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U-Haft I: Mehr als 2 Jahren U-Haft noch verhältnismäßig, oder: Straferwartung nur noch mehrere Monaten

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Am heutigen Donnerstag mache ich dann mal einen Hafttag. Den hatten wir schon länger nicht mehr.

Ich starte mit dem BGH, Beschl. v. 20.04.2022 – StB 16/22. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren, in dem dem Angeklagten in einem Haftbefehl des OLG Stuttgart Unterstützung einer Vereinigung i.S. des § 129 Abs. 2 StGB), deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet gewesen seien, Mord oder Totschlag zu begehen (§ 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 StGB), sowie tatmehrheitlich (§ 53 StGB) hierzu unerlaubt Munition und eine verbotene Hieb- und Stoßwaffe besessen (§ 52 Abs. 3 Nr. 1, Nr. 2 Buchst. b WaffG, § 52 StGB) zur Last gelegt wird.

Der Angeklagte wurde am 14.02.2020 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 15.02.2020 ununterbrochen in U-Haft. Der BGH hat im September und Dezember 2020 und dann noch einmal im März 2021 im besonderen Haftprüfungsverfahren jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Anklage ich am 04.11.2020 erhoben worden. Nach Eröffnung des Hauptverfahrens dauert die Hauptverhandlung seit dem 13.04.2021 an.

Der Angeklagte hat jetzt durch seine Verteidiger beantragt, den Haftbefehl des OLG aufzuheben, hilfsweise außer Vollzug zu setzen. Diesen Antrag hat das OLG abgelehnt. Gegen diesen Beschluss hat der Angeklagte Beschwerde eingelegt. Er wendet sich u.a. auch gegen die Annahme der Verhältnismäßigkeit der Untersuchungshaft. Das OLG hat der Beschwerde nicht abgeholfen. Der BGH hat die Beschwerde verworfen. Er führt zur Verhältnismäßigkeit aus:

„4. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft steht schließlich noch nicht außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).

a) Der Entzug der Freiheit eines einer Straftat lediglich Verdächtigen aufgrund der Unschuldsvermutung ist nur ausnahmsweise zulässig. Den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlichen und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen muss – unter maßgeblicher Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verlangt in diesem Zusammenhang auch, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe steht, und setzt ihr unabhängig von der Straferwartung Grenzen. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft vergrößert sich regelmäßig das Gewicht des Freiheitsanspruchs gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung. Daraus folgt unter anderem, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund zunehmen. Zu würdigen sind auch die voraussichtliche Gesamtdauer des Verfahrens und die für den Fall einer Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung (st. Rspr.; vgl. etwa BVerfG, Beschlüsse vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff. mwN; vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18, NJW 2019, 915 Rn. 57 f.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217).

b) An diesen Maßstäben gemessen, ist die weitere Inhaftierung des Angeklagten derzeit noch gerechtfertigt.

aa) Das Verfahren und insbesondere die Hauptverhandlung sind, wie vom Oberlandesgericht im Haftbefehl und im Nichtabhilfebeschluss im Einzelnen dargelegt und vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellt, bislang mit der in Haftsachen gebotenen besonderen Beschleunigung geführt worden. Es ergibt sich eine durchschnittliche Verhandlungsdichte von mehr als einem Tag pro Woche (zu diesem Erfordernis s. etwa BVerfG, Beschluss vom 17. Januar 2013 – 2 BvR 2098/12, juris Rn. 39 ff.; BGH, Beschluss vom 21. April 2016 – StB 5/16, NStZ-RR 2016, 217 f., jeweils mwN). Dass es bisher nicht möglich gewesen ist, zu einem Urteil zu gelangen, ist dem Umfang und der Komplexität der Sache sowie der Vielzahl der beteiligten Personen geschuldet.

bb) Die verbleibende Straferwartung beträgt immerhin noch mehrere Monate. Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Inhaftierung liegt zwar häufig nahe, wenn die Dauer der Untersuchungshaft die zu erwartende Freiheitsstrafe annähernd erreicht oder sogar übersteigt. Ein allgemeiner Rechtsgrundsatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn das notwendig ist, um die Ahndung der Tat und die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern, existiert aber nicht (vgl. KG, Beschluss vom 31. August 2007 – 1 AR 1207/071 Ws 146/07, NStZ-RR 2008, 157; KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl., § 120 Rn. 6 mwN; MüKoStPO/Böhm, § 120 Rn. 13; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 120 Rn. 4).

