Archiv für den Monat: März 2021

Strafzumessung III: Anfängerfehler, oder: Zum Nachteil veränderter Schuldumfang geht nicht

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Und als letztes heute dann noch ein OLG-Beschluss, der bei mir auch Kopfschütteln hinterlässt. Es geht um ein Verfahren, das nun auch bereits zum zweiten Mal beim OLG Dresden anhängig war. Gegenstand des Verfahrens ist eine fahrlässige Tötung im Straßenverkehr. Das hatte das OLG Dresden bereits mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 07.04.2020 – 1 OLG 23 Ss 218/20 – eine Entscheidung des LG Dresden aufgehoben (dazu Strafzumessung III: Fahrlässige Tötung infolge Trunkenheitsfahrt, oder: Generalprävention?) und zurückverwiesen.

Dasselbe dann jetzt noch einmal mit dem OLG Dresden, Beschl. v. 18.02.2021 – 1 OLG 13 Ss 681/20. Und m.E. wegen eines Fehlers, der für eine Berufungskammer ein Anfängerfehler ist. Nämlich: Bei einer auf das Strafmaß beschränkten Berufung wird bei der Strafzumessung ein Sachverhalt zugrunde gelegt, der zu einer Änderung des vom AG festgestellten Schuldumfangs führt, und strafschärfend gewürdigt:

„2. Das Urteil kann jedoch deshalb keinen Bestand haben, weil das Landgericht, was ihm wegen der Bindung an die den Schuldspruch tragenden Feststellungen verwehrt war, zusätzliche Feststellungen, die zu einer Änderung des Schuldumfangs geführt haben, zuungunsten des Angeklagten gewertet hat.

a) Durch die rechtswirksame Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch erwächst der Schuldspruch des Ersturteils in Rechtskraft. Damit werden neben den Feststellungen des Erstgerichts, in denen die Merkmale des angewandten Strafgesetzes zu finden sind, auch die weitergehenden Feststellungen zum Tatgeschehen im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs für das weitere Verfahren bindend festgestellt. Wegen der Notwendigkeit des Zusammenhangs und der Einheitlichkeit des Urteils unterliegen dieser Bindungswirkung auch die doppelrelevanten Tatsachen, die für den Schuld- wie auch für den Strafausspruch von Bedeutung sind (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Juni 2017 – 1 StR 458/16BGHSt 62, 202). Beweiserhebungen, die darauf abzielen, aufrechterhaltene und damit bindende Feststellungen in Zweifel zu ziehen, sind unzulässig. Beweisergebnisse, die in Widerspruch zu bindenden Feststellungen stehen, haben außer Betracht zu bleiben. Dem Widerspruchsverbot unterliegt nicht nur das Mindestmaß an Tatsachen, ohne dass der Schuldspruch überhaupt keinen Bestand hätte. Unzulässig sind auch Abweichungen, durch die nur der Schuldumfang betroffen, die rechtliche Beurteilung aber nicht in Frage gestellt wird (BGHSt 30, 340; BayObLGSt NJW 1994, 1358). Dazu gehört auch die Art und Weise, wie ein Tatentschluss entstanden ist und wie er sich bis zur Umsetzung der Handlung entwickelt hat. Feststellungen des ersten Tatrichters zu ihrem Vorliegen oder Nichtvorliegen nehmen an der Bindungswirkung teil (OLG Stuttgart, Justiz 1996, 26ff.).

Demzufolge darf das Landgericht die Feststellungen des Amtsgerichts zwar durch eigene den bisherigen nicht widersprechende – ergänzen, es ist ihm aber verwehrt, bei der Strafzumessung einen Sachverhalt, der zu einer Änderung des vom Amtsgericht festgestellten Schuldumfangs führt (BayObLG a.a.O.), zugrunde zu legen und strafschärfend zu würdigen. Dies ist vorliegend aber der Fall.

a) Das Amtsgericht hat – soweit hier von Bedeutung – zum Verschulden des Angeklagten fest-gestellt, dass dieser am Tattag gegen 21.30 Uhr ein Fahrzeug geführt hat, „obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig war.“ Seine Blutalkoholkonzentration zur Unfallzeit habe 1,21 %o betragen. Der Angeklagte habe seine Fahruntüchtigkeit „vor allem auf-grund der genossenen Menge alkoholischer Getränke und seiner Lebenserfahrung bei kritischer Selbstprüfung erkennen können und müssen.“

Das Landgericht hat – über den Sachverhalt des amtsgerichtlichen Urteils hinaus – ergänzend festgestellt, dass der Angeklagte, der in der Gaststätte seiner Eltern arbeitete, an dem Tattag frühzeitig Feierabend machen wollte, um den Abend mit seinem Sohn zu verbringen. Diese Hoffnung zerschlug sich jedoch, weil er an dem Abend noch Gäste bewirten musste. „Aus Frust hierüber begann der Angeklagte … entgegen seiner sonstigen Übung nunmehr vermehrt zu Alkohol zu greifen; er trank über den Abend hinweg kurz hintereinander mindestens 5 Bier zu jeweils 0,5 Liter. Nachdem die letzten Gäste die Gaststätte gegen 20.30 Uhr verlassen hatten, sperrte der Angeklagte diese schnell zu, um so möglichst rasch nach Hause zu fahren und um seinen Sohn noch vor Ort antreffen zu können.“

