericht Frankfurt am Main das Urteil des Amtsgerichts vom 17. März 2023 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft hin neu und verurteilte den Beschwerdeführer wegen Störung des öffentlichen Friedens in Tateinheit mit versuchter Nötigung in Tateinheit mit Bedrohung unter Einbeziehung zweier weiterer Verurteilungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

3. Die hiergegen eingelegte Revision des Beschwerdeführers verwarf das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Beschluss vom 15. Mai 2024 als unbegründet. Das Oberlandesgericht sah die beiden von dem Beschwerdeführer erhobenen Verfahrensrügen, mit denen dieser die Verurteilung in seiner Abwesenheit und ohne Mitwirkung eines notwendigen Verteidigers rügte, als unzulässig an, da sie nicht in einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 StPO genügenden Form begründet worden seien.

4. Die mit Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2023 verhängte Freiheitsstrafe wird mittlerweile vollstreckt.

II.

Am 21. Juni 2024 hat der Beschwerdeführer durch seinen Prozessbevollmächtigten Verfassungsbeschwerde erhoben und den Erlass einer einstweiligen Anordnung gerichtet auf vorläufige Aussetzung der Vollstreckung der Freiheitsstrafe beantragt. Im Kern macht er geltend, die Verurteilung in seiner Abwesenheit und ohne Mitwirkung seines Verteidigers verletze sein Recht auf ein faires Verfahren.

III.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat Erfolg.

1. Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Entscheidung über die einstweilige Anordnung haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerfGE 89, 38 <43 f.>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Für die einstweilige Anordnung ist allerdings kein Raum, wenn sich die Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet erweist (vgl. BVerfGE 104, 23 <28>; 111, 147 <152 f.>; 157, 332 <375 Rn. 68>; stRspr). Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 105, 365 <371>; 143, 65 <87 Rn. 35>; 157, 332 <377 Rn. 73>; stRspr). Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab (vgl. BVerfGE 55, 1 <3>; 104, 23 <27>; 158, 210 <230 Rn. 50>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

a) Die Verfassungsbeschwerde genügt nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes den Zulässigkeitsanforderungen.

aa) Sie wurde fristgerecht erhoben und hinreichend begründet. Der Beschwerdeführer hat die Möglichkeit einer Verletzung seiner verfassungsmäßigen Rechte substantiiert dargelegt.

bb) Der Subsidiaritätsgrundsatz dürfte der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nicht durchgreifend entgegenstehen. Zwar betrachtete das Oberlandesgericht die Verfahrensrügen, mit denen der gerügte Grundrechtsverstoß bereits im fachgerichtlichen Verfahren hätte ausgeräumt werden können, als unzulässig. Viel spricht indes dafür, dass das Oberlandesgericht dabei die Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 StPO überspannte. Es verlangte Vortrag zu Tatsachen, die zur Bewertung, ob der gerügte Verfahrensverstoß vorlag, nicht erheblich gewesen sein dürften.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist auch nicht offensichtlich unbegründet. Viel spricht dafür, dass die Verurteilung ohne Mitwirkung eines Verteidigers in der Berufungshauptverhandlung das Recht des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzte.

aa) Das Recht auf ein faires Verfahren hat seine Wurzeln im Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit den Freiheitsrechten und Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 57, 250 <274 f.>; 122, 248 <271>; 130, 1 <25>) und gehört zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 46, 202 <210>). Als unverzichtbares Element der Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens gewährleistet es dem Beschuldigten, prozessuale Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde wahrnehmen und Übergriffe der staatlichen Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren zu können (vgl. BVerfGE 38, 105 <111>; 122, 248 <271 f.>).

bb) Nach vorläufiger Bewertung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes spricht viel dafür, dass das Landgericht die Berufungshauptverhandlung nicht ohne Mitwirkung eines Verteidigers hätte führen dürfen. Aufgrund der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge – einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren – dürfte ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen haben. Der Verstoß gegen die Bestimmungen der Strafprozessordnung zur notwendigen Verteidigung stellt eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar, da diese Normen das Gebot fairer Verfahrensführung konkretisieren (vgl. BVerfGE 46, 202 <210>).

