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Tabaksteuerhinterziehung bei 19.400 kg Virginia Tobacco Strips, oder: wann liegt „Rauchtabak“ vor?

entnommen wikimedia.org
Author Fredderik

Kurz vor meinem Urlaub hatte mit der Kollege M. Wandt aus Iserlohn noch den LG Hagen, Beschl. v. 31.08.2018 – 71 Qs 16/18 – übersandt, den ich allerdings erst jetzt bringen kann.

Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren betreffend die Haftbeschwerde des Beschuldigten gegen einen Haftbefehl, der auf Tabaksteuerhinterziehung gestützt war. Der Beschuldigte hatte bei einer in Polen ansässigen Firma mindestens 19.400 kg Virginia Tobacco Strips bestellt, deren Lieferung gegenüber dem Finanzamt aber nicht zur Besteuerung angemeldet. Das AG war von „Rauchtabak“ gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 3 TabStG handele. Der Kollege Wandt hatte im Beschwerdeverfahren das Gutachten eines anderen Kollegen vorgelegt, der das anders gesehen hatte. Das LG hat sich dem angeschlossen:

„Gemäß § 112 Abs. 1 S. 1 StPO ist Voraussetzung für die Anordnung der Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten, dass er einer Tat dringend verdächtig ist, also die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass der Beschuldigte Täter einer Straftat ist (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 112, Rn. 5). An dieser Voraussetzung fehlt es hier, denn nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen besteht keine große Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Beschuldigte gemäß §§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, 1 Abs. 2 Nr. 3, 2 Abs. 1 Nr. 4, 17 Abs. 1, 23 Abs. 1 TabStG wegen Steuerhinterziehung strafbar gemacht hat.

Voraussetzung für eine entsprechende Strafbarkeit wäre, dass es sich bei den auf Veranlassung des Beschuldigten in die von diesem angemieteten Lagerräume eingelieferten Tobacco Strips um Rauchtabak im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 TabStG handelt, sie sich also ohne weitere industrielle Bearbeitung zum Rauchen eignen. Hieran bestehen nach derzeitigem Ermittlungsstand jedoch zu erhebliche Zweifel, um eine große Wahrscheinlichkeit annehmen zu können.

Der Begriff der „industriellen Bearbeitung“ ist auszulegen als die üblicherweise in großem Maßstab anhand eines standardisierten Verfahrens stattfindende Umwandlung von Rohstoffen in materielle Güter (EuGH, Urteil vom 06.04.2017, Az.: C-638/15). Soweit in § 1 Abs. 2 Nr. 3 TabStG von einer „weiteren“ industriellen Bearbeitung die Rede ist, spricht dieser Wortlaut dafür, dass es maßgeblich darauf ankommt, ob bei der üblichen Herstellung in großem Maßstab noch mindestens eine industrielle Bearbeitung notwendig ist, damit sich der jeweilige Tabak zum Rauchen eignet.

Für die Frage, ob sich ein Tabakprodukt im Sinne von § 1 Abs. 2 Nr. 3 TabStG „zum Rauchen eignet“, kommt es darüber hinaus nicht lediglich darauf an, ob im Falle der Verbrennung gasförmige Stoffe entstehen, die tatsächlich inhaliert werden können. Zum Rauchen „eignet“ sich Tabak vielmehr erst dann, wenn er als Genussmittel verwendet werden kann, der Rauch also einen für den Konsumenten üblichen Geschmack aufweist und mit der Inhalation keine zusätzlichen Gesundheitsgefahren verbunden sind, die über die Gesundheitsgefahren, die das Rauchen natürlicherweise mit sich bringt, hinausgehen.

Nach den Ausführungen in dem Rechtsgutachten des Rechtsanwaltes pp. ist hinsichtlich der hier verfahrensgegenständlichen Tobacco Strips noch mindestens ein industrieller Bearbeitungsschritt zu vollziehen, damit sie sich zum Rauchen eignen: Der Tabak muss noch fermentiert werden, also einen Gärungsprozess durchlaufen, im Zuge dessen der Nikotingehalt vermindert und blatteigene Eiweißverbindungen, die beim Rauchen das charakteristische Aroma der einzelnen Sorten überdecken würden, abgebaut werden. Im Zuge dieses Prozesses müssten Tabakchargen von mindestens 1000 kg über einen Zeitraum von vier bis sechs Monaten einer idealen Prozesstemperatur von 50°C bis 60°C ausgesetzt werden.

