Archiv für den Monat: Juli 2023

StPO III: Anhörung zur Fortdauer der Unterbringung, oder: Anhörung unter Einsatz von Videotechnik?

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Und zum Tagesschluss dann noch zwei Entscheidungen zum Verfahren in Zusammenhang mit der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung, u.a. in der Sicherungsverwahtung.

In beiden Entscheidungen haben die entscheidenden OLG zur Frage der Zulässigkeit der Anhörung des Untergebrachten mittels Einsatz von Videotechnik Stellung genommen. Sie sehen das grundsätzlich als unzulässig an, das OLG Hamm hat aber ein „Aber“.

Hier die beiden Entscheidungen mit den Leitsätzen:

Gemäß § 463e Abs. 1 Satz 3 StPO muss ein Sicherungsverwahrter grundsätzlich persönlich angehört werden, auch wenn dieser in den Einsatz von Videotechnik einwilligt. Ausnahmsweise ist eine Anhörung im Wege der Videokonferenz dann zulässig, wenn im Sinne bestmöglicher Sachaufklärung ausgeschlossen ist, dass durch eine Anhörung in persönlicher Anwesenheit bessere Erkenntnisse erzielt werden können, sich der Sicherungsverwahrte nicht lediglich erst während seiner Anhörung mit dem Einsatz der Videotechnik bereit erklärt, sondern der Einsatz der Videotechnik ohne Veranlassung des Gerichts auf einen von ihm selbst bereits vor dem Anhörungstermin geäußerten Wunsch zurückgeht und er sich im Rahmen des Anhörungstermins auch tatsächlich äußern kann.

Bei der Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist es gemäß § 463e Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 3 StPO unzulässig, die mündliche Anhörung des Sachverständigen im Wege der Bild- und Tonübertragung durch Zuschaltung zum Termin über Videokonferenztechnik durchzuführen.

StPO II: Vorläufige Sicherstellung eines Mobiltelefons, oder: Unbefugte Nutzung eines Bildes bei TikTok

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Im zweiten „StPO-Posting“ dann eine AG-Entscheidung, und zwar der AG Kiel, Beschl. v. 03.07.2023- 43 Gs 3660/23, der zu den Voraussetzungen einer vorläufigen Sicherstellung eines Mobiltelefons (in der Hauptverhandlung) und zum Anfangsverdacht einer Straftat nach § 201a Abs. 2 StGB Stellung nimmt.

Das AG hat die vorläufige Sicherstellung des Mobiltelefons des Beschuldigten zum Zwecke der weiteren Durchsicht entsprechend §§ 110 Abs. 3 Satz 2, 94, 98 Abs. 2 StPO aufgehoben:

„Der vom Verteidiger des Beschuldigten unter dem 29.06.2023 Antrag auf ermittlungsrichterliche Entscheidung über die vorläufige Sicherstellung des am 05.06.2023 im Rahmen einer Hauptverhandlung durch die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel sichergestellten Mobiltelefons ist in entsprechender Anwendung des § 98 Abs. 2 StPO zulässig (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Mai 2017 – 2 BvQ 27/17, juris; vom 28. April 2003 – 2 BvR 358/03, NJW 2003, 2669, 2671; vom 30. Januar 2002 – 2 BvR 2248/00, NJW 2002, 1410, 1411; vom 29. Januar 2002 – 2 BvR 94/01, NStZ-RR 2002, 144, 145; Meyer-Goßner/Schmitt/Köhler, StPO, 64. Aufl., § 98 Rn. 23; § 110 Rn. 10). Somit ist eine gerichtliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der vorläufigen Sicherstellung zur Durchsicht geboten. Eine unmittelbare Anwendung des § 98 Abs. 2 StPO kommt nicht in Betracht, da eine Durchsicht im Sinne des § 110 StPO, der auch für elektronische Datenträger und Datenspeicher gilt, noch nicht erfolgt ist und die Mitnahme zur Durchsicht erst der Ermittlung möglicher Beweisgegenstände dient und damit noch keine Beschlagnahme ist (Meyer-Goßner, Kommentar zur Strafprozessordnung, 56. Aufl., § 110 StPO, Rn. 1, 2). Das Erfordernis für eine entsprechende Anwendung des § 98 Abs. 2 StPO ergibt sich aus dem Umstand, dass die vorläufige Sicherstellung zur Durchsicht eine der späteren Beschlagnahme vergleichbare Beschwer entfaltet und der der vorläufigen Sicherstellung Widersprechende daher ein vergleichbares Bedürfnis an einer richterlichen Überprüfung hat (Meyer-Goßner, Kommentar zur Strafprozessordnung, 56. Aufl., § 110, Rn. 10).

Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Sicherstellung ist, wie bei der Beschlagnahme, das Vorliegen jedenfalls der Anfangsverdachts einer Straftat und die naheliegende Vermutung, dass sich auf dem Mobiltelefon Daten finden lassen, die für das weitere Verfahren als Beweismittel in Betracht kommen können.

Vorliegend fehlt es indes nach den bisherigen Ermittlungen aus Rechtsgründen am Anfangsverdacht einer durch den Beschuldigten begangenen Straftat.

Nach den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel geht diese derzeit davon aus, dass der Beschuldigte in einem Livegespräch, welches er mit einem unbekannten vor dem 13.02.2023 über die Plattform „TikTok“ geführt hat, ein Bild des Geschädigten zeigte. Bei dem Bild handelt es sich um eine von dem Geschädigten von sich selbst gefertigte Aufnahme (sog. „Selfie“). Auf diesem Bild ist das Gesicht des Geschädigten mit deutlichen Verletzungen zu sehen. Diese Verletzungen soll der Beschuldigte dem Geschädigten beigefügt haben. In dem Videochat soll sich der Beschuldigte mit der Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten gebrüstet haben. Wie das von dem Geschädigten selbst hergestellte Bild in den Besitz des Beschuldigten gekommen ist, ist bislang nicht ermittelt.

Dieser Sachverhalt rechtfertigt nicht den Anfangsverdacht einer Straftat insbesondere auch nicht einer solchen nach § 201a Abs. 2 StGB. Danach wird bestraft, wer unbefugt von einer anderen Person eine Bildaufnahme, die geeignet ist, dem Ansehen der abgebildeten Person erheblich zu schaden, einer dritten Person zugänglich macht.

Unabhängig von der Frage, ob vorliegend von einer vorsätzlich unbefugten Nutzung des von dem Geschädigten selbst hergestellten Bildes, das dieser selbst auf bislang unbekannte Weise unbekannten Dritten weitergegeben haben muss, ausgegangen werden kann, woran beispielsweise dann Zweifel bestehen dürften, wenn etwa der Geschädigte selbst das Bild in den sozialen Medien frei zugänglich eingestellt hätte, fehlt es an der Eignung, dem Ansehen des Geschädigten erheblich zu schaden. Denn dazu muss die Bildaufnahme geeignet sein, das Opfer verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen, wobei sich die ansehensschädigende Eignung jedenfalls schon nach dem Wortlaut des Absatzes 2 Satz 1 aus der Bildaufnahme selbst und nicht etwa lediglich aus den Umständen des Zugänglichmachens der Aufnahme ergeben muss. Der Umstand, dass sich der Beschuldigte im Zuge des TikTok-Chats damit gebrüstet haben soll, dass er dem Geschädigten die Verletzungen zugefügt hat, sind mithin für die Einordnung des Bildes nach § 201a Abs. 2 StGB unbeachtlich. Darüber hinaus fehlt nach allgemein gesellschaftlicher Bewertung einer Bildaufnahme von Verletzungen, die ein Opfer einer Straftat schuldlos erlitten hat in der Regel die Eignung dazu, das Opfer der Straftat verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass solchen Aufnahmen Bestürzung und ggf, Mitleid auslösen, die indes gerade nicht das Ansehen des Opfers herabsetzen.

Auf die Frage, ob darüber hinaus eine naheliegende Vermutung besteht, das auf dem Mobiltelefon für das vorliegende Verfahren relevante Beweismittel gefunden werden können, kommt es nicht mehr an. Es erscheint aber zweifelhaft, da es aus den dargelegten Gründen auf den Kontext der Bildweitergabe gerade nicht ankommt und der möglicherweise noch vorhandene Chat insoweit nicht relevant ist.“

StPO I: Die Unzulässigkeit einer Durchsuchung, oder: Keine Frage nach der Funktion des Nachtbriefkastens?

