Archiv für den Monat: Mai 2022

Problem Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren II, oder: Auslagen nach Einstellung wegen Verjährung

Und als zweite Entscheidung dann der LG Saarbrücken, Beschl. v. 08.02.2022 – 8 Qs 3/22, über den schon der VerkehrsRechtsblog berichtet hat.

Entschieden hat das LG nach Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung. Das AG hatte gem. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO von der Auferlegung der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse abgesehen. Das hat das LG anders gesehen – mit Recht:

„1. Die sofortige Beschwerde ist gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 464 Abs. 3 Satz 1 StPO zulässig, insbesondere fristgerecht erhoben.

Die Beschränkung des § 464 Abs. 3 Satz 1 Hs 2 StPO findet vorliegend, da der Beschwerdeführer die Entscheidung in der Hauptsache lediglich in Ermangelung einer eigenen Beschwer nicht anzufechten vermag, keine Anwendung (vgl. Schmitt in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, § 464 Rn. 19 m.w.N.).

2. Auch in der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Zwar dürfte – was vorliegend keiner abschließenden Entscheidung bedarf – das Amtsgericht zutreffend davon ausgegangen sein, dass der Beschwerdeführer nur deshalb wegen einer Ordnungswidrigkeit nicht verurteilt worden ist, weil ein Verfahrenshindernis besteht und das Gericht daher nach§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO im Rahmen eines ihm eingeräumten Ermessens davon absehen kann, seine notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen (vgl. zum Streitstand und zu der von der Kammer vertretenen Auffassung die Beschlüsse der Kammer vom 07.11.2017, 8 Qs 121/17, vom 24.11.2017, 8 Qs 133/17 und vom20.05.2019, 8 Qs 44/19).

Allerdings kommt ein Absehen von der Auslagenerstattung nur dann in Betracht, wenn die weiter gebotene Ermessensentscheidung ergibt, dass auf Grund besonderer Umstände die Belastung der Staatskasse ausnahmsweise als grob unbillig erscheint. Da dieses Ermessen erst darin eröffnet ist, wenn das Gericht bereits davon überzeugt ist, dass der Betroffene ohne das Verfahrenshindernis verurteilt worden wäre, müssen zu dem Verfahrenshindernis als dem alleinigen der Verurteilung entgegenstehendem Umstand demnach weitere besondere Umstände hinzutreten, die es billig erscheinen lassen, dem Betroffenen die Auslagenerstattung zu versagen. Diese Umstände dürfen folglich nicht in der voraussichtlichen Verurteilung des Betroffenen und der ihr zugrunde liegenden Tat gefunden werden (vgl. Gieg in: KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 467 Rn. 10b mit zahlreichen w.N.). Teilweise wird sogar angenommen, dass Grundlage des Unbilligkeitsurteils immer nur ein hinzutretendes vorwertbares prozessuales Fehlverhalten des Betroffenen sein kann (vgl. KK-StPO a.a.O.; a.A. Celle StraFo 14, 438).

Vorliegend verhält es sich so, dass der Eintritt der Verfolgungsverjährung allein darauf zurückzuführen ist, dass die Verfahrensakte bei einer Übersendung zwischen den am Verfahren beteiligten Behörden bzw. Gerichten Anfang des Jahres 2020 in Verlust geriet und der Vorgang offenbar erst als Reaktion auf den Schriftsatz des Verteidigers vom 07.10.2021 wieder rekonstruiert wurde, mithin zu einem Zeitpunkt, zu dem bereits Verjährung eingetreten war. Daher liegt der Eintritt des für die Verfahrensbeendigung maßgeblichen Verfahrenshindernisses allein in Sphäre der Behörden, weshalb es vorliegend nicht grob unbillig erscheint, die notwendigen Auslagen des ehemals Betroffenen der Staatskasse aufzuerlegen (vgl. Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, § 467 Rn. 58 m.w.N.; LG Ulm, Beschluss vom 06.11.2020, Az. 2 Qs 46/20 m.w.N.).“

Problem Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren I, oder: Erstattung von Sachverständigenkosten

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Am „Gebührentag“ heute zwei Entscheidungen zur Auslagenerstattung im Bußgeldverfahren.