Hieraus ergibt sich, dass die Tobacco Strips in ihrem gegenwärtigen Zustand ohne industrielle Bearbeitung, nämlich den notwendigen Fermentationsvorgang, noch keinen Geschmack aufweisen, der von dem durchschnittlichen Konsumenten als üblich oder akzeptabel wahrgenommen würde. Außerdem weisen die noch nicht fermentierten Tobacco Strips noch einen zu hohen Nikotingehalt auf, wegen dessen möglicherweise toxischer Wirkung sie nicht zum Rauchen geeignet sind. So ist es allgemeinkundig, dass Überdosierungen von Nikotin zu Übelkeit und Erbrechen führen können (https://de.wikipedia.org/wiki/Nicotin#Toxische_VVirkung).

Die Stellungnahmen des Hauptzollamtes Bielefeld vom 7. Mai und 21. August 2018 führen zu keiner anderen Beurteilung. Diese setzen sich mit den detaillierten Ausführungen in dem Gutachten von Rechtsanwalt pp. nicht auseinander und beschränken sich auf die nicht näher begründete Behauptung, die Tobacco Strips könnten durch händisches Zerkleinern rauchfertig gemacht werden. Hieraus lässt sich jedoch gerade nicht entnehmen, dass sich der bei Verbrennung der zerkleinerten Tobacco Strips entstehende Rauch aufgrund seines Geschmacks und eines handelsüblichen Nikotingehalts im Sinne eines Genussmittels auch ohne weitere industrielle Bearbeitung unmittelbar zum Rauchen eignet. Auf den nach dem Gutachten von Rechtsanwalt pp.        noch notwendigen Prozess der Fermentation wird in den Stellungnahmen mit keinem Wort eingegangen.

Die hier vertretene Auffassung widerspricht auch nicht den Ausführungen im Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 06.04.2017, Az.: C-638/15. Denn in dem dortigen Verfahren stand fest, dass sich der streitgegenständliche Tabak nach einfacher Verarbeitung durch Zerkleinerung oder händisches Schneiden zum Rauchen eignete, während dies vorliegend nicht der Fall ist.

Darüber hinaus sprechen auch subjektive Gesichtspunkte gegen einen dringenden Tatverdacht, da nach der bisher unwidersprochenen Einlassung des Beschuldigten die Finanzbehörden zum Zeitpunkt der Einlieferung der Tobacco Strips am 19. September 2017 — zumindest nach außen hin — selbst noch die Auffassung vertraten, dass es sich bei Virginia Tobacco Strips um Rohtabak handele, so dass er davon ausgehen durfte, nicht dazu verpflichtet zu sein, sie zur Besteuerung anzumelden.“

Nicht alltäglich, aber kann man vielleicht mal gebrauchen.

Der Beschleunigungsgrundsatz in Jugend(haft)sachen, oder: Wenn das OLG der Politik die Leviten liest

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Die zweite „Haftsache“ ist schon etwas älter. Sie ist auch bereits in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht (vgl. z.B. NStZ-RR 2017, 59). Ich hatte sie hier für das Blog aber (leider) nicht auf dem Schirm, bringe den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.10.2016 – 3 Ws 684/16 – aber dann jetzt noch, nachdem mich ein Kollege aus „dem wilden Süden“ 🙂 auf die Entscheidung hingewiesen hat.

Im Beschluss geht es um die Berücksichtigung des Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen. Bei dem Angeklagten handelte es sich um einen 16-jährigen Marokkaner, der im Falle einer Verurteilung wegen des ihm vorgeworfenen versuchten Tötungsdelikt wohl mit einer erheblichen Jugendstrafe zu rechnen hatte. Das OLG war mit der Sache im Rahmen der Haftprüfung durch das OLG nach §3 121, 122 StPO befasst.