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Heute stelle ich drei Entscheidungen in Zusammenhang mit (Zwangs)Maßnahmen im Strafverfahren vor, also StPO.

Ich beginne mit „ganz oben“, also mit dem BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 19.04.2023 – 2 BvR 1844/21 – mal wieder zur Zulässigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme geäußert bzw. äußern müssen.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Beschuldigten angestrengten Ermittlungsverfahrens war der Vorwurf der falschen Versicherung an Eides statt. Der Beschuldigte hatte vor dem AG Passau – Familiengericht – eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt, deren Wirksamkeit bis zum 06.01.2021 befristet war. In der Nacht vom 06. auf den 07.01.2021 warf der Beschuldigte seinen schriftlichen Antrag auf Verlängerung der Gewaltschutzanordnung in den Nachtbriefkasten des AG. Dieser wurde am folgenden Tag geleert. Da die Antragsschrift in das Fach gefallen war, in das alle nach 24:00 Uhr eingeworfenen Schreiben gelangten, erhielt der Schriftsatz den Eingangsstempel des 07.01.2021. Das AG wies den Beschuldigten in der Folge darauf hin, dass sein Antrag verspätet, da nach Ablauf der Gewaltschutzanordnung, bei Gericht eingegangen sei.

Der Beschuldigte legte daraufhin eine Videodatei vor, von der er erklärte, sie zeige ihn beim Einwurf des Schreibens in den Nachtbriefkasten. Im Hintergrund sei das Radio seines Wagens zu hören. Ein Abgleich mit dem Programm des Senders ergebe, ebenso wie der Zeitstempel des Videos, dass er sein Schreiben am 06.01.2021, um 21:21 Uhr, in den Briefkasten eingeworfen habe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht gab der Beschuldigte eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er erklärte, er habe die Antragsschrift am 06.01.2021, vor 24:00 Uhr, in den Nachtbriefkasten des AG eingeworfen.

Das AG wies den Antrag mit Beschluss vom 11.03.2021 ab. Er sei verspätet eingegangen. Dies zeige der Eingangsstempel der Poststelle. Die eidesstattliche Versicherung und das von dem Beschuldigten vorgelegte Video könnten diesen nicht widerlegen. Der Beschuldigte habe offenbar versucht, Beweise zur Verschleierung des Eingangszeitpunktes herzustellen.

Der Antragsgegner in dem Verfahren vor dem Familiengericht erhob Strafanzeige gegen den Beschuldigten wegen falscher Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB). Die Staatsanwaltschaft Passau kontaktierte am 15.03.2021 die Wachtmeisterei des AG. Telefonisch teilte diese mit, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Nachtbriefkasten nicht einwandfrei gearbeitet haben könnte. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG Passau am 16.04.2021 zwei Durchsuchungsbeschlüsse. Angeordnet wurde zum einen die Durchsuchung des Elternhauses und – nach dessen Angaben – der Hauptwohnung des Beschuldigten, zum anderen der von ihm in jedem Fall tatsächlich bewohnten Nebenwohnung in Passau. Nur der letztgenannte Beschluss ist Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das LG hat die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss als unbegründet verworfen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte (teilweise) Erfolg:

„3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Die im Tenor genannten fachgerichtlichen Entscheidungen verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).

a) Art. 13 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Der Schutzbereich, auch in persönlicher Hinsicht, ist vorliegend eröffnet.

Der hier angegriffene Beschluss des Amtsgerichts (Gs 909/21) bezieht sich nicht auf das Elternhaus des Beschwerdeführers, hinsichtlich dessen zweifelhaft ist, ob es sich tatsächlich um die Wohnung des Beschwerdeführers handelt, sondern auf die Wohnung des Beschwerdeführers in Passau, die dieser ohne Zweifel bewohnte. Ein weiterer Durchsuchungsbeschluss (Gs 910/21), der sich auf das Elternhaus des Beschwerdeführers bezieht, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

b) In die durch Art. 13 1 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG wird nicht schrankenlos gewährleistet. Art. 13 Abs. 2 GG ermöglicht Durchsuchungen der Wohnung, wenn dies gesetzlich zugelassen ist und von dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch im Gesetz bestimmte andere Organe angeordnet wurde. Im Strafprozess gestattet § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung bei dem Beschuldigten. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Rechtsgrundlage liegen aber in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht vor.