Zunächst stelle ich hier den LG Oldenburg, Beschl. v. 28.03.2022 – 5 Qs 108/20 – vor. Der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld, der mir den Beschluss geschickt hat, hatte nach Einstellung des Verfahrens (§ 47 Abs. 2 OWiG) für den Betroffenen auch Ersatz der Kosten für ein Sachverständigengutachten der VUT und für ein anthropologisches Gutachten beantragt. Er hatte nur teilweise Erfolg:

„Grundsätzlich gehören auch Kosten für das von der Beschwerdeführerin eingeholte Gutachten des Sachverständigen Grün (VUT Sachverständigen GmbH & Co. KG) zu den nach § 464a Abs. 2 StPO zu erstattenden notwendigen Auslagen. Zwar sind private Ermittlungen in der Regel nicht notwendig, weil Bußgeldbehörde und Gericht bereits von Amts wegen zur Sachaufklärung verpflichtet sind. Die Möglichkeiten, gegebenenfalls Beweisanträge im Ermittlungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren zu stellen, muss der Betroffene bzw. Angeklagte daher grundsätzlich ausschöpfen, bevor private Sachverständigengutachten eingeholt werden (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 464a Rn. 16 m.w.N.). Eine Erstattungsfähigkeit kommt demgegenüber ausnahmsweise in Betracht, wenn sich die Prozesslage des Betroffenen aus seiner Sicht bei verständiger Betrachtung der Beweislage ohne solche eigenen Ermittlungen alsbald erheblich verschlechtert hätte oder wenn komplizierte technische Fragen betroffen sind, so dass insbesondere die Einholung eines Privatgutachtens im Interesse einer effektiven Verteidigung als angemessen und geboten erscheinen durfte (Gieg, in: Karlsruher Kommentar zur Strafprozessordnung, 7. Aufl., § 464a Rn. 7 m.w.N.).

So ist es hier: Zu Recht weist der Verteidiger darauf hin, dass die Bußgeldrichterin bereits mit der Ladung zum Hauptverhandlungstermin darauf hingewiesen hatte, dass ihrer Auffassung nach keine Zweifel an der Richtigkeit der Messung und Zuordnung des Fahrzeuges der Beschwerdeführerin bestanden haben. Ohne die Anbringung konkreter Zweifel an der Ordnungsgemäßheit der Messung wäre daher damit zu rechnen gewesen, dass das Gericht in der Hauptverhandlung einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens unter den erleichterten Voraussetzungen des § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG sowie § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO ablehnen würde. Zur Überprüfung auf solche Zweifel war angesichts der technisch komplizierten Materie aber die Überprüfung durch einen Sachverständigen notwendig.

Die Sachverständigenkosten sind allerdings nicht in der geltend gemachten Höhe zu erstatten. Zwar sind die Kosten für ein privat eingeholtes Sachverständigengutachten nicht nach den Grundsätzen des JVEG zu erstatten. Diese können allerdings als Richtlinie herangezogen werden, auf deren Grundlage der privatrechtlich vereinbarte Stundensatz einer Plausibilitätsprüfung zu unterziehen ist (Beschl. der Kammer v. 17.01.2019 — 5 Qs 444/18, BeckRS 2019, 954 m.w.N.). Nach § 9 Abs. 1 i.V.m. Anlage 1 Nr. 38 JVEG in seiner bis zum 31.12.2020 geltenden Fassung betrug der Stundensatz für Sachverständige im Bereich Verkehrsregelungs- und -überwachungstechnik 85 € und damit deutlich weniger als die vom Sachverständigen Grün geltend gemachten 140 E. Zwar ist nicht zwingend davon auszugehen, dass es einem Betroffenen möglich ist, einen geeigneten Sachverständigen zu den im JVEG vorgesehenen Vergütungssätzen zu gewinnen. Weicht der Stundensatz jedoch — wie hier — um 20 % oder mehr vom Stundensatz der entsprechenden Honorargruppe des JVEG ab, bedarf es für die Plausibilitätsprüfung-besonderer Darlegungen durch den Anspruchsteller (KG, Beschl. v. 20.02.2012 — 1 Ws 72/09, juris), die hier aber nicht erfolgt sind. Auch ist es nach Erfahrung der Kammer im hiesigen Bezirk durchaus möglich gewesen, geeignete Sachverständige, die auf Basis eines Stundensatzes von 100 EUR abrechnen, zu finden. Die erstattungsfähigen Gutachterkosten sind bei der abgerechneten Arbeitszeit von 5 Stunden entsprechend auf 500 € (netto) reduziert worden. Die übrigen insoweit geltend gemachten Kosten erscheinen demgegenüber grenzwertig, aber noch vertretbar.

