StPO I: Die Unzulässigkeit einer Durchsuchung, oder: Keine Frage nach der Funktion des Nachtbriefkastens?

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Heute stelle ich drei Entscheidungen in Zusammenhang mit (Zwangs)Maßnahmen im Strafverfahren vor, also StPO.

Ich beginne mit „ganz oben“, also mit dem BVerfG. Das hat sich im BVerfG, Beschl. v. 19.04.2023 – 2 BvR 1844/21 – mal wieder zur Zulässigkeit einer Durchsuchungsmaßnahme geäußert bzw. äußern müssen.

Ergangen ist der Beschluss in einem gegen den Beschuldigten angestrengten Ermittlungsverfahrens war der Vorwurf der falschen Versicherung an Eides statt. Der Beschuldigte hatte vor dem AG Passau – Familiengericht – eine Anordnung nach dem Gewaltschutzgesetz erwirkt, deren Wirksamkeit bis zum 06.01.2021 befristet war. In der Nacht vom 06. auf den 07.01.2021 warf der Beschuldigte seinen schriftlichen Antrag auf Verlängerung der Gewaltschutzanordnung in den Nachtbriefkasten des AG. Dieser wurde am folgenden Tag geleert. Da die Antragsschrift in das Fach gefallen war, in das alle nach 24:00 Uhr eingeworfenen Schreiben gelangten, erhielt der Schriftsatz den Eingangsstempel des 07.01.2021. Das AG wies den Beschuldigten in der Folge darauf hin, dass sein Antrag verspätet, da nach Ablauf der Gewaltschutzanordnung, bei Gericht eingegangen sei.

Der Beschuldigte legte daraufhin eine Videodatei vor, von der er erklärte, sie zeige ihn beim Einwurf des Schreibens in den Nachtbriefkasten. Im Hintergrund sei das Radio seines Wagens zu hören. Ein Abgleich mit dem Programm des Senders ergebe, ebenso wie der Zeitstempel des Videos, dass er sein Schreiben am 06.01.2021, um 21:21 Uhr, in den Briefkasten eingeworfen habe.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Familiengericht gab der Beschuldigte eine eidesstattliche Versicherung ab, in der er erklärte, er habe die Antragsschrift am 06.01.2021, vor 24:00 Uhr, in den Nachtbriefkasten des AG eingeworfen.

Das AG wies den Antrag mit Beschluss vom 11.03.2021 ab. Er sei verspätet eingegangen. Dies zeige der Eingangsstempel der Poststelle. Die eidesstattliche Versicherung und das von dem Beschuldigten vorgelegte Video könnten diesen nicht widerlegen. Der Beschuldigte habe offenbar versucht, Beweise zur Verschleierung des Eingangszeitpunktes herzustellen.

Der Antragsgegner in dem Verfahren vor dem Familiengericht erhob Strafanzeige gegen den Beschuldigten wegen falscher Versicherung an Eides statt (§ 156 StGB). Die Staatsanwaltschaft Passau kontaktierte am 15.03.2021 die Wachtmeisterei des AG. Telefonisch teilte diese mit, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Nachtbriefkasten nicht einwandfrei gearbeitet haben könnte. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das AG Passau am 16.04.2021 zwei Durchsuchungsbeschlüsse. Angeordnet wurde zum einen die Durchsuchung des Elternhauses und – nach dessen Angaben – der Hauptwohnung des Beschuldigten, zum anderen der von ihm in jedem Fall tatsächlich bewohnten Nebenwohnung in Passau. Nur der letztgenannte Beschluss ist Gegenstand dieses Verfassungsbeschwerdeverfahrens. Das LG hat die Beschwerde gegen den Durchsuchungsbeschluss als unbegründet verworfen.

Die Verfassungsbeschwerde hatte (teilweise) Erfolg:

„3. Soweit die Verfassungsbeschwerde zulässig ist, ist sie offensichtlich begründet. Die im Tenor genannten fachgerichtlichen Entscheidungen verletzten das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).

a) Art. 13 1 GG garantiert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Der Schutzbereich, auch in persönlicher Hinsicht, ist vorliegend eröffnet.

Der hier angegriffene Beschluss des Amtsgerichts (Gs 909/21) bezieht sich nicht auf das Elternhaus des Beschwerdeführers, hinsichtlich dessen zweifelhaft ist, ob es sich tatsächlich um die Wohnung des Beschwerdeführers handelt, sondern auf die Wohnung des Beschwerdeführers in Passau, die dieser ohne Zweifel bewohnte. Ein weiterer Durchsuchungsbeschluss (Gs 910/21), der sich auf das Elternhaus des Beschwerdeführers bezieht, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens.

b) In die durch Art. 13 1 GG grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre greift eine Durchsuchung schwerwiegend ein (vgl. BVerfGE 42, 212 <219>; 96, 27 <40>; 103, 142 <150 f.>). Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG wird nicht schrankenlos gewährleistet. Art. 13 Abs. 2 GG ermöglicht Durchsuchungen der Wohnung, wenn dies gesetzlich zugelassen ist und von dem Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch im Gesetz bestimmte andere Organe angeordnet wurde. Im Strafprozess gestattet § 102 StPO die Durchsuchung der Wohnung bei dem Beschuldigten. Die Voraussetzungen dieser gesetzlichen Rechtsgrundlage liegen aber in einer Verfassungsrecht verletzenden Weise nicht vor.