Zudem hat der Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im konkreten Zusammenhang mit der Planung von todbringenden Anschlägen aus rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven eine hohe Bedeutung. Vor diesem Hintergrund kommt bei der Abwägung neben dem Freiheitsgrundrecht des Angeklagten dem ebenfalls im Grundgesetz verankerten Legalitätsprinzip ein besonderes Gewicht zu; dieses gebietet die Aufklärung und Ahndung von Straftaten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. März 2006 – 2 BvR 170/06, BVerfGK 7, 421, 426).

Nach allem ist die Untersuchungshaft des Angeklagten trotz ihrer erheblichen Dauer von inzwischen über zwei Jahren derzeit noch nicht unverhältnismäßig. Das Oberlandesgericht wird als das mit der Sache befasste Tatgericht jedoch im Blick behalten müssen, ab wann die Inhaftierung des Angeklagten die voraussichtlich von ihm zu verbüßende Haftzeit überschreitet. Ab diesem Zeitpunkt stünde die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft aller Voraussicht nach außer Verhältnis zu der zu erwartenden Strafe. Das gilt besonders dann, wenn bis dahin der Abschluss des Verfahrens nicht absehbar sein sollte.“

Haft III: Beschleunigungsgrundsatz bei U-Haft, oder: Mal wieder verzögerte Einholung eines SV-Gutachtens

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Und als dritte und letzte Entscheidung dann ein haft(verfahrens)rechtlicher Dauerbrenner, nämlich die Frage: Wie müssen die Gerichte in Haftsachen mit der Einholung von Sachverständigengutachten umgehen. Dazu verhält sich der OLG Naumburg, Beschl. v. 22.03.2022 – 1 Ws (s) 84/22 – auf der Grundlage folgenden Verfahrensablaufs:

Der Angeklagte befindet sich seit dem 06.04.2021 aufgrund eines Haftbefehls des AG Bernburg vom 09.12.2020 in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl stützt sich auf den Vorwurf des Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und den Haftgrund der Fluchtgefahr. Der Haftbefehl war dem Angeklagten nach Festnahme in anderer Sache am 21.01.2021 verkündet worden.

Am 25.02.2021 verurteilte das AG Bernburg den Angeklagten in dieser Sache wegen Raubes in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, Diebstahls und Beleidigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten. Auf die Berufung des Angeklagten fand am 25.05.2021 eine erste Hauptverhandlung vor dem LG Magdeburg statt, in deren Verlauf sich herausstellte, dass eine Begutachtung des Angeklagten aufgrund dessen Drogensucht im Hinblick auf eine Unterbringung gemäß § 64 StGB notwendig war.

Mit Beschluss vom 11.06.2021 erteilte das LG Magdeburg – nach Stellungnahme der zuständigen Staatsanwaltschaft Magdeburg – den Auftrag zur Erstellung eines Gutachtens an den Sachverständigen Dr. med. pp.. Dieser teilte am 04.07.2021 mit, dass die ambulanten Untersuchungstermine nach Zuführung des in der Justizvollzugsanstalt Burg inhaftierten Angeklagten für den 21. und 22.09.2021 vorgesehen seien. Am 03.11.2021 fragte das Landgericht per E-Mail beim Gutachter an, wann mit dem Eingang des Gutachtens gerechnet werden könne. Am 22.11.2021 ging das Gutachten bei Gericht ein. Am 23.11.2021 bestimmte der Vorsitzende Termin zur Hauptverhandlung am 09.03.2022.

Mit Urteil vom 09.03.2022 hat das LG dann unter Verwerfung der Berufung des Angeklagten im Übrigen das erstinstanzliche Urteil im Rechtsfolgenausspruch abgeändert und den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Jahren verurteilt und mit Beschluss vom gleichen Tage die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet. Gegen diesen Beschluss richtet sich die Haftbeschwerde des Angeklagten, welche die Verletzung des Beschleunigungsgebotes in Haftsachen rügt. Das LG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Akten dem Senat zur Entscheidung vorgelegt. Gegen das Urteil des LG hat der Angeklagte fristgerecht Revision eingelegt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift an das OLG beantragt, auf die Haftbeschwerde des Angeklagten den Haftbefehl aufzuheben.