(1) Ein Ermittlungsmaßnahmen rechtfertigender Anfangsverdacht lag dabei noch vor. Es bestanden auf konkreten Tatsachen beruhende Anhaltspunkte (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>; BVerfGK 2, 290 <295>; 5, 84 <88>) für die Begehung einer Straftat. Es sind diesbezüglich keine Fehler erkennbar, die auf objektive Willkür oder auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung des Grundrechts des Beschwerdeführers schließen lassen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>; 95, 96 <128>; 115, 166 <199>; BVerfGK 5, 25 <30 f.>). Der Beschwerdeführer gab eine eidesstattliche Versicherung ab, die dem Eingangsstempel des Familiengerichts inhaltlich widersprach und das Familiengericht sah diese als unglaubhaft an. Diese Umstände tragen den weitere Ermittlungen rechtfertigenden Anfangsverdacht, es sei eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben worden.

(2) Auch ist anzunehmen, dass eine Durchsuchung grundsätzlich geeignet war, Beweismittel zu finden. Die nach der Lebenserfahrung begründete Vermutung, bei dem Beschuldigten könnten die gesuchten Beweisgegenstände grundsätzlich aufzufinden sein (vgl. BVerfGK 1, 126 <132>; 15, 225 <241>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, Rn. 13), wurde vorliegend nicht entkräftet. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer ab einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von den Ermittlungen und angedeutet hatte, er werde sich eventueller Beweismittel entledigen, erschüttert diese Vermutung nicht. Es handelte sich vorliegend erkennbar um eine Schutzbehauptung, die der Beschwerdeführer in den Raum stellte, um sich weiteren Ermittlungsmaßnahmen zu entziehen.

(3) Die Anordnung der Durchsuchung war aber unverhältnismäßig, denn sie war nicht erforderlich. Mildere Ermittlungsmaßnahmen, die den Verdacht wohl auch zerstreut hätten, drängten sich geradezu auf und wurden unterlassen.

(a) Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 25). Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende, grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts steht (BVerfGK 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2018 – 2 BvR 2993/14 -, juris, Rn. 25).

(b) Aufgrund der Besonderheiten des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts standen den Ermittlungsbehörden zwei sehr naheliegende, grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die sich vor einer Durchsuchung durchzuführen aufgedrängt hätten.

(aa) Naheliegend und jedenfalls grundrechtsschonender wäre es vorliegend gewesen, zunächst nicht nur das störungsfreie Funktionieren, sondern auch die exakte Handhabung des Nachtbriefkastens und die Besetzung der Wachtmeisterei durch Befragung der Leitung und des diensthabenden Personals der Wachtmeisterei zu erhellen. Diese Befragung hätte ergeben, dass die Wachtmeisterei am 6. Januar 2021 nicht besetzt gewesen war und dass – im Ergebnis – der Nachtbriefkasten keinen Aufschluss darüber geben konnte, ob ein Schreiben am 6. Januar 2021 oder am 7. Januar 2021 einging. Dies ist in der Regel wegen § 193 BGB beziehungsweise § 222 Abs. 2 ZPO unerheblich, da Fristen üblicherweise nicht an Feiertagen enden. Der vorliegende Fall weist aber die Besonderheit auf, dass das Familiengericht der Auffassung war, dass die einzuhaltende Frist ausnahmsweise an einem Feiertag, 24:00 Uhr, endete. Diese Besonderheit drängt sich vorliegend auf und hätte die Ermittlungsbehörden dazu auffordern müssen, die Besetzung der Wachtmeisterei und die Handhabung des Nachtbriefkastens genau nachzuvollziehen.

(bb) Daneben hätte es sich aufgedrängt, zunächst einmal die von dem Beschwerdeführer dem Familiengericht vorgelegte Videodatei darauf zu überprüfen, ob Hinweise für eine Manipulation vorlagen. Die Datei war bereits aktenkundig. Eine Analyse wäre ohne großen Zeitverlust möglich gewesen. Die Auswertung hätte die Ermittlungen nicht in den Ermittlungszweck gefährdender Weise verzögert. Hätte sich bei der Analyse ergeben, dass, um eine sichere Aussage zu treffen, auch die Aufnahmegeräte hätten ausgelesen werden müssen, so wäre eine Durchsuchung immer noch möglich gewesen.“

Lösung zu: Ich habe da mal eine Frage: Wie ist das mit dem EuGH und der Belehrung des Mandanten?