(1) Ein Ermittlungsmaßnahmen rechtfertigender Anfangsverdacht lag dabei noch vor. Es bestanden auf konkreten Tatsachen beruhende Anhaltspunkte (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>; BVerfGK 2, 290 <295>; 5, 84 <88>) für die Begehung einer Straftat. Es sind diesbezüglich keine Fehler erkennbar, die auf objektive Willkür oder auf eine grundsätzlich unrichtige Anschauung des Grundrechts des Beschwerdeführers schließen lassen (vgl. BVerfGE 18, 85 <92 ff.>; 95, 96 <128>; 115, 166 <199>; BVerfGK 5, 25 <30 f.>). Der Beschwerdeführer gab eine eidesstattliche Versicherung ab, die dem Eingangsstempel des Familiengerichts inhaltlich widersprach und das Familiengericht sah diese als unglaubhaft an. Diese Umstände tragen den weitere Ermittlungen rechtfertigenden Anfangsverdacht, es sei eine falsche eidesstattliche Versicherung abgegeben worden.

(2) Auch ist anzunehmen, dass eine Durchsuchung grundsätzlich geeignet war, Beweismittel zu finden. Die nach der Lebenserfahrung begründete Vermutung, bei dem Beschuldigten könnten die gesuchten Beweisgegenstände grundsätzlich aufzufinden sein (vgl. BVerfGK 1, 126 <132>; 15, 225 <241>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 11. Januar 2016 – 2 BvR 1361/13 -, Rn. 13), wurde vorliegend nicht entkräftet. Allein der Umstand, dass der Beschwerdeführer ab einem bestimmten Zeitpunkt Kenntnis von den Ermittlungen und angedeutet hatte, er werde sich eventueller Beweismittel entledigen, erschüttert diese Vermutung nicht. Es handelte sich vorliegend erkennbar um eine Schutzbehauptung, die der Beschwerdeführer in den Raum stellte, um sich weiteren Ermittlungsmaßnahmen zu entziehen.

(3) Die Anordnung der Durchsuchung war aber unverhältnismäßig, denn sie war nicht erforderlich. Mildere Ermittlungsmaßnahmen, die den Verdacht wohl auch zerstreut hätten, drängten sich geradezu auf und wurden unterlassen.

(a) Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss mit Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf die verfahrenserheblichen Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 – 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 25). Dabei ist es grundsätzlich Sache der ermittelnden Behörden, über die Zweckmäßigkeit und die Reihenfolge vorzunehmender Ermittlungshandlungen zu befinden. Ein Grundrechtseingriff ist aber jedenfalls dann unverhältnismäßig, wenn naheliegende, grundrechtsschonende Ermittlungsmaßnahmen ohne greifbare Gründe unterbleiben oder zurückgestellt werden und die vorgenommene Maßnahme außer Verhältnis zur Stärke des in diesem Verfahrensabschnitt vorliegenden Tatverdachts steht (BVerfGK 11, 88 <92>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Januar 2018 – 2 BvR 2993/14 -, juris, Rn. 25).

(b) Aufgrund der Besonderheiten des hier zur Entscheidung stehenden Sachverhalts standen den Ermittlungsbehörden zwei sehr naheliegende, grundrechtsschonendere Ermittlungsmaßnahmen zur Verfügung, die sich vor einer Durchsuchung durchzuführen aufgedrängt hätten.

(aa) Naheliegend und jedenfalls grundrechtsschonender wäre es vorliegend gewesen, zunächst nicht nur das störungsfreie Funktionieren, sondern auch die exakte Handhabung des Nachtbriefkastens und die Besetzung der Wachtmeisterei durch Befragung der Leitung und des diensthabenden Personals der Wachtmeisterei zu erhellen. Diese Befragung hätte ergeben, dass die Wachtmeisterei am 6. Januar 2021 nicht besetzt gewesen war und dass – im Ergebnis – der Nachtbriefkasten keinen Aufschluss darüber geben konnte, ob ein Schreiben am 6. Januar 2021 oder am 7. Januar 2021 einging. Dies ist in der Regel wegen § 193 BGB beziehungsweise § 222 Abs. 2 ZPO unerheblich, da Fristen üblicherweise nicht an Feiertagen enden. Der vorliegende Fall weist aber die Besonderheit auf, dass das Familiengericht der Auffassung war, dass die einzuhaltende Frist ausnahmsweise an einem Feiertag, 24:00 Uhr, endete. Diese Besonderheit drängt sich vorliegend auf und hätte die Ermittlungsbehörden dazu auffordern müssen, die Besetzung der Wachtmeisterei und die Handhabung des Nachtbriefkastens genau nachzuvollziehen.

(bb) Daneben hätte es sich aufgedrängt, zunächst einmal die von dem Beschwerdeführer dem Familiengericht vorgelegte Videodatei darauf zu überprüfen, ob Hinweise für eine Manipulation vorlagen. Die Datei war bereits aktenkundig. Eine Analyse wäre ohne großen Zeitverlust möglich gewesen. Die Auswertung hätte die Ermittlungen nicht in den Ermittlungszweck gefährdender Weise verzögert. Hätte sich bei der Analyse ergeben, dass, um eine sichere Aussage zu treffen, auch die Aufnahmegeräte hätten ausgelesen werden müssen, so wäre eine Durchsuchung immer noch möglich gewesen.“

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