Nicht erstattungsfähig sind hingegen die der Beschwerdeführerin angefallenen Kosten für ein anthropologisches Gutachten. Insoweit ist kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet betroffen (vgl. LG Essen, Beschl. v. 19.07.2021 — 27 Qs 35/21, 27 Qs – 95 Js 1037/19 – 35/21, juris). Angesichts der guten Bildqualität des Messfotos wäre im Rahmen der Hauptverhandlung zu klären gewesen, ob die Beschwerdeführerin hätte identifiziert werden können. Dies ist grundsätzlich ohne die Hilfe eines Sachverständigen möglich, der lediglich im Zweifelsfalle zu beauftragen gewesen wäre. Jedenfalls nach Aktenlage haben hierfür aber keine Anhaltspunkte bestanden. Bezeichnenderweise teilt der Verteidiger auch das Ergebnis des von ihm privat eingeholten Gutachtens nicht mit.“

Nicht erstattungsfähig sind hingegen die der Beschwerdeführerin angefallenen Kosten für ein anthropologisches Gutachten. Insoweit ist kein abgelegenes oder technisch schwieriges Sachgebiet“? Darüber kann man nur  lachen und man sieht es mal wieder: Es muss nur ein LG anfangen, so etwas zu vertreten – wie hier das LG Essen – dann beten es schnell andere Gerichte nach.

StGB III: Zahnarztzange als gefährliches Werkzeug?, oder: Zahnextraktionen ohne Indikationen

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Und dann noch etwas ganz Besonderes zum Tagesschluss, nämlich den OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.03.2022 – 1 Ws 47/22.

Er enthält die Eröffnung in einem Verfahren, in dem die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten zur Last legt, im Zeitraum zwischen dem 20.07.2010 und dem 06.06.2014 als Zahnarzt in 33 Fällen seinen Patienten und Patientinnen Zähne extrahiert zu haben, obwohl es hinreichend aussichtsreiche Behandlungsalternativen gegeben habe. Zuvor habe der Angeklagte die Extraktion bestimmter Zähne als zwingend notwendig empfohlen. Im Vertrauen auf die Angaben des Angeklagten hätten die Patienten den Zahnextraktionen zugestimmt, woraufhin der Angeklagte diese Eingriffe mittels der dafür erforderlichen ärztlichen Instrumente vorgenommen habe. Hätte der Angeklagte seine Patienten über die alternativen Behandlungsmethoden aufgeklärt, hätten diese den Zahnerhalt vorgezogen und die Zahnextraktion abgelehnt. Dem Angeklagten sei es dabei darauf angekommen, seine Patienten im weiteren Verlauf mit für ihn einträglichem Zahnersatz versorgen zu können.

Das LG hat die Eröffnung des Hauptverfahrens betreffend einiger Tatvorwürfe abgelehnt. Wegen der weiteren Tatvorwürfe hat es die Anklage mit der Maßgabe zugelassen, dass in rechtlicher Hinsicht von 29 tatmehrheitlichen Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 230, 53 StGB auszugehen sei und insoweit das Hauptverfahren eröffnet.