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Und hier dann meine Antwort auf die Frage vom vergangegen Freitag: Ich habe da mal eine Frage: Wie ist das mit dem EuGH und der Belehrung des Mandanten?.

Sie lautete:

„Moin,

sorry, hat etwas gedauert.

M.E. sollte der EuGH-Rechtsprechung doch mit der Verpflichtung (!) zur monatlichen Abrechnung Genüge getan sein. Was sollen Sie den noch mehr tun. Das ist m.E. doch transparenter als eine Schätzung bei Vertragsschluss.

Zudem: Das Übrige ist BGB 🙂 , das kann ich nicht (mehr). Aber: Ich würde die RV schon an ihrer Deckungszusage festhalten wollen. Warum soll insoweit auf einmal keine Bindung mehr bestehen. Die Höhe der vereinbarten Vergütung war doch bekannt. Das hat doch jetzt nichts mit der Rechtsprechung des EuGH zu tun. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher, ob die Rechtsprechung nicht auf den Freistellungsanspruch „durchschlägt“.“

Corona II: Vorlage eines gefälschten Impfpasses, oder: Was ist für „Urkundenfälschung“ festzustellen?

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In der zweiten Entscheidung, dem  BayObLG, Beschl. v.  31.05.2023 – 207 StRR 294/22 – geht es nicht um eine materiellen Frage, sondern um die Frage nach dem erforderlichen Umfang der tatsächlichen Feststellungen.

Das AG hat den Angeklagten wegen Urkundenfälschung („Gebrauchen einer unechten Urkunde“) verurteilt Nach den dort getroffenen Feststellungen habe der Angeklagte am 26.10.2021 in einer Apotheke einen, wie er wusste, manipulierten Impfpass vorgelegt, aus welchem hervorging, dass er vollständig gegen das SARS-COV2-Virus geimpft sei. Tatsächlich sei der Angeklagte, wie er wusste, nicht mit den angegebenen Impfstoffen geimpft gewesen. Durch die Vorlage habe er ein digitales Impfzertifikat erhalten wollen. In den Urteilsgründen ist weiter ausgeführt, dass der Impfpass mit enthaltenem Stempel der Arztpraxis und Unterschrift zusammen mit den eingeklebten C.-Aufklebern eine unechte (zusammengesetzte) Urkunde darstelle, die der Angeklagte durch deren Vorlage in der Apotheke auch gebraucht habe.

Gegen die Verurteilung hat der Angeklagte (Sprung-)Revision eingelegt, u. a. mit dem Ziel des Freispruchs. Das BayObLG hat wegen nicht ausreichender Feststellungen aufgehoben:

„1. Das zulässige Rechtsmittel hat einen mindestens vorläufigen Erfolg, weil die getroffenen Feststellungen eine Verurteilung des Angeklagten wegen Urkundenfälschung nach § 267 StGB entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft nicht tragen (§ 349 Abs. 4 StPO).

a) Zwar wurde die Anwendung des 267 StGB zur Tatzeit nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht durch §§ 277, 279 StGB a. F. gesperrt (BGH, Urteil vom 10.11.2022, 5 StR 283/22, BeckRS 2022, 31209, dort Rdn. 34 ff.).

b) Das Urteil leidet jedoch an durchgreifenden Darstellungsmängeln, weil die Feststellungen des Amtsgerichts lückenhaft und unklar sind und damit dem Senat bereits nicht die revisionsgerichtliche Überprüfung ermöglichen, ob der Angeklagte – wie vom Amtsgericht angenommen – den Tatbestand der Urkundenfälschung in der Tatmodalität des Gebrauchmachens von einer unechten oder verfälschten Urkunde i.S.v. 267 Abs. 1 3. Alt. StGB erfüllt hat (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt BayObLG, Beschluss vom 22.07.2022, 202 StRR 71/22, zitiert nach juris, m. w. N.).