3. Aufgrund der damit eröffneten Folgenabwägung ist die vorläufige Aussetzung des Vollzugs der Freiheitsstrafe geboten.

Erginge die einstweilige Anordnung nicht und erwiese sich die Verurteilung später als fehlerhaft, so wäre aufgrund des Vollzugs der Strafhaft ein endgültiger Rechtsverlust bei dem Beschwerdeführer eingetreten. Zeigte sich hingegen nach vorläufiger Aussetzung der Vollstreckung, dass die Verurteilung Bestand habe, so wäre die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs lediglich vorübergehend verzögert. Es sind hier auch keine Gründe ersichtlich, die Strafvollstreckung nur unter Auflagen außer Vollzug zu setzen.

IV.

Daher ist im Wege der einstweiligen Anordnung – gemäß § 32 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ohne mündliche Verhandlung – die Aussetzung der Vollziehung des Urteils des Landgerichts Frankfurt am Main vom 13. September 2023 – 5/20 NBs – 6440 Js 208126/22 (31/23) – anzuordnen. Die Anordnung ist in der im Tenor bestimmten Weise befristet (§ 32 Abs. 6 Satz 1 BVerfGG).“

Ohne die Einzelheiten zu kennen: Da scheint man beim LG Frankfurt am Main ein wenig schnell geschossen zu haben.

Beweisantrag III: Widerspruch zur Wahrunterstellung?, oder: Was als „wahr zugesagt“ ist, muss „wahr bleiben“.

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Und dann hier im letzten Posting des Tages noch ein weiterer BGH-Beschluss, und zwar noch der BGH, Beschl. v. 30.04.2024 – 3 StR 90/23 – zur „richtigen Wahrunterstellung“.

Das LG hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen. Dagegen die Revision, die mit der auf einen Verstoß gegen § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO gestützten Verfahrensrüge Erfolg hatte:

„Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen suchte der Angeklagte die Nebenklägerin am Tattag in dem festen Entschluss auf, sie zu töten. Nachdem er die Tür zu ihrer Wohnung eingetreten hatte, wo sie gerade den gemeinsamen Sohn im Badezimmer versorgte, lief er zügig auf sie zu und hielt dabei die mitgeführte Schusswaffe samt Schalldämpfer mit ausgestrecktem Arm in der rechten Hand. Etwa eine Armlänge von ihr entfernt blieb der Angeklagte stehen, zielte mit der Waffe auf „Kopf-/Brusthöhe“ der Nebenklägerin und drückte unvermittelt ab, um sie zu töten. Der Schuss verfehlte die Nebenklägerin knapp. Im Anschluss an die Schussabgabe wirkte der Angeklagte in fortbestehender Tötungsabsicht durch Schläge mit der Waffe auf den Kopf der Nebenklägerin ein, bis ein hinzueilender Nachbar ihn von der Fortsetzung der Tat abhielt.

Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von einer gezielten Schussabgabe des Angeklagten auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin maßgeblich auf deren Angaben und ein waffentechnisches Gutachten gestützt. Die Nebenklägerin habe bekundet, der Angeklagte habe die Waffe auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sodann geschossen. Auf Grundlage der waffengutachterlichen Feststellungen ist das Landgericht zu der Annahme gelangt, das Fehlgehen des Schusses sei auf die ungenaue Anvisierungsmöglichkeit der verwendeten Waffe und die Instabilität der Fluglage des Geschosses zurückzuführen, welches mit der in dem verwendeten Schalldämpfer verbauten Gummi-Lochscheibe in Kontakt gekommen sei.

II.

1. Die Revision beanstandet mit Recht, das Landgericht habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung zu einer gemäß § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.

a) Dieser Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

In der Hauptverhandlung vom 16. September 2022 beantragte die Verteidigung die Vernehmung der Zeugin KOK’in K. zum Beweis der Tatsache, dass die Nebenklägerin im Rahmen ihrer Vernehmung vom 12. Januar 2022 befragt dazu, wie der Angeklagte die Waffe zum Zeitpunkt der Schussabgabe gehalten habe, antwortete: „Er stand tatsächlich dann mit der Waffe vor mir, hatte dann geschossen, aber ich weiß nicht, wohin er geschossen hat. Ob es jetzt an meinem Kopf war, daneben oder in die Richtung, ich kann es nicht sagen.“ Die Schwurgerichtskammer wies den Antrag in der Hauptverhandlung vom 30. September 2022 zurück, da die behauptete Beweistatsache so behandelt werden könne, als wäre sie wahr.