Und die Haftbeschwerde hat Erfolg. Man muss formulieren: „natürlich“, denn so geht es nicht. Und das, was die GStA in ihrer Zuschrift, auf die sich das OLG bezieht, ausführt, ist nichts Neues, sondern das konnte man schon häufg lesen in OLG-Beschlüssen, wenn es um Verzögerungen in Zusammenhang mit der Erstellung von Sachverständigengutachten ging. Daher reichen hier jetzt m.E. die Leitsätze zu der Entscheidung:

Bei der Einholung eines Gutachtens ist es zur gebotenen Beschleunigung des Verfahrens unerlässlich, auf zeitnahe Erstellung des Gutachtens hinzuwirken. Es sind deshalb mit dem Gutachter Absprachen darüber zu treffen, in welcher Frist ein Gutachten zu erstellen ist und gegebenenfalls zu prüfen, ob eine zeitnähere Gutachtenerstattung durch einen anderen Sachverständigen zu erreichen ist.

Vielleicht liest man das ja beim LG. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Haft II: Schwere der Taten für Wiederholungsgefahr, oder: Reichen Fahrraddiebstähle aus?

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Urheber Rüdiger Wölk

Die zweite Haftentscheidung kommt mit dem OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.03.2022 – 1 Ws 33/22 – zum Schweregrad der Anlasstaten bei Wiederholungsgefahr. Das ist ja auch ein Thema, das die Rechtsprechung immer wieder beschäftigt.

Es geht in dem Verfahren um einen auf Wiederholungsgefahr gestützten Haftbefehl. Gegen den Beschuldigten sind – verkürzt dargestellt – mehrere Ermittlungsverfahren anhängig. In allen geht es u.a. auch um Fahrraddiebstähle. Außerdem gibt es bereits Verurteilungen wegen Diebstahlstaten. Wegen der weiteren Einzelheiten verweise ich auf den Volltext.

AG und LG sind von Wiederholungsgefahr i.S. des § 112a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StPO aus. Das OLG hat auf die (weitere) Haftbeschwerde des Beschuldigten den Haftbefehl aufgehoben:

„Entgegen der Auffassung der Vorgerichte ist auch keine Wiederholungsgefahr im Sinne des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO gegeben.

Zwar ist der Beschuldigte der wiederholten Begehung des Diebstahls im besonders schweren Fall, §§ 242, 243 Abs. 1 Ziff. 2 StGB, und damit einer Katalogtat des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO dringend verdächtig. Insoweit braucht der Senat nicht zu entscheiden, ob bereits die den Gegenstand des Haftbefehls vom 05. Januar 2022 bildenden Taten hierfür genügen, obwohl hinsichtlich der Tat zu 5) im Wege der Wahlfeststellung auch eine Hehlerei im Sinne des § 259 StGB in Betracht kommt. Zur Begründung der Wiederholungsgefahr gemäß § 112a StPO können auch Taten herangezogen werden, die den Gegenstand eines anderen Ermittlungsverfahrens bilden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage, zu § 112a Rz. 8). Eine Wiederholung der Tat zu 1) des Haftbefehls bedeuten jedenfalls die zum Nachteil der Zeugen N… und D… am 02. Oktober 2021 und 19. Dezember 2021 begangenen Diebstahlshandlungen, derer der Beschuldigte aufgrund des bisherigen Ermittlungsergebnisses ebenfalls dringend verdächtig ist. Das Fahrrad der Zeugin D… ist anlässlich der Durchsuchungsmaßnahme in der Wohnung des Beschuldigten vorgefunden worden. Der Zeuge N… hat den Beschuldigten anlässlich einer Wahllichtbildvorlage wiedererkannt.

Auch zeigen die Ermittlungsergebnisse bestimmte Tatsachen auf, aus denen sich eine starke innere Neigung des Beschuldigten ergibt, Fahrraddiebstähle zu begehen. Hieraus begründet sich die Besorgnis, er werde die Serie gleichartiger Taten noch vor der Verurteilung wegen der dem Haftbefehl zugrunde liegenden Diebstahlsvorwürfe fortsetzen (vgl. hierzu Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., Rz. 14). Der bereits wegen Diebstahls vorbestrafte Beschuldigte ist auf der Grundlage bisheriger Ermittlungen Mitglied einer Organisation, die sich zur fortgesetzten Begehung von Fahrraddiebstählen zusammengeschlossen hat. Die Taten liegen nach Art einer Serie zeitnah beieinander.

Es fehlt indessen an der von § 112a StPO vorausgesetzten schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung durch die Anlasstat.