Es sieht den Beschleunigungsgrundsatz auf Grund der Umstände des Verfahrens als „noch“ gewahrt:

„Hierbei hat der Senat berücksichtigt, dass der 16 Jahre alte Angeschuldigte, für dessen Verfahren das Gebot der besonderen Beschleunigung gilt (§ 72 Abs. 5 JGG), sich bei Beginn der Hauptverhandlung etwas mehr als 7½ Monate in Untersuchungshaft befinden wird und das Verfahren voraussichtlich infolge der in nahem zeitlichen Abstand geplanten weiteren Hauptverhandlungstermine noch vor Ablauf von acht Monaten erstinstanzlich abgeschlossen sein wird. Der Senat hält diese Dauer der Untersuchungshaft bis zum Erlass einer erstinstanzlichen Entscheidung im Hinblick auf die Bedeutung der Sache, der der Vorwurf eines versuchten Tötungsdelikts zugrunde liegt, auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um einen überschaubaren Sachverhalt handelt, noch für angemessen und sieht deshalb den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als gewahrt an.“

Aber das ist nicht unbedingt das interessante an der Entscheidung. Sondern: Das OLG liest der Politik in Baden-Württtemberg die Leviten hinsichtlich einer nach seiner Auffassung viel zu knappen Personalausstattung der Justiz:

„Ergänzend merkt der Senat an, dass Jugendhaftsachen im Hinblick auf § 72 Abs. 5 JGG grundsätzlich Erwachsenenhaftsachen vorgehen. Aber auch Jugendstrafverfahren (wegen des das Jugendgerichtsgesetz beherrschenden Erziehungsgedankens vgl. BGH, NStZ 2010, 94) und Jugendschutzsachen (zum Schutz der Opfer, vgl. auch Medieninformation des baden-württembergischen Ministeriums der Justiz und für Europa vom 10.10.2016), die keine Haftsachen sind, müssen zügig terminiert und abgeschlossen werden können. Im Hinblick auf die mitgeteilte Belastungssituation der Jugendkammer und auf das vom Verteidiger diesbezüglich exemplarisch mitgeteilte Verfahren sowie die (dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren in den letzten Jahren bekannte) Belastungssituation der anderen Straf- einschließlich der Wirtschaftsstrafkammern beim Landgericht R. hat der Haushaltsgesetzgeber (hier konkret: der Landtag von Baden-Württemberg) Abhilfe zu schaffen. Denn die sich ständig wiederholende Bildung von Hilfsstrafkammern, die in der Regel mit Richtern/innen anderer ebenso belasteter Strafkammern besetzt werden, bzw. die temporäre Verteilung von neu eingehenden Haftsachen auf andere (teilweise voll ausgelastete oder ebenso schon überlastete) Strafkammern führen dazu, dass Nichthaftsachen nicht mehr in angemessener Zeit abgeschlossen werden können. Die dem Senat u.a. – aber nicht nur – aus dem Bereich der Wirtschaftsstrafkammern bekannten Zustände, in deren Folge Nichthaftsachen mangels unzureichender Personalausstattung mehrere Jahre liegen bleiben müssen, bevor sie verhandelt werden können, wobei teilweise Tatvorwürfe wegen Verjährung eingestellt werden müssen, sind evident rechtsstaatswidrig. Der Senat ist der Auffassung, dass angesichts des geltenden Beschleunigungsgrundsatzes in Jugend- und Jugendschutzsachen im Regelfall bei einer Dauer des erstinstanzlich gerichtlichen Verfahrens von maximal sechs bis neun Monaten gerade noch von einer Verhandlung „in angemessener Frist“ (Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK) bezogen auf den Angeklagten (in Jugendsachen) bzw. bezogen auf das Opfer (in Jugendschutzsachen) gesprochen werden kann. Hieraus folgt, dass der Haushaltsgesetzgeber diese strukturellen Defizite abzustellen hat und nicht auf das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) verweisen kann. Dieses Gesetz gewährt zwar einen Ausgleich für rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen, entbindet aber den Gesetzgeber nicht von seiner Pflicht, rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln schon in der Entstehung zu verhindern. Es stellt einen Verstoß gegen das Verfassungsgebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege (BVerfG, B. v. 8.4.2013 – 2 BvR 2567/10) dar, wenn rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerungen in Nichthaftsachen immer mehr (soweit dem Senat bekannt ist, werden Statistiken hierüber nicht geführt) unter Anwendung der sog. „Vollstreckungslösung“ (BGHSt 52, 124) als scheinbar nicht zu vermeidender Nachteil Akzeptanz finden und sich nicht mehr nur auf besondere bzw. außergewöhnliche Umstände zurückzuführende Einzelfälle beschränken.“

Mich würde interessieren, ob sich seit Oktober 2016 irgendetwas geändert hat.