In den Urteilsgründen hat das Landgericht im Rahmen der Beweiswürdigung ausgeführt, die Angaben der Nebenklägerin stünden einem bewussten Danebenhalten und Zielen in Richtung des Badezimmers entgegen. Sie habe in der Hauptverhandlung als Zeugin bekundet, der Angeklagte sei bis auf Armeslänge schnell an sie herangelaufen. Zu dieser Zeit habe er die Schusswaffe in der rechten Hand etwa in Brust-/Bauchhöhe gehalten. Dann habe er die Waffe mit ausgestrecktem Arm „auf Höhe ihrer Brust oder ihres Kopfes gerichtet und sogleich abgedrückt“. Aus welchem Grund die Kugel sie nicht getroffen habe, könne sie nicht sagen. „Diese Angaben stimmten mit ihrer Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung überein.“

b) Im Falle der Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung gilt Folgendes:

Das Tatgericht muss bei der Urteilsfindung die Zusage einlösen, eine bestimmte Behauptung zugunsten des Angeklagten als wahr zu behandeln. Die Urteilsgründe dürfen sich mit einer – bis zum Schluss der Hauptverhandlung unwiderrufen gebliebenen – Wahrunterstellung nicht in Widerspruch setzen. Denn der Angeklagte kann grundsätzlich auf die Einhaltung einer solchen Zusage vertrauen und danach seine Verteidigung einrichten. In diesem berechtigten Vertrauen wird er enttäuscht, wenn das Gericht von der Wahrunterstellung abrückt (BGH, Beschluss vom 4. Februar 2020 – 3 StR 313/19, NStZ 2020, 690 Rn. 6 mwN; Urteil vom 6. Juli 1983 – 2 StR 222/83, BGHSt 32, 44, 46 f.; s. zum Ganzen auch LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 288 ff., zu den Urteilsgründen Rn. 315 ff.). Die als wahr unterstellte Beweistatsache ist in ihrer Bedeutung, wie sie sich nach dem Sinn und Zweck des Beweisantrags ergibt, ohne Verkürzung, Umdeutung oder sonstige inhaltliche Änderung als wahr – d.h. als erwiesen (so schon BGH, Urteile vom 14. Juli 1961 – 4 StR 191/61, NJW 1961, 2069; vom 4. Mai 1951 – 4 StR 216/51, BGHSt 1, 137, 139) – zu behandeln und dem Urteil zugrunde zu legen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom 28. August 2002 – 1 StR 277/02, NStZ 2003, 101 Rn. 3; vom 13. Oktober 2021 – 2 StR 477/19, NStZ 2022, 501 Rn. 10 mwN; Urteile vom 8. November 1999 – 5 StR 632/98, NJW 2000, 443, 445; vom 13. Dezember 1967 – 2 StR 619/67, NJW 1968, 1293; s. hierzu auch MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 344 mwN).

c) Gemessen an diesen Maßstäben liegt ein Verstoß gegen das Kongruenzgebot des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 6 StPO vor.

Die Strafkammer hat sich mit ihren die Konstanz der Angaben der Nebenklägerin betreffenden Ausführungen in den Urteilsgründen zu der von ihr als wahr unterstellten Beweistatsache in Widerspruch gesetzt.

Der als wahr unterstellten Beweisbehauptung zufolge hat die Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren angegeben, nicht sagen zu können, wohin der Angeklagte geschossen habe, und hierbei auch die Variante, er habe „daneben“ geschossen, ausdrücklich genannt. Demgegenüber besteht bei den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin zu der Schussabgabe die Varianz lediglich in Bezug auf die Körperregion (Brust oder Kopf). Die explizite Nennung der Variante „daneben“ stellt sich vorliegend als erhebliche Abweichung zu den in den Urteilsgründen genannten Angaben der Nebenklägerin dar, so dass entgegen den Ausführungen der Strafkammer diese gerade nicht mit ihrer als wahr unterstellten Aussage im Rahmen der polizeilichen Vernehmung übereinstimmen.

Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sind die divergierenden Angaben insoweit auch nicht lediglich als unterschiedliche Formulierungen einer Unsicherheit der Nebenklägerin in Bezug auf die Frage zu verstehen, wohin der Angeklagte die Waffe vor der Schussabgabe richtete. Bei einer Schussabgabe in Höhe der Brust oder des Kopfes der Nebenklägerin oder aber eines „daneben“ Schießens handelt es sich nach dem maßgeblichen Sinngehalt der Angaben um zwei unterschiedliche Sachverhaltsvarianten, da einzig die letztgenannte Alternative die Möglichkeit einer das Tatopfer intentional verfehlenden Schussabgabe eröffnet.

d) Das Urteil beruht auch auf dem dargelegten Verfahrensfehler, § 337 Abs. 1 StPO. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafkammer hinsichtlich der für die Annahme des Tötungsvorsatzes des Angeklagten relevanten Beurteilung der gezielten Schussabgabe auf Kopf-/Brusthöhe der Nebenklägerin zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre, wenn die als wahr unterstellte Tatsache widerspruchsfrei Berücksichtigung gefunden hätte.“11, NStZ 2012, 49).

Beweisantrag II: Fristsetzung beim Beweisantrag, oder: War die Einhaltung der gesetzten Frist unmöglich?

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Im zweiten Posting stelle ich hier den BGH, Beschl. v.  13.03.2024 – 5 StR 393/23 – vor. Die Angeklagten sindt vom LG u.a. wegen wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung verurteilt. Dagegendie Revisionen, die keinen Erfolg hatten. In seinerm Verwerfungsbeschluss hat der 5. Strafsenat „ergänzend“ zum Vortrag des GBA zu den erhobenen Verfahrensrügen Stellung genommen, und zwar wie folgt:

„2. Zu den von dem Angeklagten Y. erhobenen Verfahrensrügen, die unter verschiedenen rechtlichen Gesichtspunkten das Setzen einer Frist zur Stellung von Beweisanträgen und die Ablehnung eines nach Ablauf der Frist gestellten „Beweisantrags“ in den Urteilsgründen beanstanden, bemerkt der Senat über die Ausführungen des Generalbundesanwalts hinaus ergänzend:

a) Soweit geltend gemacht wird, die Frist habe nicht bestimmt werden dürfen, weil kein Verdacht für eine Prozessverschleppung bestanden habe, ist diese Rechtsauffassung unzutreffend (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22, NJW 2024, 1122 ff.; vom 10. Januar 2024 – 6 StR 276/23, NJW 2024, 1594, 1595).

b) Mit der Stoßrichtung, die Frist sei angesichts der langen Verfahrensdauer und komplexen Beweisaufnahme unangemessen kurz gewesen, erweist sich die Rüge als unzulässig, weil sie den Anforderungen von § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht genügt. Denn die Revision hat den sich aus der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft ergebenden Umstand verschwiegen, dass die Verteidiger schon längere Zeit vor der Fristsetzung (jedenfalls sechs Wochen) darüber informiert waren, dass die Strafkammer die Beweisaufnahme schließen wollte. Ohne die Kenntnis dieser Zeitabläufe wäre dem Senat eine Prüfung der Angemessenheit der Fristsetzung nicht möglich gewesen.

c) Darüber hinaus rügt die Revision, die Strafkammer habe durch Bescheidung des nach Fristablauf gestellten Antrags erst im Urteil gegen § 244 Abs. 6 Satz 3 und 4 StPO und den Grundsatz des fairen Verfahrens verstoßen.

aa) Der Verfahrensbeanstandung liegt das folgende Geschehen zugrunde:

Am 171. Hauptverhandlungstag verfügte der Vorsitzende, dass den Beteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen von einer Woche gesetzt werde. Auf Beanstandung am nächsten Hauptverhandlungstag – noch vor Fristablauf – wurde die Verfügung des Vorsitzenden von der Strafkammer bestätigt; eine Gegenvorstellung vom 173. Hauptverhandlungstag, einem Freitag, an dem die Frist ablief, wies die Strafkammer mit Beschluss vom selben Tag zurück. Am darauffolgenden Hauptverhandlungstag stellte einer der Verteidiger den Antrag, einen namentlich und mit Anschrift bezeichneten Zeugen zu laden mit der Begründung, dieser werde bekunden, dass er „während eines Aufenthalts in einem öffentlichen Raum“ ein Gespräch des Geschädigten „mit einer anderen männlichen Person mitbekommen“ habe. In dem Gespräch, das sich „am vergangenen Wochenende ereignet habe“, habe der Geschädigte eingeräumt, dass er die Angeklagten falsch beschuldigt und insbesondere den Sachverhalt übertrieben dargestellt habe. Weiter heißt es in dem Antrag, die Verteidigung habe zunächst die Angaben vor Stellung des Antrages selbst durch Vernehmung des Zeugen verifizieren wollen. „Nachdem die Kammer aber mit ihrer Beweisaufnahme am Ende [sei, werde] der Antrag unmittelbar gestellt.“

Die Strafkammer wies den Antrag im Urteil als Beweisermittlungsantrag zurück, denn das „Begehren [lasse] alle für die Stellung eines ernsthaften Beweisbegehrens zu verlangenden Angaben vermissen, die die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen u.a. in örtlicher, zeitlicher, situativer, personeller und relationaler Hinsicht konkretisieren.“ Auch nach den Maßstäben der gerichtlichen Aufklärungspflicht sei dem Antrag nicht nachzugehen.

bb) Die Rüge hat keinen Erfolg.

(1) Soweit sie mit der Stoßrichtung erhoben ist, die Strafkammer habe den Antrag nicht erst im Urteil bescheiden dürfen, weil die Verteidigung nach § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO mit dem Antrag die Tatsachen glaubhaft gemacht habe, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht hätten, bestehen bereits Bedenken gegen die Zulässigkeit. Denn in dem zitierten Antrag wird ausgeführt, dass die Verteidigung selbst beabsichtigt habe, den Zeugen zu vernehmen, um seine Angaben zu verifizieren. Im Widerspruch dazu erklärte der Verteidiger im Anschluss an die Antragstellung auf Nachfrage des Vorsitzenden jedoch, er könne keine Angaben zu dem behaupteten Gespräch machen, „weil er das Gespräch schnell abgebrochen habe, da er mit Zeugen während eines laufenden Verfahrens nicht spreche.“ Dieser Widerspruch wird im weiteren Rügevorbringen nicht ausgeräumt.

(2) Jedenfalls ist die Rüge auf der Grundlage des Revisionsvorbringens aber unbegründet, weil das Landgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass entgegen § 244 Abs. 6 Satz 5 StPO die Tatsachen, die die Einhaltung der Frist unmöglich gemacht haben, mit dem Antrag nicht glaubhaft gemacht wurden.

Als Ergebnis der Glaubhaftmachung müssen die entscheidungsrelevanten Tatsachen zwar nicht in einer Weise bewiesen sein, dass sie zur Überzeugung des Gerichts feststehen. Das Gericht muss die relevanten Umstände – insoweit gilt nichts anderes als etwa bei § 45 Abs. 2 StPO – aber zumindest für hinreichend wahrscheinlich ansehen (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 244 Rn. 185v; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., § 244 Rn. 98; Schneider, NStZ 2019, 489, 497; Mosbacher, NStZ 2018, 9, 12), wobei es nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1967 – 4 StR 512/66, BGHSt 21, 334, 347; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, aaO Rn. 98a).