Da die in den Katalog des § 112a Abs. 1 S. 1 Ziff. 2 StPO aufgenommenen Straftaten schon generell schwerwiegender Natur sind, der Kreis der Delikte indessen durch das Merkmal der schwerwiegenden Beeinträchtigung der Rechtsordnung noch weiter eingeschränkt werden soll, können nur Taten überdurchschnittlichen Schweregrads als Anlasstaten eingestuft werden (OLG Hamm NStZ-RR 2015, 115, 116; OLG Frankfurt StV 2016, 816 f.; Graf in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Auflage, zu § 112a, Rz. 14a), also solche, die mindestens in der oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität liegen (OLG Braunschweig StV 2012, 352 f.; OLG Frankfurt a. a. O.). Ob dies der Fall ist, richtet sich insbesondere nach dem Unrechtsgehalt der Tat sowie nach Art und Umfang des angerichteten Schadens (Saarländisches OLG, Beschluss vom 16. Oktober 2018, 1 Ws 206/18, Rz. 17, Juris; OLG Hamm a. a. O.; OLG Karlsruhe StV 2017, 456 f.; OLG Frankfurt a. a. O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O., zu § 112a, Rz. 9). Dabei muss jede einzelne Tat nach ihrem konkreten Erscheinungsbild den erforderlichen Schweregrad aufweisen, eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung erst aus dem Gesamtunrecht aller Taten herzuleiten, ist nicht zulässig (Saarländisches OLG a. a. O.; OLG Frankfurt a. a. O.; Graf in Karlsruher Kommentar a. a. O.; Meyer-Goßner/Schmitt, a. a. O.).

Hieran gemessen, handelt es sich bei der Anlasstat vom 04. Januar 2022 nicht um eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat. Der Diebstahl mit Waffen, dessen der Beschuldigte dringend verdächtig ist, weist keinen überdurchschnittlichen Schweregrad auf, er ist lediglich der mittleren Kriminalität zuzuordnen. Die Art der Tatausführung, die Auswirkungen der Tat, die aus ihr sprechende Gesinnung, der bei ihr aufgewendete Wille und die Beweggründe und Ziele des Beschuldigten weisen keine über das durchschnittliche Erscheinungsbild hinausgehenden Besonderheiten auf. Insoweit ist insbesondere zu beachten, dass der Beschuldigte zwar ein Messer bei sich führte, es sich hierbei indessen nur um ein gewöhnliches Taschenmesser handelte, dessen Eignung zur Herbeiführung erheblicher Verletzungen nach Art seiner Verwendung im konkreten Fall noch aufzuklären sein wird (vgl. hierzu BGH StV 2002, 191; NStZ-RR 2003, 12; 2005, 340; OLG Braunschweig NJW 2002, 1735).

Auch aus den Tatfolgen lässt sich eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Rechtsordnung nicht herleiten. In Übereinstimmung mit der Auffassung der Beschwerdekammer des Landgerichts nimmt der Senat für Taten nach § 243 StGB eine Wertgrenze von 2.000,00 € an (vgl. Seite 7 der Entscheidung des Landgerichts m. w. N.). Diese Wertgrenze ist hinsichtlich der Taten, die Gegenstand des Haftbefehls vom 05. Januar 2022 sind – Fahrräder der Geschädigten P… und W… –, nicht erreicht. Bezogen auf das E-Bike des Zeugen N… geht die Kammer in der angefochtenen Entscheidung zu Unrecht vom Neupreis des Diebesguts aus, den sie mit 2.500,00 € beziffert. Das E-Bike war indessen zur Tatzeit nach Angaben des Geschädigten bereits zwei Jahre alt, sodass sein Wert sich erheblich reduziert haben und die genannte Grenze nicht mehr erreichen dürfte.

Bei zusammenfassender Würdigung der Umstände handelt es sich bei den Taten jeweils nicht um solche, die mindestens der oberen Hälfte der mittelschweren Kriminalität zuzuordnen sind, und damit nicht um solche, durch welche die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt wird.“

Haft I: Anforderungen an Haftentscheidungen, oder: OLG Brandenburg kennt „Begründungstiefe“ nicht

Ich habe längere Zeit nicht über Haftentscheidungen berichtet. Heute stehen mal wieder drei Postings zu Haftfragen an.

Ich beginne mit einer vefassungsgerichtlichen Entscheidung, und zwar mit dem VerfG Brandenbuug, Beschl. v. 18.02.2022 – VfGBbg 63/21. Er nimmt zu zwei Fragen Stellung.