Im Übrigen: Das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011 (BGBl I 2302) und die dadurch eingefügten §3 198, 199 GVG sind also kein Allheilmittel, mit dem man alle Verfahrensverzögerungen rechtfertigen kann.

Der dringende Tatverdacht im Berufungsverfahren, oder: Haftgrund fehlende Zustellungsvollmacht?

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In die 38. KW starte ich mit zwei Entscheidungen zu Haftfragen.

Zunächst weise ich auf den KG, Beschl. v.01.03.2018 – 4 Ws 25/18 – hin. Behandelt wird die Frage der Aufhebung eines Haftbefehls durch das Berufungsgericht. Der Angeklagte wurde am 19.09.2017 festgenommen und befand sich nach Vollstreckung zweier Ersatzfreiheitsstrafen seit dem 17. November 2017 aufgrund eines amtsgerichtlichen Haftbefehls bis zu dessen Aufhebung durch das LG am 17.01.2018 in Untersuchungshaft. Am 28.11.2017 hatte das AG den Angeklagten nach dreitägiger Hauptverhandlung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Mit Beschluss vom gleichen Tag hatte das AG unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls  Haftfortdauer angeordnet. Gegen das Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt. In dem durch die Staatsanwaltschaft Berlin angefochtenen Beschluss vom 17.01.2018 hatte das LG zur Begründung der Aufhebung des Haftbefehls des AG lediglich ausgeführt, es liege zwar ein hinreichender, aber kein dringender Tatverdacht vor.

Dagegen die Beschwerde zum KG, die Erfolg hatte. Das KG sieht die Voraussetzungen für einen Haftbefehl gegen den Angeklagten nach § 112 Abs. 1 und Abs. 2 StPO als gegeben an:

„1. Der Angeklagte ist dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 StPO), sich des versuchten schweren Raubes sowie der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht zu haben. Das folgt bereits aus seiner erstinstanzlichen Verurteilung. Haftentscheidungen, die während einer Hauptverhandlung oder nach einer tatgerichtlichen Verurteilung erfolgen, unterliegen im Beschwerdeverfahren hinsichtlich des Vorliegens dringenden Tatverdachts lediglich eingeschränkter Überprüfung durch das Beschwerdegericht, da allein das Gericht, vor dem die Beweisaufnahme stattfindet bzw. stattgefunden hat, in der Lage ist, deren Ergebnisse aus eigener Anschauung festzustellen und zu würdigen sowie auf dieser Grundlage zu bewerten, ob der dringende Tatverdacht nach dem erreichten Verfahrensstand fortbesteht. Eine Beweisaufnahme über eine durch das erkennende Tatgericht bereits durchgeführte oder noch laufende Beweisaufnahme im Sinne eines „Schattenverfahrens“ findet im Haftbeschwerdeverfahren nicht statt (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 2 Ws 236/15 – [juris]). Ist ein Angeklagter nach abgeschlossener Beweisaufnahme verurteilt worden, ist der dringende Tatverdacht in der Regel durch das verurteilende Erkenntnis hinreichend belegt (vgl. BGH NStZ 2006, 297; OLG Hamburg aaO). Damit ist es dem Berufungsrichter prinzipiell vor einer eigenen Beweisaufnahme verwehrt, den dringenden Tatverdacht allein aus dem Aktenstudium zu verneinen und den Haftbefehl aus diesem Grund aufzuheben, weil ein Schuldspruch aufgrund einer Hauptverhandlung regelmäßig eine höhere Richtigkeitsgewähr bietet als eine anhand der Akten angestellte Prognose (vgl. Senat, Beschluss vom 7. März 2014 – 4 Ws 21/14 – [juris = OLGSt StPO § 112 Nr. 18] mwN). Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn das erstinstanzliche Urteil derartige offensichtliche Fehler aufweist, dass ein Berufen auf dieses Urteil gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren aus Art. 6 EMRK verstoßen würde, oder sich zwischen dem Zeitpunkt des Erlasses des erstinstanzlichen Urteils und der Haftentscheidung durch den Berufungsrichter erhebliche neue Umstände ergeben haben, die eine andere Beurteilung der Haftvoraussetzungen rechtfertigen (vgl. BGH NStZ 2004, 276). Beides liegt nicht vor. Das erstinstanzliche Urteil hat auch für das Beschwerdegericht nachvollziehbar die Gründe dargelegt, weshalb es von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt ist, und ihn aus diesen Gründen verurteilt. Neue Umstände, die eine andere Beurteilung der Haftfrage rechtfertigen würden, sind bis zum heutigen Zeitpunkt nicht zu Tage getreten. Sie werden auch durch die Nichtabhilfeentscheidung der Berufungskammer nicht belegt, die lediglich den Beweiswert der vom Amtsgericht herangezogenen Beweise abweichend vom erstinstanzlichen Urteil gewichtet.