Nach diesen Grundsätzen hat die Strafkammer ermessensfehlerfrei eine in diesem Sinne genügende Glaubhaftmachung verneint. Denn der Verteidiger hat letztlich jegliche Form der Glaubhaftmachung unterlassen und lediglich ausgeführt, er habe „das Gespräch“ schnell abgebrochen, da er mit Zeugen während eines laufenden Verfahrens nicht spreche. Damit bleibt schon offen, mit wem der Verteidiger „das Gespräch“ führte und damit, ob er von dem angeblich „am Wochenende“ stattgefundenen Gespräch von dem benannten Zeugen selbst oder von Dritten erfahren haben will. Weitere Fragen des Vorsitzenden dazu blockte der Verteidiger ab, indem er entgegnete, er gebe dazu keine Erklärung ab, weil er „kein Zeuge“ sei. Damit bestand für die Strafkammer keine Möglichkeit zu prüfen, ob das behauptete Gespräch überhaupt an dem Wochenende nach Ablauf der Fristsetzung stattgefunden haben konnte. Deshalb konnte sie nicht die Wahrscheinlichkeit der Umstände einschätzen, die dafür hätten sprechen können, dass die Einhaltung der Frist zur Stellung von Beweisanträgen unmöglich war.

Daran ändert nichts, dass der Vorsitzende der Strafkammer (überobligatorisch) noch am Tag der Antragstellung einen Gerichtswachtmeister zur Wohnung des angebotenen Zeugen entsandte, um einer in Erwägung gezogenen Aufklärungsverpflichtung nach § 244 Abs. 2 StPO zu genügen. Denn es stellte keine ausreichende Glaubhaftmachung für die Unmöglichkeit der Fristwahrung dar, dass in dem Antrag der Zeuge, der das Gespräch gehört haben sollte, mit ladungsfähiger Anschrift benannt worden war. Zur Glaubhaftmachung sind grundsätzlich „parate“ Beweismittel zu verwenden (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO Rn. 185w; Schneider, NStZ 2019, 489, 497). Dies folgt aus Sinn und Zweck der Glaubhaftmachung, die dem Gericht eine sofortige Entscheidung ermöglichen soll, ohne dass weitergehende Untersuchungen über die Hintergründe der Verspätung, die das Verfahren weiter verzögern würden, erforderlich sind (MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO Rn. 185v mwN). Dieser Zweck würde konterkariert, wenn der Zeuge, der in der Hauptsache gehört werden soll, auch als Mittel der Glaubhaftmachung herangezogen würde. Hier war der Zeuge zudem über mehrere Stunden nicht an der genannten Anschrift anzutreffen und meldete sich trotz entsprechender Bitten gegenüber seiner dort aufhältigen Ehefrau und Schwester auch bis zum nächsten Hauptverhandlungstag nicht bei Gericht.

(3) Schließlich hat die Strafkammer im Ergebnis zu Recht verneint, dass es sich bei dem Begehren um einen Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO gehandelt hat. Ihm war jedenfalls nicht zu entnehmen, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können sollte.

Dieses durch die Schaffung der Legaldefinition mit dem Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I S. 2121) in den Gesetzestext von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO übernommene Erfordernis der sogenannten Konnexität verlangt, dass einem Beweisantrag beispielsweise zu entnehmen sein muss, weshalb ein Zeuge die Beweisbehauptung aus eigener Wahrnehmung bestätigen können soll, sofern sich dies nicht von selbst versteht. Dies soll gewährleisten, dass das Tatgericht die Ablehnungsgründe der Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache oder der Ungeeignetheit des Beweismittels prüfen kann (vgl. BT-Drucks. 19/14747, 34; MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO Rn. 134; Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rn. 21a).

Diese Voraussetzung war hier nicht gegeben. Denn die vagen Angaben in dem Antrag konkretisierten die Wahrnehmungssituation des benannten Zeugen weder in örtlicher („in einem öffentlichen Raum“), zeitlicher („am vergangenen Wochenende“), personeller („mit einer anderen männlichen Person“) oder situativer Hinsicht (der Zeuge soll das Gespräch „mitbekommen“ haben; unklar bleibt, ob er dies unmittelbar selbst hörte oder ob ihm darüber mittelbar berichtet wurde). Die Rüge einer Verletzung des § 244 Abs. 6 StPO war mithin auch deshalb unbegründet, weil die Vorschrift auf Beweisermittlungsanträge nicht anwendbar ist (vgl. MüKo-StPO/Trüg/Habetha, aaO Rn. 173 mwN).“

Beweisantrag I: Wie war das mit der Konnexität?, oder: Beweistatsache und Beweismittel?

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Heute dann Entscheidungen zur StPO, und zwar nur Entscheidungen, die mit Beweisantragsfragen zu tun haben.