Soweit die Eröffnung des Hauptverfahrens abgelehnt wurde, hat die Strafkammer dies damit begründet, dass bei den dem Angeklagten zur Last gelegten Taten nur eine rechtliche Würdigung als vorsätzliche Körperverletzung gemäß §§ 223 Abs. 1, 230 StGB in Betracht komme. Dagegen die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft, die Erfolg hatte:

1. Die dem Angeklagten (in tatsächlicher Hinsicht zu Recht) angelasteten Taten sind als gefährliche Körperverletzung gemäß §§ 224 Abs. 1 Nr. 2, 53 StGB zu qualifizieren, sodass die Verjährungsfrist gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 StGB zehn Jahre beträgt. Hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Taten begann die Frist am 20.07.2010 (Ziff. 11), 29.10.2010 (Ziff. 16), 22.08.2011 (Ziff. 22) bzw. am 23.08.2011 (Ziff. 23) zu laufen und wurde (u.a.) durch die Anklageerhebung am 24.02.2017 unterbrochen (§ 78c Abs. 1 Ziff. 6 StGB). Verfolgungsverjährung ist mithin nicht eingetreten.

2. Zutreffend weist die Generalstaatsanwaltschaft K. darauf hin, dass die Einordnung eines gefährlichen Werkzeugs als Mittel der Tatbegehung im Verhältnis zur Waffe durch das 6. StrRG v. 26.01.1998 (BGBl I 164) insoweit eine Änderung erfahren hat, als das gefährliche Werkzeug – anders als bei § 223a StGB a.F. – in der neuen Fassung des § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB nicht mehr als Beispiel für eine Waffe, sondern eine Waffe nunmehr als Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs zu verstehen ist (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 224 Rn. 9). Demzufolge kann eine Abgrenzung, ob ein ärztliches oder zahnärztliches Instrument als gefährliches Werkzeug einzustufen ist oder nicht, nicht mehr danach erfolgen, ob es gleich einer Waffe zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken eingesetzt wird (so noch – zu § 223a StGB a.F. – BGH, Urteil vom 22. Februar 1978 – 2 StR 372/77 -, juris; BGH, Urteil vom 23. Dezember 1986 – 1 StR 598/86 -, juris.). Vielmehr ist auch bei ärztlichen Instrumenten wie der vorliegend vom Angeklagten verwendeten Instrumente zur Zahnextraktion danach zu fragen, ob der Gegenstand aufgrund seiner objektiven Beschaffenheit und der Verwendung im konkreten Fall dazu geeignet ist, dem Opfer erhebliche Verletzungen beizubringen (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl. 2022, § 224 Rn. 14; Münchner Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 224 Rn. 50; Schönke/Schröder/Sternberg-Lieben, StGB, 30 Aufl. 2019, § 224 Rn. 8; Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl. 2018, § 224 Rn. 22).

3. Dies ist nach Auffassung des Senats vorliegend der Fall. Zwar werden Schmerzen während der Extraktion eines Zahnes mittels der dafür vorgesehenen zahnärztlichen Instrumente aufgrund einer örtlichen Betäubung nicht oder kaum verspürt. Die vom Angeklagten vorsätzlich ohne medizinische Indikation zur Zahnextraktion verwendeten Instrumente (namentlich die zur Zahnextraktion verwendete Zange) führten unmittelbar nach dem Eingriff aber – worauf die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht hinweist – nach Trennung der Verbindung zum versorgenden Nerv zu dem unwiederbringlichen Verlust eines Teils des Gebisses sowie zusätzlich zu einer – jedenfalls für die Dauer einiger Tage – offenen Wunde im Mundraum der Patienten. Derartige Eingriffe sind nach Abklingen der lokalen Narkose regelmäßig mit nicht unerheblichen Schmerzen, Beschwerden bei der Nahrungsaufnahme und der Gefahr von Entzündungen verbunden, welche nur durch Einnahme von Tabletten und oralhygienische Maßnahmen gemindert werden können, und zwar insbesondere dann, wenn wie vorliegend nacheinander mehrere Zähne entfernt werden (im Fall Ziff. 11: drei Zähne, im Fall Ziff. 16: fünf Zähne, im Fall Ziff. 22: sieben Zähne und im Fall Ziff. 23: vier Zähne). Von sowohl nach ihrer Intensität als auch ihrer Dauer gravierenden Verletzungen im Mundraum der Patienten ist daher auszugehen (vgl. auch BeckOK StGB/Eschelbach StGB, 52. Ed. 01.02.2022, § 224 Rn. 28, 28.4), weshalb in den genannten Fällen der Qualifikationstatbestand des § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB erfüllt ist (aA bei Extraktion eines Zahnes Schönke/Schröder, aaO, § 224 Rn. 8). Keine Rolle bei der Einordnung der vom Angeklagten verwendeten Instrumente als gefährliche Werkzeuge i.S.v. § 224 Abs. 1 Ziff. 2 StGB spielt der Umstand, dass der Angeklagte als (damals) approbierter Zahnarzt zu deren regelgerechter Anwendung grundsätzlich in der Lage war und sie auch regelgerecht angewandt hat.“