2. Es besteht jedenfalls der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). Der Angeklagte ist in Deutschland wie auch in M. ohne feste Wohnanschrift, aus der Untersuchungshaft ist er am 17. Januar 2018 ohne Angabe einer Austrittsadresse entlassen worden. Er hat sich in Berlin vor seiner Inhaftierung im September 2017 in wechselnden Asylbewerberunterkünften aufgehalten, sein derzeitiger Aufenthaltsort ist hingegen nicht bekannt. Weder in Deutschland noch in M. verfügt er über feste soziale Bedingungen, er geht keiner Arbeit nach und erhält keine finanzielle Unterstützung. In Anbetracht der Verurteilung zu einer nicht unerheblichen Freiheitsstrafe steht zu erwarten, dass der Angeklagte, der die Tatvorwürfe bestreitet, nunmehr für die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte unerreichbar sein wird, auch wenn der Verteidiger angegeben hat, Kontakt zu dem Angeklagten zu haben. Der (Pflicht)Verteidiger verfügt weder über eine schriftliche Ladungs- noch Zustellvollmacht (vgl. Senat StraFo 2015, 201 = StV 2015, 646).“

Na ja, das mit der „Ladungs- und Zustellungsvollmacht“ hätte ich mir verkniffen. Ist das Fehlen ein Haftgrund?

U-Haft II: Wenn Polizei/StA/Gerichte viel zu tun habe, oder: U-Haft darf deswegen nicht länger dauern

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Die zweite Entscheidung kommt vom KG. Sie ist schon etwas älter, passt aber ganz gut zur Diskussion um die Überlastung der Gerichte. Es handelt sich um den KG, Beschl. v. 15.01.2018 – (4) 161 HEs 62/17. Ergangen ist er im Haftprüfungsverfahren nach den §§ 121, 122 StPO. Das KG hat den Haftbefehl gegen den Angeklagten aufgehoben. Es verneint die „besondere Schwierigkeit“ der Ermittlungen und verneint dann auch einen „sonstigen wichtigen Grund für die Fortdauer der Untersuchungshaft“:

Dazu führt es u.a. zur Überlastung von Ermittlungsbehörden und Gerichten aus:

aa) Ein solcher Grund ist nur dann gegeben, wenn das Verfahren durch Umstände verzögert worden ist, denen Strafverfolgungsbehörden und Gerichte durch geeignete Maßnahmen nicht haben entgegen wirken können. Maßgeblich ist insoweit, ob die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte alle zumutbaren Maßnahmen getroffen haben, um die Ermittlungen so schnell wie möglich abzuschließen und ein Urteil herbeizuführen (vgl. Senat StV 2015, 45; Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 19, 21 m.w.Nachw.). Die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Sechs-Monats-Frist stellt in diesem Zusammenhang lediglich eine Höchstgrenze dar. Aus der genannten Vorschrift kann nicht etwa der Schluss gezogen werden, dass ein Strafverfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht unter Berücksichtigung des Beschleunigungsgebots geführt werden müsse (vgl. nur Senat, Beschlüsse vom 18. August 2017 – [4] 161 HEs 33/17 [15/17] –, 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – und 13. August 2012 – [4] 141 HEs 63/12 [27/12] – m.w.Nachw.). Vielmehr verlangt der in Art. 2 Abs. 2 GG verankerte Beschleunigungsgrundsatz, dass die Strafverfolgungs-behörden und Strafgerichte von Anfang an alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergreifen, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen und eine gerichtliche Entscheidung über die einem Beschuldigten vorgeworfenen Taten herbeizuführen. An den zügigen Fortgang des Verfahrens sind umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2010 – [4] 1 HEs 7/10 [3-4/10] – m.w.Nachw.). Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch eines Beschuldigten und dem öffentlichen Strafverfolgungs-interesse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann (vgl. Senat, Beschluss vom 9. August 2013 – [4] 141 HEs 44/13 [23/13] – m.w.Nachw.). Nicht entscheidend ist dabei, ob eine einzelne verzögert durchgeführte Verfahrenshandlung ein wesentliches Ausmaß annimmt, sondern ob die Verfahrensverzögerungen in ihrer Gesamtheit einen Umfang erreichen, der die Fortdauer der Untersuchungshaft nicht mehr erlaubt (vgl. BVerfG StraFo 2009, 375; KG StraFo 2007, 26; Senat StraFo 2013, 506; Beschluss vom 4. Dezember 2009 – 4 Ws 123/09 –; jeweils m.w.Nachw.). Je nach Sachlage kann bereits eine vermeidbare Verfahrensverzögerung von wenigen Wochen mit dem Beschleunigungsgebot in Haftsachen unvereinbar sein (vgl. BVerfG StV 2007, 644; OLG Naumburg StV 2007, 364; Senat StraFo 2013, 505; jeweils m.w.Nachw.), wobei zu beachten ist, dass das in Haftsachen geltende Gebot der besonderen Verfahrensbeschleunigung im Jugendstrafverfahren eine noch einmal gesteigerte Ausprägung findet (vgl. KG, Beschluss vom 19. März 2011 – [5] 1 HEs 24/01 [5/01] – [juris]; Senat StraFo 2013, 502; Beschluss vom 6. Dezember 2011 – [4] 1 HEs 78/11 [60/11] – m.w.Nachw.).

bb) In Bezug auf eingetretene Verzögerungen kommt es nicht auf ein „Verschulden“ der bei den Ermittlungsbehörden oder Gerichten handelnden Amtswalter an, sondern allein darauf, ob die Verzögerungen der Sphäre des Staates zuzurechnen sind oder nicht (vgl. BVerfG StV 2006, 703). Die nicht nur kurzfristige, unvorhersehbare Belastung der mit Untersuchungshaftsachen befassten Spruchkörper infolge Häufung anhängiger Sachen oder unzureichender personeller Ausstattung, der nicht durch alle möglichen gerichtsorganisatorischen Mittel, notfalls unter Heranziehung von Zivilrichtern, begegnet worden ist, stellt grundsätzlich keinen wichtigen Grund dar (vgl. Meyer-Goßner/Schmitta.O., Rn. 22 mit zahlr. Nachw.; zu überlastungsbedingten Verfahrensverzögerungen nochmals ausführlich: OLG Bremen, Beschluss vom 20. Mai 2016 – 1 HEs 2/16; 1 HEs 3/16 – [juris]; s. auch KG, Beschluss vom 3. Juni 2016 – [5] 141 HEs 41/16 [8/16] –; Senat StV 2017, 450).