Den Opener macht der BGH, Beschl. v. 22.05.2024 – 2 StR 348/23. In ihm geht es noch einmal um die Frage der sog. Konnexität.

Das LG hatte den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge  verurteilt, und zwar zu einer Bewährungsstrafe. Dagegen richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft, die mit der Verfahrensrüge Erfolg hatte:

„1. Nach den Feststellungen des Landgerichts bewahrte der Angeklagte in seinem Nachttisch im Schlafzimmer der Wohnung seiner Lebensgefährtin ein Tütchen mit 23,21 g Kokain mit einem Kokainhydrochloridgehalt von 52,4 % bzw. 12,16 g sowie in einer Hosentasche seiner im Wohnzimmer liegenden Hose ein Tütchen mit 8,61 g Kokain mit einem Kokainhydrochloridgehalt von 18,8 % bzw. 1,61 g auf. Zur selben Zeit befand sich auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer, circa einen Meter von dem in der Nachttischschublade befindlichen Kokain entfernt, in einem unverschlossenen Waffenkoffer eine Schreckschuss-Reizgas-Signalpistole, Kaliber 9 mm, mit dem Zulassungszeichen PTB im Kreis mit eingeführtem, aber ungeladenem Magazin. In dem Waffenkoffer befanden sich zudem 109 Schuss dazu passende Kartuschenmunition.

2. Die Strafkammer hat ein (bewaffnetes) Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG verneint. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ausgeführt, die Einlassung des Angeklagten, das sichergestellte Kokain habe dem Eigenkonsum gedient, sei nicht zu widerlegen.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft ist begründet.

1. Die Rüge der Staatsanwaltschaft, das Landgericht habe das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 StPO) verletzt, indem es den in der Hauptverhandlung angebrachten (Hilfs-)beweisantrag der Beschwerdeführerin auf Vernehmung des Zeugen I.    im Urteil mit rechtsfehlerhafter Begründung abgelehnt habe, dringt durch.

a) Dem liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

In der Hauptverhandlung am 31. Januar 2023 stellte die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft hilfsweise den Antrag auf Vernehmung des Zeugen I.   zum Beweis der Tatsache, dass der Zeuge am 1. Januar 2021 eine Tüte mit Kokain in der von dem mit ihm verwandten Angeklagten bewohnten Wohnung gesehen habe. Der Angeklagte habe ihm gegenüber angegeben, es handele sich um 100 g Kokain, und weiter mitgeteilt, er erhalte alle zwei bis drei Tage je eine Lieferung von 100 g Kokain. Seine Kunden zahlten teils mit Bargeld, teils mit Gegenständen. In der Wohnung hätten sich auch Gegenstände wie z.B. Rasierklingen befunden, die der Angeklagte von seinen Drogenkunden als Zahlung akzeptiert habe. Das Landgericht hat diesen Antrag in den Urteilsgründen wegen fehlender Konnexität zwischen der behaupteten Beweistatsache und dem angegebenen Beweismittel nicht als Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO gewertet. Hierzu hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Zeuge I.   könne allenfalls allgemeine Angaben dazu machen, dass der Angeklagte in der Vergangenheit mit Kokain Handel getrieben habe, nicht aber zu den vorgefundenen Betäubungsmitteln und damit nicht zu der konkret angeklagten Tat. Aus dem Antrag ergebe sich nicht, woher der Zeuge Kenntnisse zum Verwendungszweck der am 2. Januar 2021 vorgefundenen Betäubungsmittel haben solle. Dies sei indes zur Feststellung des Handeltreibens mit dem aufgefundenen Kokain erforderlich gewesen.

b) Mit zulässig erhobener Verfahrensrüge bestandet die Beschwerdeführerin zu Recht eine Verletzung des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO. Die Zurückweisung des Hilfsbeweisantrags hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Landgerichts konnte dem Antrag nicht unter Hinweis auf fehlende Konnexität die Eigenschaft als Beweisantrag im Sinne von § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO abgesprochen werden. Der Antrag bezeichnet nicht nur hinreichend bestimmte, dem Zeugenbeweis zugängliche Beweistatsachen, sondern wahrt auch die Konnexität zwischen Beweistatsachen und Beweismittel und genügt damit den nach dem Gesetz an einen Beweisantrag zu stellenden Anforderungen.

