Archiv der Kategorie: Untersuchungshaft

Haftentscheidung des LG Dessau-Roßlau – da passte aber gar nichts

An der dem OLG Naumburg, Beschl. v. 26.07.2011 – 1 Ws 615/11 – zugrundeliegenden landgerichtlichen Entscheidung passte aber auch gar nichts:

  • keine Fluchtgefahr, da keine hohe Straferwartung beim Vorwurf des gewerbsmäßigen Betruges mit einem Gesamtschaden von 8.500 e,
  • keine Verdunkelungsgefahr, da der Angeklagte geständig war,
  • keine Wiederholungsgefahr, da der erforderliche Schweregrad i..S. des § 112a StPO nicht erreicht ist,
  • Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz, da ein HV-Termin drei Monate nach Anklageeingang bei einem geständigen Angeklagten nicht hinnehmbar ist.

Also Aufhebung (mit Pauken und Trompeten)

mit dem zusätzlichen Hinweis: „Dass die Akten erst einen Monat nach Erhebung des Rechtsmittels der weiteren Beschwerde dem Senat zugeleitet wurden, sei nur am Rande vermerkt„. Wie wäre es denn mal – liebes LG – mit einem Blick in § 306 Abs. 2 StPO)?

U-Haft_ Einholung eines SV-Gutachtens rechtfertigt Fortdauer

Nach § 121 Abs. 1 StPO können der Umfang bzw. die Schwierigkeit der Ermittlungen die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus rechtfertigen. liegen vor. Mit der Problematik des Umfangs der Ermittlungen setzt sich jetzt (noch einmal/Wieder) der OLG Hamm, Beschl. v. 17.05.2011 – III 1 Ws 218/11 auseinander. In dem Verfahren war es wegen der Einholung von SV-Gutachten zu Verzögerungen gekommen. Das OLG Hamm hat in seinem Beschluss die Vorgehensweise der Ermittlungsbehörden, die zunächst ein SV-Gutachten zu den Fragen der §§ 20, 21 StGB nicht eingeholt hatte, nicht beanstandet. Dazu:

„Zwar ist es bei einer ungewöhnlichen Tatausführung sowie bei zweifelhafter Motivlage in der Regel geboten, einen Sachverständigen zur Würdigung des Täterverhaltens aus psychiatrischer Sicht zu veranlassen, da die Frage, ob eine Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit vorgelegen hat, von Staatsanwaltschaft und Gericht grundsätzlich nicht aus eigener Sachkunde beurteilt werden kann (vgl. BVerfG B. v. 06.06.2007, 2 BvR 971/07, BVerfGK 11, 286ff, […] Rdnr 29). Dies zwingt aber nicht in jedem Fall dazu, sofort ein solches Gutachten in Auftrag zu geben (vgl. OLG Nürnberg B. v. 04.08.2009, 1 Ws 398/09, […] Rdnr 9). Schuldfähigkeitsgutachten haben keinen Selbstzweck sondern dienen der Unterstützung des Gerichts und der Staatsanwaltschaft bei der Beurteilung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Täters. Hierzu stellt der Sachverständige seine speziellen Kenntnisse bei der Auswertung der Ermittlungsergebnisse zur Verfügung und trägt durch eigene Erhebungen zur Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage bei (OLG Nürnberg a.a.O. m.w.N.). Vorliegend ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Angeschuldigte bei Ausführung der Taten schuldunfähig gewesen sein könnte. Hinsichtlich des ihr zur Last gelegten Tötungsdeliktes gaben zwar die Vielzahl der Verletzungen und die Brutalität der Tat, welche die Obduktion und das Gutachten zur Wundanalytik und zur Identifizierung möglicher Verletzungswerkzeuge im Oktober/ November 2011 zu Tage gefördert hatten, einen ersten Anhaltspunkt dafür, die Tatausführung auch von psychiatrischer Seite begutachten zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt lagen indes die Ergebnisse der Todesursachenuntersuchung, der Untersuchung der angeblichen Abwehrverletzungen der Angeschuldigten und auch der Forensisch-toxikologischen Untersuchung noch nicht vor. Da die Angeschuldigte sich zu einer Exploration durch einen psychiatrischen Sachverständigen trotz mehrfacher Nachfragen der Staatsanwaltschaft bei dem seinerzeitigen Pflichtverteidiger und Nachfrage bei dem Wahlverteidiger C nicht bereit erklärt hatte, ist nicht zu beanstanden, dass die Staatsanwaltschaft die Begutachtung vor Fertigung der Anklageschrift nicht mehr angeordnet hat. Anknüpfungspunkt für jede Schuldfähigkeitsbegutachtung ist die konkrete Tatsituation; sie bedarf der umfassenden Gesamtwürdigung des Täterverhaltens vor, während und nach der Tat (BGH NStZ-RR 2008, 39; Fischer 57. Auf. § 20 Rdnr 32; OLG Nürnberg a.a.O., jew. m.w.N.). Vorliegend widersprachen die Angaben der Angeschuldigten zum Tatgeschehen während der richterlichen Vernehmung dem Befund an der Leiche. So hatte die Angeschuldigte eine Notwehrsituation angegeben und lediglich einen Stich zugegeben. Es bedurfte daher weiterer Ermittlungen insbesondere zur Todesursache der Geschädigten, um einem Sachverständigen Anknüpfungstatsachen zum konkreten Tatverlauf zu liefern. Nachdem die Gutachten zur Todesursache und den Verletzungen der Angeschuldigten vorlagen, und die Angeschuldigte erneut lediglich angekündigt hatte, sich zu einer Exploration zu erklären, ist zeitnah, binnen weniger Tage, die psychiatrische Begutachtung angeordnet worden. Ebenso ist anschließend zeitnah die von der Psychiaterin für erforderlich erachtete psychologische Begutachtung angeordnet worden.“