 

Das BVerfG hat sich hierzu zuletzt (StV 2015, 39 = JR 2014, 488 mit zust. Anm. Schäfer) nochmals in aller Klarheit wie folgt geäußert: „Die Überlastung eines Gerichts fällt – anders als unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse – in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Dem Beschuldigten darf nicht zugemutet werden, eine längere als die verfahrensangemessene Aufrechterhaltung des Haftbefehls nur deshalb in Kauf zu nehmen, weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte zu genügen (BVerfGE 36, 264 <275>). (…) Kann dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht Rechnung getragen werden, weil der Staat seiner Pflicht zur verfassungsgemäßen Ausstattung der Gerichte nicht nachkommt, haben die mit der Haftprüfung betrauten Fachgerichte die verfassungsrechtlich gebotenen Konsequenzen zu ziehen, indem sie die Haftentscheidung aufheben; ansonsten verfehlen sie die ihnen obliegende Aufgabe, den Grundrechtsschutz der Betroffenen zu verwirklichen (vgl. BVerfGK 6, 384 <397>)“.

Diese Grundsätze haben gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen zu gelten. Auch die – nicht nur kurzfristige, auf unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse zurückgehende – Überlastung der Ermittlungsbehörden infolge einer Häufung anhängiger Untersuchungshaftsachen und/oder unzureichender personeller Ausstattung kann nicht als wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO anerkannt werden. Deren Überlastung fällt, wie die eines Gerichts (vgl. BVerfG a.a.O.), in den Verantwortungsbereich der staatlich verfassten Gemeinschaft. Der Beschuldigte darf nicht länger als im o.g. Sinne verfahrensangemessen in Untersuchungshaft gehalten werden, nur weil der Staat es versäumt, seiner Pflicht, (auch) die Ermittlungsbehörden personell und sachlich so auszustatten, dass sie ihren Aufgaben bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten in angemessener Zeit nachkommen können, zu genügen.“

Und dann wird nichts „gesund gebetet“, sondern:

cc) Bei Anwendung der dargestellten Rechtsgrundsätze zeigt sich, dass die Sachbehandlung im Ermittlungsverfahren den einzuhaltenden Anforderungen an die besondere Verfahrensbeschleunigung in Haftsachen nicht genügt hat.

…….

dd) Die mit der späten Anklageerhebung verbundene Verfahrensverzögerung von zwei Monaten kann die nunmehr mit der Sache befasste Jugendkammer nicht mehr hinreichend ausgleichen.

Zwar genügt die Sachbehandlung im gerichtlichen Verfahren für sich genommen dem Gebot besonderer Verfahrensbeschleunigung. Die Prüfung der Anklageschrift ist schnell geschehen und das Zwischenverfahren umgehend eingeleitet worden. Mit Verfügung der Anklagezustellung am 8. Dezember 2017 ist eine – angesichts des Aktenumfangs und Verfahrensstoffs sicher nicht unangemessen lange – Frist zur Stellungnahme von (nur) zehn Tagen bestimmt worden, mit deren Ablauf frühestens in der 51. Kalenderwoche 2017 Eröffnungsreife eintreten konnte. Mit dem geplanten Beginn der Hauptverhandlung am 1. März 2018 hält sich die Kammer deutlich innerhalb der nach verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zur Wahrung des Beschleunigungsgebots in der Regel einzuhaltenden Frist von drei Monaten zwischen Eröffnungsreife und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. BVerfG StV 2008, 421; Senat, Beschluss vom 5. August 2011 – [4] 1 HEs 39/11 [30-31/11] – jeweils m.w.Nachw.) und des von den Strafsenaten des Kammergerichts regelmäßig noch für hinnehmbar erachteten Zeitraums von vier Monaten zwischen Anklageerhebung und Beginn der Hauptverhandlung (vgl. etwa Senat StraFo 2010, 26 m.w.Nachw.). Auch die von der Kammer vorgesehene weitere Gestaltung der Hauptverhandlung erfüllt die Anforderungen an die in Haftsachen gebotene konzentrierte Durchführung der Hauptverhandlung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche (zur Notwendigkeit einer genügenden Verhandlungsplanung und Verhandlungsdichte vgl. BVerfG StV 2008, 198, 199; Senat, Beschluss vom 17. September 2010 – 4 Ws 93/10 –, jeweils m.w.Nachw.).