aa) Ein solcher liegt nach § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO vor, wenn der Antragsteller ernsthaft verlangt, Beweis über eine bestimmt behauptete konkrete Tatsache, die die Schuld- oder Rechtsfolgenfrage betrifft, durch ein bestimmt bezeichnetes Beweismittel zu erheben und dem Antrag zu entnehmen ist, weshalb das bezeichnete Beweismittel die behauptete Tatsache belegen können soll.

bb) Diese Voraussetzungen sind gegeben. In dem Antrag der Staatsanwaltschaft wird sowohl eine für den Schuldspruch relevante konkrete Tatsache bestimmt behauptet als auch ein bestimmtes Beweismittel bezeichnet. Aus dem Beweisantrag ergibt sich auch ohne Weiteres, weshalb der Zeuge I.    die behauptete Beweistatsache bekunden können soll. Die in das Wissen des Zeugen gestellte Behauptung soll auf dessen eigenen Wahrnehmungen beruhen, da er sich am genannten Tag in der Wohnung des Angeklagten aufgehalten und dieser ihm gegenüber die unter Beweis gestellten Angaben gemacht habe. Einer weiteren Konkretisierung der Beweisanträge unter dem Gesichtspunkt der Konnexität bedurfte es nicht.

cc) Damit lagen die Voraussetzungen für einen förmlichen Beweisantrag im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 1 StPO vor (vgl. BGH, Urteil vom 29. August 1990 – 3 StR 184/90, BGHSt 37, 162, 164 f.), über den nicht nach Maßgabe der gerichtlichen Aufklärungspflicht zu entscheiden war, sondern der nur aus einem der in § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO genannten Gründe abgelehnt werden durfte. Einen solchen Ablehnungsgrund hat das Landgericht in den Gründen des Urteils nicht dargetan.

c) Das Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Zwar kann es unschädlich sein, dass ein im Urteil zu bescheidender Hilfsbeweisantrag übergangen worden ist, wenn er mit rechtsfehlerfreier Begründung hätte abgelehnt werden können (vgl. BGH, Urteil vom 28. August 1996 – 3 StR 180/96, juris Rn. 11; Beschluss vom 19. Dezember 2023 – 3 StR 160/22, NJW 2024, 1122, 1126). Eine derartige Möglichkeit ist hier durch die Urteilsgründe nicht eröffnet. Insbesondere kann danach nicht ohne Weiteres von einer tatsächlichen Bedeutungslosigkeit der in das Wissen des Zeugen I.   gestellten Tatsachen nach § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO ausgegangen werden (vgl. allgemein zu den Anforderungen zu diesem Ablehnungsgrund: BGH, Beschluss vom 6. Dezember 2018 – 4 StR 484/18, NStZ 2019, 295, 296; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 244 Rn. 152 mwN). Nach den Urteilsgründen sind die unter Beweis gestellten Tatsachen, denen zufolge der Zeuge I.   am 1. Januar 2021 – mithin jedenfalls kurz vor der Sicherstellung – in der Wohnung eine größere Tüte mit Kokain gesehen und der Angeklagte ihm gegenüber geäußert habe, dass in der Tüte 100 g Kokain seien, er alle 2 – 3 Tage eine Lieferung von 100 g Kokain bekomme und dass er beim Verkauf Bargeld sowie noch in der Wohnung befindliche Gegenstände, wie z.B. Rasierklingen, als Zahlungsmittel akzeptieren würde, für die Schuld- und Straffrage erkennbar von Belang. Nach alledem kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Strafkammer bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zumindest zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gekommen wäre (§ 337 Abs. 1 StPO).

2. Der aufgezeigte Rechtsfehler zieht die Aufhebung des Schuldspruchs nach sich…..“

Zu den Fragen gibt es dann demnächst <<Werbemodus an>> eine „ganze Menge“ in Burhoff (Hrsg.), Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 11. Aufl., 2025, die derzeit im Herstellungsprozess ist, die man aber natürlich vorbestellen kann, und zwar hier <<Werbemodus aus>>.