Zunächst enthält der Beschluss Ausführungen des VerfG zum sog. Fortsetzungsgfeststellungsinteresse. Die waren erfordelrich, weil der Haftbefehl gegen den Angeklagten nicht mehr vollstreckt wird und der Angeklagte sich inzwischen in Strafhaft befindet. Insoweit reicht (mein) Leitsatz:

Ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer nachträglichen verfassungsrechtlichen Überprüfung und gegebenenfalls einer hierauf bezogenen Feststellung der Verfassungswidrigkeit durch das Verfassungsgericht kann im Falle eines schwerwiegenden Grundrechtseingriffs bestehen. Schwerwiegende, tatsächlich aber nicht mehr fortwirkende Grundrechtseingriffe kommen vor allem bei Anordnungen in Betracht, die die Verfassung vorbeugend dem Richter vorbehalten hat, wie z.B. Anordnungen einer Freiheitsentziehung

Im Übrigen nimmt das VerfG dann noch einmal zu den Anforderungen an die Begründung von Haftentscheidungen Stellung. Stichwort: Begründungstiefe, und zwar wie folgt:

„a) Der Beschluss des Brandenburgischen Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV.

aa) Art. 9 Abs. 1 LV gewährleistet inhaltsgleich mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG jedermann die Freiheit der Person und nimmt einen hohen Rang unter den Grundrechten ein (Beschluss vom 21. Februar 2014 – VfGBbg 35/13 -, m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Bei der Anordnung und Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft ist das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 9 Abs. 1 LV gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung zu beachten. Der Entzug der Freiheit eines der Straftat lediglich Verdächtigen ist wegen der Unschuldsvermutung nur ausnahmsweise zulässig. Dabei muss den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der Freiheitsanspruch des noch nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten als Korrektiv gegenübergestellt werden, wobei dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eine maßgebliche Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., und vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 52, www.bverfg.de).

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Er verlangt, dass die Dauer der Untersuchungshaft nicht außer Verhältnis zur erwarteten Strafe steht, und setzt ihr auch unabhängig von der Straferwartung Grenzen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 1. Dezember 2020 – 2 BvR 1853/20 -, Rn. 26, vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 55, vom 20. Oktober 2006 – 2 BvR 1742/06 -, Rn. 1-49, www.bverfg.de, und vom 3. Mai 1966 – 1 BvR 58/66 -, BVerfGE 20, 45-51, Rn. 14, juris). Das Gewicht des Freiheitsanspruchs vergrößert sich gegenüber dem Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung regelmäßig mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft. Daraus folgt, dass die Anforderungen an den die Haftfortdauer rechtfertigenden Grund mit der Dauer der Untersuchungshaft steigen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 3. Februar 2021 – 2 BvR 2128/20 -, Rn. 36 m. w. N., und vom 24. August 2010 – 2 BvR 1113/10 -, Rn. 20 m. w. N.). Im Rahmen der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch des Betroffenen und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit ist die Angemessenheit der Haftfortdauer anhand objektiver Kriterien des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 46 m. w. N., vom 23. Januar 2019 – 2 BvR 2429/18 -, Rn. 56, www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 37, juris).

Im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Rechts auf Freiheit der Person aus Art. 9 Abs. 1 LV ist zu berücksichtigen, dass der Grundrechtsschutz auch durch die Verfahrensgestaltung zu bewirken ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 – 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris). An Haftfortdauerentscheidungen sind erhöhte Begründungsanforderungen zu stellen. In der Regel sind in jedem Beschluss über die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft aktuelle Ausführungen zu dem weiteren Vorliegen ihrer Voraussetzungen, zur Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit sowie zur Frage der Verhältnismäßigkeit geboten, weil sich die dafür maßgeblichen Umstände angesichts des Zeitablaufs in ihrer Gewichtigkeit verschieben können. Die zugehörigen Ausführungen müssen in Inhalt und Umfang eine Überprüfung des Abwägungsergebnisses am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht nur für den Betroffenen selbst, sondern auch für das die Anordnung treffende Fachgericht im Rahmen einer Eigenkontrolle gewährleisten und in sich schlüssig und nachvollziehbar sein. Die fachgerichtlichen Ausführungen müssen hierzu die maßgeblichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls umfassend berücksichtigen und regelmäßig auch den gegen das Vorliegen eines Haftgrundes sprechenden Tatsachen Rechnung tragen, um die (Prognose-)Entscheidung des Gerichts auch intersubjektiv nachvollziehbar zu machen (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 9. März 2020 – 2 BvR 103/20 -, Rn. 65, vom 18. Februar 2020 – 2 BvR 2090/19 -, Rn. 54 m. w. N., www.bverfg.de, und vom 22. Januar 2014 – 2 BvR 2248/13 -, Rn. 38, juris).

bb) Daran gemessen weist der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 (1 Ws 100/21 [S]) die verfassungsrechtlich geforderte Begründungstiefe nicht auf. Die Ausführungen des Oberlandesgerichts lassen eine zutreffende Anschauung von Inhalt und Bedeutung des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 LV nicht erkennen.