Ein hinreichender Ausgleich der im Ermittlungsverfahren eingetretenen Verzögerung, der bei einem – unabhängig von der Auslastung der Kammer mit anderen beschleunigungsbedürftigen Haft- und Unterbringungssachen schon im Hinblick auf den umfangreichen Verfahrensstoff und die im Zwischen- und Hauptverfahren einzuhaltenden Fristen unrealistisch erscheinenden – Beginn der Hauptverhandlung vor Ende Januar 2018 hätte angenommen werden können, ist der Jugendkammer aber auch bei Ausschöpfung aller ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht möglich.

 

U-Haft I: Jugendlicher in U-Haft, oder: Wenn die Jugendgerichtshilfe nicht unterrichtet wird….

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Nach dem „Abschiedspost“ an Jurablogs – Jurablogs geht…., oder: Sag beim Abschied leise Servus/danke…. gibt es dann heute noch zwei Entscheidungen zur U-Haft. Zunächst der Hinweis auf den BGH, Beschl. v. 28.06.2018 – AK 24/18 u.a.

U-Haft und BGH? Ja, das gibt es auch, und zwar dann, wenn die Ermittlungen vom GBA geführt werden. Das war in diesem Verfahren der Fall. Gegenstand des Verfahrens gegen den Beschuldigten, um den es hier geht, war nämlich der Vorwurf, „er habe sich als Jugendlicher ab dem 10. Juni 2014 im Raum Mossul mehrfach als Mitglied am IS beteiligt und dabei unter anderem im Zusammenhang mit einem nichtinternationalen bewaffneten Konflikt eine nach dem humanitären Völkerrecht zu schützende Person – den vorbenannten irakischen Offizier unmittelbar vor dessen Tötung – in schwerwiegender Weise entwürdigend und erniedrigend behandelt, strafbar als Kriegsverbrechen gegen Personen in Tateinheit mit Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland sowie als weiterer Fall der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 9 VStGB, § 129a Abs. 1 Nr. 1, § 129b Abs. 1 Satz 1, 2, §§ 52, 53 StGB, § 1 JGG.“

In dem Verfahren stand Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO an. Und in dem Zusammenhang führt der BGH dann aus:

„b) Der gegen den Beschuldigten R. ergangene Haftbefehl ist nicht wegen Verletzung der – auf Heranwachsende entsprechend anwendbaren (§ 109 Abs. 1 Satz 1 JGG) – Unterrichtungspflicht des § 72a Satz 1 JGG aufzuheben.

Die Jugendgerichtshilfe ist im hiesigen Verfahren – soweit ersichtlich – nicht unverzüglich mit dem Beginn der Vollstreckung dieses Haftbefehls am 5. Dezember 2017 benachrichtigt worden. Nach ihren Angaben hat sie am 7. Mai 2018 Kenntnis davon erlangt, dass der Haftbefehl mit Beschluss vom 22. Februar 2018 „aufrecht erhalten“ worden und eine erneute Haftprüfung nach weiteren drei Monaten vorgesehen ist. Unter Beachtung ihrer Verpflichtung zu beschleunigter Vorlage eines Berichts als Haftentscheidungshilfe nach § 38 Abs. 2 Satz 3, § 107 JGG hat die Jugendgerichtshilfe mit an den Generalbundesanwalt gerichtetem Schreiben vom 14. Mai 2018 Stellung genommen. Seit welchem Zeitpunkt ihr der Haftbefehl bekannt war, hat sie allerdings nicht mitgeteilt.

Unter den gegebenen Umständen ist auszuschließen, dass sich eine Verletzung der Unterrichtungspflicht auf die vorliegende Entscheidung auswirken würde. Wie dargelegt, liegt mittlerweile eine Stellungnahme der Jugendgerichtshilfe vor. In dem benannten Verfahren vor dem Landgericht Berlin hatte sie bereits unter dem 11. Dezember 2017 berichtet. Aus ihren schriftlichen Äußerungen ist nichts ersichtlich, was es rechtfertigen könnte, hinsichtlich des Beschuldigten R. die allgemeinen Haftvoraussetzungen zu verneinen; auch eine Haftverschonung analog § 116 StPO, gegen die aus Sicht der Jugendgerichtshilfe „nichts spräche“, ist weiterhin nicht erfolgversprechend.“

§ 72a Satz 1 JGG sollte man nicht übersehen…..