aa) Nach 267 Abs. 1 Satz 1 StPO müssen die Urteilsgründe die für erwiesen erachteten Tatsachen, also das Tatgeschehen, mitteilen, in dem die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden. Dies muss in einer geschlossenen Darstellung aller äußeren und jeweils im Zusammenhang damit auch der dazugehörigen inneren Tatsachen in so vollständiger Weise geschehen, dass in den konkret angeführten Tatsachen der gesetzliche Tatbestand erkannt werden kann; denn nur dann kann das Revisionsgericht auf die Sachrüge prüfen, ob bei der rechtlichen Würdigung eine Rechtsnorm nicht oder nicht richtig angewendet worden ist (ständige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, vgl. zuletzt etwa BGH, Beschluss vom 08.03.2022, 1 StR 483/21, zitiert nach juris, dort Rdn. 6).

bb) Die Urteilsfeststellungen des Amtsgerichts belegen bereits nicht, ob es sich bei dem gegenständlichen Impfpass überhaupt um eine Urkunde im Sinne des 267 Abs. 1 StGB handelte. Eine Urkunde setzt das Vorhandensein einer verkörperten Gedankenerklärung voraus, die zum Beweis bestimmt und geeignet ist und einen Aussteller erkennen lässt (vgl. Fischer, StGB, 70. Aufl., § 267 Rdn. 3 m. w. N.). Keines dieser Merkmale kann den Urteilsgründen zuverlässig entnommen werden. Der Impfpass und die Eintragungen darin werden anlässlich der Feststellung des strafbaren Sachverhalts überhaupt nicht und auch später nur unzureichend beschrieben. Das tatrichterliche Urteil stellt nicht fest, welchen Inhalt die offenbar in den Impfausweis eingeklebten Impfnachweise im Einzelnen hatten und wer im Zusammenhang mit der angeblichen Impfung der Aussteller der Impfbescheinigung ist.

cc) Es kann nach diesen Feststellungen auch nicht beurteilt werden, ob der Angeklagte mit der Vorlage des Impfpasses von einer unechten oder verfälschten Urkunde Gebrauch gemacht hat.

Unecht ist eine Urkunde dann, wenn sie nicht von demjenigen stammt, der in ihr als Aussteller bezeichnet ist. Entscheidendes Kriterium für die Unechtheit ist die Identitätstäuschung: Über die Person des wirklichen Ausstellers wird ein Irrtum erregt; der rechtsgeschäftliche Verkehr wird auf einen Aussteller hingewiesen, der in Wirklichkeit nicht hinter der in der Urkunde verkörperten Erklärung steht. Nicht tatbestandsmäßig ist dagegen die Namenstäuschung, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der Aussteller nur über seinen Namen täuscht, nicht aber über seine Identität (BGH, Beschluss vom 19.11.2020, 2 StR 358/20, zitiert nach juris, dort Rdn. 18). Nachdem das Amtsgericht aber schon nicht mitteilt, wer nach den Eintragungen im Impfpass der Aussteller ist, unterbleiben auch die gebotenen Feststellungen dazu, ob nicht gegebenenfalls die Urkunde von dem Aussteller, sollte ein solcher ersichtlich sein, tatsächlich erstellt wurde. Eine Beweiswürdigung zu dieser für die rechtliche Einstufung der Urkunde als unecht maßgeblichen Frage findet schon gar nicht statt. Denn sollte ein aus dem Impfpass ersichtlicher Aussteller die Eintragung vorgenommen haben, würde es sich um eine echte Urkunde handeln, deren Gebrauch nicht nach § 267 Abs. 1 3. Alt. StGB strafbar wäre. Auch ist auf dieser Grundlage nicht ausgeschlossen, dass nur eine (nicht strafbare) „schriftliche Lüge“ vorliegt (vgl. zu solchen Konstellationen Senat, Beschluss vom 22.05.2023, 207 StRR 239/22).

Den Ausführungen des Amtsgerichts kann schließlich auch nicht sicher entnommen werden, ob eine unechte Urkunde vorlag oder es sich um eine Verfälschung einer ursprünglich echten Urkunde handelte. Eine Verfälschung liegt in der inhaltlichen Veränderung der gedanklichen Erklärung einer ursprünglich echten Urkunde (vgl. BGH, Beschluss vom 21.09.1999, 4 StR 71/99, zitiert nach juris, dort Rdn. 19), was nur dann der Fall sein kann, wenn die Urkunde von dem aus ihr hervorgehenden Aussteller stammte; eine solche käme etwa in Betracht, wenn in einen „echten“ Impfpass zusätzliche Impfungen eingetragen werden.“