Dies gilt zunächst im Hinblick auf die im Rahmen der Prüfung des Haftgrunds anzustellende Gesamtabwägung und die Darlegungen zur Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Haft.

Das Oberlandesgericht zeigt nicht auf, welche Kriterien und tatsächlichen Umstände es in die Gesamtabwägung eingestellt hat. Es ist nicht zu erkennen, dass die für und gegen eine Fluchtgefahr sprechenden Umstände hinreichend einbezogen worden sind. An einer erkennbaren Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer vorgetragenen, in der Person des Beschwerdeführers liegenden tatsächlichen Umständen, die gegen eine Fluchtgefahr sprechen können (u. a. Alter, Erstverbüßer, Verhalten im Strafverfahren, beanstandungsfreie Führung in der Untersuchungshaft), fehlt es insgesamt. Das Oberlandesgericht hat die Fluchtgefahr im Wesentlichen auf die sich aus dem Urteilsspruch ergebende Straferwartung und die stabilen Beziehungen des Beschwerdeführers in die Türkei gestützt.

Schließlich sind auch die Ausführungen des Oberlandesgerichts zu den Voraussetzungen des § 57 StGB unzureichend. Auch zu diesem Punkt erfolgen lediglich pauschale Ausführungen, während eine Analyse des konkreten Sachverhalts, vor allem der Umstände der Tatbegehung und der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, unter Berücksichtigung der zu § 57 StGB entwickelten Grundsätze unterbleibt. Zu würdigen ist die für den Fall einer (rechtskräftigen) Verurteilung konkret im Raum stehende Straferwartung und – unter Berücksichtigung einer etwaigen Aussetzung des Strafrests zur Bewährung gemäß § 57 StGB – das Ende einer zu verhängenden Freiheitsstrafe (vgl. Krauß, in: BeckOK StPO, Stand: 1. Oktober 2021, StPO § 112 Rn. 29). Auch aus diesem Grund kann nicht festgestellt werden, dass das Oberlandesgericht bei seiner Entscheidung den Inhalt und die Bedeutung des Freiheitsgrundrechts hinreichend beachtet hat.

Die Fortdauer der Untersuchungshaft erweise sich angesichts der Bedeutung der Sache und der im Falle einer rechtskräftig werdenden Verurteilung für den Beschwerdeführer zu erwartenden Freiheitsstrafe auch unter Berücksichtigung der bisherigen Verfahrensdauer seit der Inhaftierung als noch verhältnismäßig35Der formelhafte Satz zur Verhältnismäßigkeit der Haftfortdauer genügt nicht der verfassungsrechtlich gebotenen wertenden Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Beschuldigten und dem Strafverfolgungsinteresse des Staates. Die Entscheidung nimmt nicht die konkreten Nachteile und Gefahren des Freiheitsentzugs im Verhältnis zur Bedeutung der in Rede stehenden Strafsache sowie der zu erwartenden Straffolgen in den Blick.

Im Hinblick auf die Aussetzung des Vollzugs des Haftbefehls wegen weniger einschneidender Maßnahmen (§ 116 Abs. 1 StPO) wird die durch Art. 9 Abs. 1 LV gebotene Abwägung nicht ansatzweise vorgenommen. Das Oberlandesgericht beschränkt sich auf die formelhafte und pauschale Feststellung, dass bei der gegebenen Sachlage der Zweck der Untersuchungshaft auch durch mildere Maßnahmen gemäß § 116 Abs. 1 StPO nicht zu erreichen sei.

Es kann angesichts dessen nicht ausgeschlossen werden, dass das Oberlandesgericht bei einer den verfassungsrechtlichen Begründungsanforderungen genügenden Sachprüfung zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

b) Der Beschluss des Oberlandesgerichts vom 21. Juli 2021 verletzt aus den genannten Gründen auch den Anspruch auf rechtliches Gehör. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Die Nichtberücksichtigung des wesentlichen Kerns von Tatsachenvortrag zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, lässt auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert ist (vgl. Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 72/19 -, Rn. 36 f. m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Ein Eingehen auf die in dem Beschwerdebegründungsschriftsatz vom 14. Juli 2021 vorgebrachten zentralen Gesichtspunkte ist nicht zu erkennen.“

Mich wundert immer, dass die OLG es nicht auf dem Schirm haben, dass diese formelhaften Sätze nichts bringen und die Verfassungsgerichte das beanstanden. Das Ergebnis sind dann solche Entscheidungen wie die des VerfG Brandenburg.