StGB II: (Kurze) Behinderung von Hilfsleistenden, oder: Bei schweren Verletzungen genügt bereits eine Minute

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Im zweiten Posting komme ich dann noch einmal auf einen Beschluss des OLG zurück, den ich bereits einmal vorgestellt habe, und zwar den OLG Hamm, Beschl. v. 10.03.2022 – 4 RVs 2/22  (vgl. hier: Auto I: Viermonatiges StGB-Fahrverbot als Nebenstrafe, oder: Auch noch nach Zeitablauf von zwei Jahren?). 

In dem heutigen Posting geht es um die „materielle Frage“, und zwar: Das AG hat den Angeklagten u.a. verurteilt wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen. Bei einem Unfall war eine ältere Radfahrerin gestürzt und hatte sich verletzt. Ein Ersthelfer sowie Polizeibeamte stellten ihre Fahrzeuge so ab, dass zwischen den Fahrzeugen eine hinreichende Lücke bestand, durch die der Verkehr hindurchfließen konnte. Gleichwohl kam es zu kleinen Rückstaus. Den sich mit seinem Kfz nähernden Angeklagten störte offensichtlich das Fahrzeug des Ersthelfers. Er fuhr neben dieses Fahrzeug und hielt an. Hierdurch kam es in allen Richtungen zu einem weiteren Rückstau. Dem nunmehr am Unfallort eintreffenden Rettungswagen war die Zufahrt zum Opfer versperrt. Der Angeklagte beschwerte sich darüber, dass am rechten Fahrbahnrand das Fahrzeug des Ersthelfers abgestellt sei und verlangte, dass es weggefahren werde. Erst nach mehreren Aufforderungen fuhr er langsam an dem Fahrzeug des Ersthelfers vorbei und hielt davor an. Das Rettungsfahrzeug musste wegen des Fahrzeugs des Angeklagten abgebremst und zum Stillstand gebracht werden. Nachdem der Angeklagte den Weg mit seinem Fahrzeug freigemacht hatte, fuhr der Rettungswagen an, musste jedoch sofort wieder stoppen, da der Angeklagte nunmehr die Fahrertür öffnete, um aus dem Fahrzeug auszusteigen. Der Angeklagte schloss die Fahrertür nach Betätigung des Martinshorns des Rettungswagens, so dass der Rettungswagen zu der verletzten Frau vorfahren konnte. Nach Überzeugung des AG verzögerte der Angeklagte die Ankunft der Rettungskräfte so um mindestens eine Minute.

Die Sprungrevision des Angeklagten ist beim OLG erfolglos geblieben:

“ 2. Die vom Angeklagten erhobene Sachrüge hat keinen Erfolg.

a) Die Verurteilung wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, in Tatmehrheit mit Beleidigung und in Tatmehrheit mit falscher Verdächtigung hält einer sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.

Die Feststellungen des Amtsgerichts tragen entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht insbesondere auch die Verurteilung des Angeklagten wegen Widerstands gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen, §§ 115 Abs. 3, 113 StGB.