 

 

 

Schreiben erlaubt, auch in der U-Haft, oder: Beschränkung des Briefverkehrs – nur im Einzelfall

§ 119 StPO ist zum 01.01.2010 neu gefasst worden (vgl. auch hier). Er sieht jetzt nicht mehr die allgemeine Möglichkeit von Beschränkungen im Rahmen der U-Haft vor, sondern über diese muss im jeweiligen Einzelfall entschieden werden. Das ist – wie man aus der Praxis hört und wie einige Entscheidungen der letzten Zeit auch zeigen – wohl noch nicht überall angekommen. Deshalb ist der OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.08.2011 – III 4 Ws 473/11 – von praktischer Bedeutung.

Das OLG weist nämlich noch einmal ausdrücklich auf diese Änderung hin. Die Anordnung einer Beschränkung nach § 119 Abs. 1 StPO müsse zur Abwehr einer realen Gefahr erforderlich sein. Das bedeute, da § 119 Abs. 1 StPO einen Eingriff in die grundrechtlich verbürgten Freiheitsrechte darstelle, dass im Einzelfall im Lichte der Grundrechte und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geprüft werden müsse, ob die jeweiligen Eingriffsvoraussetzungen vorliegen.

Das OLG hatte in der Entscheidung mit Beschränkungen des Briefverkehrs zu tun, die es aufgehoben hat. Dazu eine m.E. in vielen Fällen passende Begründung:

Dafür, dass die Aufrechterhaltung der Briefkontrolle aufgrund von Fluchtgefahr erforderlich ist, ist nichts ersichtlich. Allein die Tatsache, dass der Untersuchungshaftbefehl auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt ist, ändert hieran nichts. Dass die Angeklagte die Möglichkeit einer nicht überwachten Kommunikation mit der Außenwelt nutzen könnte, um Fluchtvorbereitungen zu treffen, ist nicht festzustellen. Konkrete Anhaltspunkte für eine solche Gefahr nennt weder der die Anordnung treffende noch der angefochtene Beschluss. Sie folgen auch nicht automatisch aus der Fluchtgefahr, derentwegen die Untersuchungshaft der Angeklagten fortdauert. Tatsachen, die die Annahme begründen, ein nicht inhaftierter Angeklagter werde untertauchen oder sich absetzen, lassen nicht ohne weiteres den Schluss zu, der Beschuldigte werde versuchen, aus der Untersuchungshaftanstalt zu fliehen. Eine solche Flucht bedarf anderer Planungen und Anstrengungen als das Untertauchen eines Angeklagten, der sich noch oder wieder auf freiem Fuß befindet (vgl. dazu OLG Hamm, a. a. 0.; OLG Rostock, StV 2010, 197 f.).