Und: Kleine Kuriosität: Eine der Richterinnen, die an den OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.09.2021 – 2 Ws 108/21 (S) – beteiligt war, durch den die Anhörungsrüge des Angeklagten zurück gewiesen worden ist, ist auch Mitglied des VerfG Brandenburg. Sie war daher natürlich an der Mitwirkung  bei der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgeschlossen, (vgl. hier). Aber ist dann schon ein wenig peinlich, wenn man von dem Senat, dem man beim VerfG angehört, bescheinigt bekommt, dass es – um es gelinde auszudrücken – in der Instanz nicht richtig gelaufen ist.

StrEG I: Entschädigung für Untersuchungshaft?, oder: Fluchtversuch vor der Feststellung der Personalien

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Der Tag heute ist dann der Entschädigung nach dem StrEG gewidmet. Zu der Problematik haben sich in der letzten Zeit einige Entscheidungen angesammelt.

Hier zunächst der KG, Beschl. v. 07.05.2021 – 2 Ws 25/21 – zur Anwendung und den Voraussetzungen des § 5 Abs. 2 StrEG. Die Angeklagte ist frei gesprochen worden. Entschädigung für Untersuchungshaft hat das LG aber nicht gewährt, weil die ehemalige Angeklagte diese selbst „verursacht“ habe. Das KG schließt sich dem an:

§ 5 Abs. 2 Satz 1 StrEG enthält einen Ausnahmetatbestand. Bei der Beurteilung der Frage, ob der Beschuldigte Anlass zu der Strafverfolgungsmaßnahme gegeben hat, ist deshalb ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –). Es reicht daher nicht aus, dass sich der Freigesprochene irgendwie verdächtig gemacht hat und die gesamte – allein oder überwiegend aufgrund anderer Beweismittel bestehende – Verdachtslage die ergriffene Strafverfolgungsmaßnahme rechtfertigt (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris). Erforderlich ist vielmehr, dass er die Maßnahme durch die Tat selbst oder sein früheres oder nachfolgendes Verhalten ganz oder überwiegend verursacht hat (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450; KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 – und vom 9. März 1999 – 4 Ws 24/99 –, juris; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 7). Das Verhalten des Freigesprochenen ist nicht oder nicht mehr ursächlich, wenn die Maßnahme auch unabhängig von seinem Verhalten, welches sicher festzustellen ist (vgl. OLG Köln StraFo 2001, 146), angeordnet oder aufrechterhalten worden wäre (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255; OLG Oldenburg StraFo 2005, 384; KG StraFo 2009, 129) oder wenn sie allein oder im Wesentlichen auf anderen Beweisen beruht (vgl. Senat aaO mwN). Im Zweifelsfall ist zu seinen Gunsten zu entscheiden (vgl. KG StraFo 2009, 129; KG, Beschlüsse vom 18. April 2007 – 4 Ws 47/04 – und 20. Juni 2006 – 4 Ws 41/05 –).

Ob eine schuldhafte Verursachung vorliegt, ist ausschließlich nach zivilrechtlichen Zurechnungsgrundsätzen (§§ 254, 276, 277, 278 BGB) zu beurteilen (vgl. BGH bei Holtz MDR 1983, 450, 451; KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN). Dabei steht eine Verletzung der dem Geschädigten obliegenden Schadensminderungspflicht einer Mitverursachung gleich (vgl. KG StraFo 2009, 129). Der Freigesprochene hat die Ermittlungsmaßnahme dann zumindest grob fahrlässig verursacht, wenn er nach objektiven, abstrakten Maßstäben in ungewöhnlichem Maße die Sorgfalt außer Acht lässt, die ein verständiger Mensch in gleicher Lage aufwenden würde, um sich vor Schaden durch Strafverfolgungsmaßnahmen zu schützen (vgl. BGH StraFo 2010, 87; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 9), indem er schon einfachste, naheliegende Überlegungen anzustellen versäumt oder dasjenige nicht bedenkt, was im gegebenen Fall jedem einleuchten müsste, und so die Maßnahme „geradezu herausfordert“ (vgl. KG StraFo 2009, 129; Senat aaO mwN).

2. Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das Landgericht der Freigesprochenen eine Entschädigung für die vorläufige Festnahme und die erlittene Untersuchungshaft zu Recht versagt. Diese hat ihre vorläufige Festnahme sowie die Anordnung und den Vollzug der Untersuchungshaft grob fahrlässig verursacht.

Die Strafkammer hat im Urteil festgestellt (UA S.17), dass die Freigesprochene, ihren – deshalb verurteilten – Begleiter und Mitangeklagten V. am Abend des 11. Juli 2020, in der Nähe des U-Bahnhofs Gleisdreieck in Berlin aus geringer Entfernung dabei beobachtete, wie dieser dem Zeugen M. eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole an den Kopf hielt, um ihm zur Duldung der Wegnahme eines 50-Euro-Scheines zu veranlassen, den er ihm zugleich aus der Hosentasche zog. Danach sah sie zu, wie der Mitangeklagte diesen Geldschein an eine unbekannt gebliebene männliche Person weitergab. Kurze Zeit später war sie dabei, als der Mitangeklagte einen weiteren Mann kurz vor dem U-Bahnhof schlug und ihm einen unbekannt gebliebenen Gegenstand entwendete. Als eine Gruppe von Passanten darauf aufmerksam wurde und einzelne aus der Gruppe versuchten, den Mitangeklagten V. festzuhalten, stießen und zogen die Freigesprochene sowie der weitere Mitangeklagte M. diese von dem Mitangeklagten V. fort. Die Freigesprochene schlug zudem mit ihrer Tasche nach ihnen und schrie sie an.

Im Zuge der anschließenden vorläufigen Festnahme der Mitangeklagten auf dem        U-Bahnhof versuchte die Beschwerdeführerin, gegenüber den eingetroffenen Polizeibeamten den Tatverdacht gegen diese zu entkräften, indem sie wider besseres Wissen behauptete, insbesondere der Angeklagte V. hätte keine strafbaren Handlungen begangen. Zudem versuchte sie, – bevor ihre Personalien aufgenommen werden konnten – den Bahnhof zu verlassen, und konnte nur durch das Eingreifen eines Polizeibeamten im letzten Moment daran gehindert werden, mit einer gerade eingefahrenen U-Bahn zu entkommen. Erst daraufhin wurde auch sie vorläufig festgenommen.

a) Das Verhalten der Freigesprochenen war kausal für die Strafverfolgungsmaßnahmen. Die Beschwerdeführerin hat die freiheitsentziehenden Maßnahmen dadurch verursacht, dass sie durch ihr den Mitangeklagten V. abschirmendes Verhalten nicht nur den dringenden Verdacht einer Beteiligung an dessen Taten erzeugt, sondern durch ihren Fluchtversuch auch den Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) geschaffen hat.

b) Ein Beschuldigter kann die Anordnung von Untersuchungshaft nicht nur dadurch verursachen, dass er durch sein Verhalten maßgeblich zur Entstehung des dringenden Tatverdachts beiträgt, sondern auch dadurch, dass er in zurechenbarer Weise (vgl. KG, StraFo 2009, 129) einen wesentlichen Ursachenbeitrag zur Begründung eines Haftgrundes – auch eines weiteren Haftgrundes (vgl. OLG Frankfurt am Main NStZ-RR 1998, 341; KG Rpfleger 1999, 350; Senat, Beschluss vom 11. Januar 2012 – 2 Ws 351/11 –, juris) – leistet (vgl. OLG Karlsruhe NStZ-RR 2005, 255, 256; OLG Brandenburg, Beschluss vom 5. Dezember 2007 – 1 Ws 273/07 – juris; Senat aaO mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 63. Aufl., § 5 StrEG Rn. 11).

c) Die Annahme von Fluchtgefahr war aufgrund der Gesamtumstände zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme und des Haftbefehlserlasses naheliegend. Die Beschwerdeführerin wurde letztlich nur freigesprochen, weil die Strafkammer im Ergebnis der mehrtätigen Beweisaufnahme zu ihren Gunsten davon ausgehen musste, dass ihre den Haupttäter unterstützenden und abschirmenden Handlungen spontan und erst nach Beendigung der Haupttat sowie der bereits anderweitig erfolgten Beutesicherung einsetzten. Der aus der Straferwartung resultierende hohe Grad der Fluchtgefahr gebot auch den Vollzug der Untersuchungshaft.

d) Das für die freiheitsentziehenden Strafverfolgungsmaßnahmen ursächliche Verhalten der Beschwerdeführerin ist nach den eingangs dargelegten Maßstäben auch zweifellos als grob fahrlässig zu werten.“