Der Sturz der Radfahrerin war ein Unglücksfall. Die Radfahrerin hat infolge der bei dem Sturz erlittenen Verletzungen stark am Kopf geblutet und musste notärztlich versorgt werden. Die Besatzung des herannahenden Rettungswagens zählte zu den Hilfeleistenden eines Rettungsdienstes. Denn bereits das Hinbewegen der Hilfeleistenden zum Ort der Gefahr ist Teil der Hilfeleistung dazu (vgl. Fischer, StGB, 69. Aufl., § 115 Rn. 8; MüKo /Bosch, StGB, 4. Aufl., § 115 Rn. 11). Der Angeklagte hat diese mit Gewalt behindert. Behindern ist das Erschweren des Hilfeleistens in jeder Form. Der Gewaltbegriff in § 115 StGB entspricht jenem in § 240 StGB und § 113 StGB. Daher genügt auch die Gewalt gegen Sachen, wenn sie sich – wie im vorliegenden Fall – mittelbar physisch auf die Person des Genötigten auswirkt, dieser also einem körperlich vermittelten Zwang unterliegt (vgl. Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl., § 113 Rn. 44). Gewalt liegt zudem schon dann vor, wenn nur der Weg zum Unfallort versperrt wird oder wenn die Hilfeleistenden einen nicht unerheblichen Umweg nehmen müssen (vgl. Fischer, a.a.O., § 115 Rn. 10). So ist es hier, weil der Angeklagte ausweislich der getroffenen Feststellungen zum einen mit seinem Fahrzeug den Engpass zwischen den bereits abgestellten Fahrzeugen blockiert und zum anderen durch das nachfolgende Öffnen der Autotür die Weiterfahrt des Rettungswagens zum Unglücksort verhindert hat. Für die Tatbestandsverwirklichung ist unerheblich, dass der Angeklagte den Rettungsweg letztlich doch noch frei gegeben hat. Denn § 115 Abs. 3 StGB setzt eine endgültige oder auch zeitweise gänzliche Verhinderung der Hilfeleistung nicht voraus. Es genügt eine nicht ganz unerhebliche Erschwernis, die gerade auf den spezifischen Wirkungen des eingesetzten Tatmittels zurückzuführen ist (so Fischer, a.a.O., § 115 Rn. 10). Ausweislich der Beweiswürdigung des Tatrichters hat der Zeuge P, der Fahrer des Rettungswagens, bekundet, die durch den Angeklagten verursachte Verzögerung habe „mindestens eine Minute“ gedauert. Aufgrund der eingehenden Würdigung der Zeugenaussage, die das Amtsgericht als plausibel und insgesamt glaubhaft eingestuft hat, kann diese Zeitangabe als Feststellung zur Sache gewertet und der rechtlichen Würdigung zugrunde gelegt werden. Hierbei kann dahingestellt bleiben, ob eine solche 1-minütige Verzögerung grundsätzlich als ausreichend anzusehen ist. Im vorliegenden Fall reicht sie unzweifelhaft aus, um von einer tatbestandsmäßigen Behinderung im Sinne des § 115 Abs. 3 StGB auszugehen. Denn gerade im vorliegenden Fall eines schwerwiegenden Verkehrsunfalls – das Opfer hatte eine stark blutende Kopfverletzung erlitten – können bereits denkbar geringfügige Verzögerungen von Rettungsmaßnahmen um nur wenige Sekunden schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod des Opfers nach sich ziehen. Dem Urteil des Amtsgerichts ist ebenfalls zu entnehmen, dass dem Angeklagten die Schwere des Unglücksfalls bewusst gewesen ist. Ausweislich einer – wiederum im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung – getroffenen Feststellung hatte der Angeklagte einen freien Blick auf das stark blutende Unfallopfer, deren Kopf der Zeuge L auf seinem Schoß gehalten hat. Vor diesem Hintergrund ist das Amtsgericht mit Recht davon ausgegangen, dass der Angeklagte hinsichtlich einer erheblichen Behinderung der Rettungskräfte, die er als solche erkannt hatte, zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat. Auf Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe kann er sich ohnehin nicht berufen.“

StGB I: Verbale Auseinandersetzung eskaliert, oder: Dauer der Notwehrlage/erforderliche Verteidigung

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Und heute dann StGB-Entscheidungen. Und da ich derzeit in Bayern bin, eröffne ich den Reigen mit einem Beschluss des BayObLG zu Notwehrfragen (§ 32 StGB).