Verdunklungsgefahr ist ebenfalls nicht gegeben. Der Schuldspruch steht rechts­kräftig fest. Dass die Angeklagte Verdunklungshandlungen betreffend strafzumessungsrelevanter Tatsachen vornehmen könnte, ergibt sich weder aus der Akten­lage noch aus dem angefochtenen Beschluss. Soweit dieser auf das noch nicht rechtskräftige Urteil in der Sache 120 Kls 7/11 (Landgericht Kleve) abstellt, sind angesichts des dort nach der Beschwerdebegründung abgelegten Geständnisses Verdunklungshandlungen ebenfalls nicht zu erwarten. Etwaigen Verdunklungshandlungen, die sich auf das Parallelverfahren gegen den Ehemann der Ange­klagten (120 KIs 5/11) auswirken könnten, sind mit entsprechenden Maßnahmen nach § 119 Abs. 1 StPO in jenem Verfahren zu begegnen.

Schließlich bestehen auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für die Annahme einer Wiederholungsgefahr. Hierfür könnte allein der Seriencharakter der der An­geklagten zur Last gelegten Straftaten sprechen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Tathandlungen der Angeklagten als Beihilfehandlungen zum uner­laubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln darstellen (Anwerben von Kurierin­nen, Kontakthalten zu den Hintermännern). Dafür, dass die Gefahr besteht, dass die Angeklagte Unterstützungshandlungen dieser Art aus der Untersuchungshaft mithilfe von Briefverkehr fortsetzen könnte, ist nichts ersichtlich.

Was wird aus dem nicht vollzogenen Haftbefehl…

wenn Rechtskraft eintritt? Wird er gegenstandslos oder was passiert? Zu der damit zusammenhängenden Problematik des Übergang von Untersuchungshaft in Strafhaft befasst sich der lesenswerte KG, Beschl. v. 17.06.2011 – 2 Ws 219/11.

Das KG geht in dem Beschluss davon aus, dass – so auch die h.M. – die Untersuchungshaft bei Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung automatisch in Strafhaft übergeht. Grundlage der Strafvollstreckung ist dann das rechtskräftige Urteil, welches mit Rechtskraft ohne Weiteres die angeordneten Rechtsfolgen eintreten lässt. Der Haftbefehl wird insoweit gegenstandslos.

Das gilt nach Auffassung des KG jedoch nicht in den Fällen, in denen der Haftbefehl gegen Auflagen bereits außer Vollzug gesetzt war. Um insoweit den Zweck der Untersuchungshaft, nämlich die Sicherstellung der Strafvollstreckung, zu gewährleisten, sei der Haftbefehl weiterhin Grundlage für die nach wie vor geltenden Haftverschonungsauflagen (so früher auch schon OLG Karlsruhe MDR 1980, 598; LG Stuttgart StRR 2009, 118).

Pflichtverteidiger für den inhaftierten Mandanten – allmählich haben wir eine h.M.

Schon etwas älter, der Beschl. des LG Köln v. 28.12.2010 – 105 Qs 342/10, den der Kollege, der ihn erstritten hat, mir heute hat zukommen lassen; darum will ich ihn mal lieber gleich veröffentlichen.

Der Beschluss behandelt u.a. die Problematik der Beiordnung des Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO, wenn gegen den Beschuldigten in einem anderen Verfahren U-Haft vollstreckt wird. Das LG hat sich der inzwischen wohl überwiegenden Auffassung angeschlossen, wonach § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO sich auf alle gegen einen Beschuldigten geführten Verfahren bezieht, ohne dass es darauf ankommt, in welchem der Verfahren U-Haft vollstreckt wird. Das wird inzwischen auch von Schmitt in Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., 2011, § 140 Rn. 14 vertreten. Damit dürfte das Problem in der Praxis – hoffentlich – durch sein.

Der Beschluss des LG Köln ist auch noch aus einem weiteren Punkt von Interesse. Das LG hat keine Bedenken, den Kollegen nachträglich beizuordnen. Dazu nur kurz:

Zunächst geht die Kammer davon aus, dass in Ausnahmefällen wie diesem nachträglich eine Verteidiger-Bestellung gemäß § 140 Abs. 1. Nr. 4 StPO erfolgen kann, wenn der Antrag rechtzeitig gestellt worden ist.

Es geht also auch anders als in Leipzig – wenn man will.