Das LG hatte im Berufungsverfahren folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

„Am 04.09.2019 gegen 17:30 Uhr kam es auf dem Parkplatz der Firma W. in S. zu einer zunächst verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten, der seine Arbeitsstelle aufsuchen wollte, und der Nebenklägerin. Vorausgegangen war ein Überholmanöver des Angeklagten, das die Nebenklägerin, obwohl nach den Feststellungen des Berufungsurteils eine Gefährdung nicht vorgelegen hatte, als gefährlich empfand und diese veranlasste, dem Angeklagten nachzufahren, um ihn auf das Überholmanöver anzusprechen.

Die Nebenklägerin stellte ihr Fahrzeug schräg vor den parkenden Pkw des Angeklagten und fragte ihn, was er sich „dabei gedacht“ habe, „so gefährlich zu überholen“. Es kam zu einer lautstarken Auseinandersetzung, bei der sich die Nebenklägerin dem Angeklagten auf etwa eine Armlänge annäherte. Dies nahm der Angeklagte zum Anlass, die Nebenklägerin mit beiden Händen – gerichtet gegen die Schultern der Nebenklägerin – wegzustoßen, wodurch sie mehrere Schritte rückwärts machte und über die Motorhaube eines Fahrzeugs zu Boden fiel. Die Nebenklägerin stand sogleich wieder auf, ging erneut auf den Angeklagten zu und versetzte ihm mit der rechten Hand eine Ohrfeige ins Gesicht, „um sich für den Schubser zu revanchieren“. Danach machte die Nebenklägerin „keinerlei Anstalten mehr, den Angeklagten weiter anzugreifen“. „Nach kurzem Überlegen“ schlug der Angeklagte mit der rechten Faust auf die linke Gesichtshälfte im Bereich unterhalb des Ohres, sodass die Nebenklägerin zu Boden ging und einen Bruch des linken Kiefers erlitt.

Das Landgericht hat eine Rechtfertigung des Verhaltens des Angeklagten wegen Notwehr gemäß § 32 StGB verneint. Zwar habe die Nebenklägerin ihm eine Ohrfeige versetzt, was einen rechtswidrigen Angriff darstellte. Dieser sei jedoch nicht mehr gegenwärtig gewesen, weil die Nebenklägerin „keinerlei“ Anstalten mehr gemacht habe, weiter auf den Angeklagten loszugehen. Im Übrigen wäre der Faustschlag auch nicht erforderlich gewesen, zumal „allenfalls“ mit weiteren „wenig intensiven Angriffen, ähnlich der bereits erfolgten Ohrfeige, zu rechnen war“. Schließlich wäre das Notwehrrecht des Angeklagten aufgrund einer „vorangegangenen schuldhaften Provokation“ eingeschränkt gewesen, wobei das Landgericht die Provokation darin gesehen hat, dass der Angeklagte die Nebenklägerin vorher weggestoßen hatte.“

Das sieht das BayObLG anders und hat im BayObLG, Beschl. v. 03.02.2022 – 202 StRR 9/22 – aufgehoben. Hier die Leitsätze zu der Entscheidung:

  1. Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, ist der Angriff so lange gegenwärtig im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten sind.
  2. Ein Verteidigungsverhalten in Form eines Faustschlags ins Gesicht ist erforderlich, wenn es zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihm um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung steht. Bei Beurteilung dieser Frage hat der Tatrichter insbesondere das bisherige Verhalten des Angreifers zu berücksichtigen, der sich durch geringer dosierte Abwehrmittel (hier: Wegstoßen) nicht von einer Körperverletzungshandlung zum Nachteil des Angegriffenen abhalten ließ.
  3. Bei der Frage, ob eine das Notwehrrecht einschränkende Provokation des Angegriffenen vorausgegangen war, ist es rechtsfehlerhaft, wenn der Tatrichter ein Verhalten desjenigen, der sich auf Notwehr beruft, einseitig aus einem Gesamtgeschehen herausgreift und dabei außer Acht lässt, dass dieses Verhalten rechtmäßig war und durch den Angreifer provoziert worden war.

Rest dann bitte selbst lesen 🙂 .