Dies zugrunde gelegt hat das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung ausgeführt, dem „Umstand, dass der Angeklagte hier zumindest damit rechnen musste, dass er noch am Abend ein Kraftfahrzeug führen werde und – wie er zugab – gleichwohl Alkohol trank“, komme „eigenständig strafschärfende Bedeutung“ zu, da der Angeklagte „gleichsam in Fahrbereitschaft“ getrunken habe. Das Landgericht hat dadurch, dass es dem Angeklagten aufgrund seiner ergänzenden Feststellungen ein höheres Maß an Pflichtwidrigkeit – als dies im Urteil des Amtsgerichts rechtskräftig festgestellt war – angelastet hat, den Schuldumfang zu Ungunsten des Angeklagten verändert. Dies war ihm jedoch aufgrund der durch die Berufungs-beschränkung eingetretenen Bindungswirkung verwehrt (vgl. BayObLGSt 1988, 173 ff.; OLG Stuttgart a.a.O.). Gleiches gilt auch, soweit das Landgericht zu Lasten des Angeklagten davon ausging, dass er „grob fahrlässig bzw. leichtfertig“ gehandelt habe. Auch hierdurch vergrößerte es den Schuldumfang, den das Amtsgericht in seinem Urteil dahingehend gekennzeichnet hatte, dass der Angeklagte seine Fahruntüchtigkeit „bei kritischer Selbstprüfung“ hätte erkennen können und müssen.“ Weitere Feststellungen zum Schuldumfang, insbesondere in Richtung „grober Fahrlässigkeit oder Leichtfertigkeit“, hat das Amtsgericht dagegen nicht getroffen. Infolgedessen durften insoweit durch das Landgericht ergänzend getroffene Feststellungen auch nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden.

Der Senat kann nicht gänzlich ausschließen, dass das Landgericht ohne die vorgenannten Er-wägungen zum Schuldumfang eine mildere Strafe verhängt hätte. Da auch nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Tatrichter bei der Dauer der angeordneten Sperrfrist nach § 69a StGB von einem zu großen Schuldumfang hat leiten lassen, hebt der Senat den Maßregelausspruch insgesamt mit auf, um dem neuen Tatrichter – auch angesichts des Zeit-ablaufs – Gelegenheit zu geben, eine in sich stimmige Rechtsfolge zu finden.“

Strafzumessung II: Drei „Klassiker“ vom BGH, oder: Die Strafzumessungsrechtsprechung interessiert nicht

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Und als zweites Posting dann einmal quer durch den „Strafzumessungsgarten“, also einige Entscheidungen des BGH aus der letzten Zeit. Im Grunde alles Klassiker – leider.

Zunächst der BGH, Beschl. v. 27.01.2021 – 1 StR 396/20. Der Beschluss ist in einem Vergewaltigungsverfahren ergangen. Da hatte der BGh schon einmal wegen eines Fehlers bei der Strafzumessung aufheben müssen (vgl. BGH, Beschl. v. 22.04.2020 – 1 StR 113/20) . Und dann im zweiten Durchgang gleich noch einmal:

“ Der Strafausspruch hält wiederum rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das Landgericht hat nach Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Strafzumessungsgesichtspunkte ausgeführt, dass die erneut verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren mit Blick auf die zusätzlich festgestellten, länger andauernden Verletzungsfolgen tat- und schuldangemessen, aber auch erforderlich und verhältnismäßig sei, „um auf den – immer noch uneinsichtigen – Angeklagten“ maßgeblich einzuwirken (UA S. 12).

Diese abschließende Erwägung lässt besorgen, dass das Landgericht bei der Straffindung rechtsfehlerhaft die Uneinsichtigkeit des Angeklagten strafschärfend berücksichtigt hat. Eine Uneinsichtigkeit des Täters kann sich jedoch nur dann straferhöhend auswirken, wenn sein Verhalten auf Rechtsfeindschaft, seine Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche schließen lässt (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2018 – 1 StR 401/18 Rn. 7 mwN). Solche Umstände hat die Strafkammer nicht dargetan. Hinzu kommt, dass der Angeklagte vorliegend die Tatbegehung im Rahmen zulässigen Verteidigungsverhaltens im Wesentlichen bestritten hat, so dass ihm hieraus kein Nachteil erwachsen darf (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Oktober 2009 – 2 StR 283/09 mwN). Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass das Tatgeschehen im zweiten Rechtsgang bereits rechtskräftig festgestellt war.“

Die zweite Entscheidung, der BGH, Beschl. v. 12.01.2021 – 1 StR 451/20 – ist „selbsterklärend“:

„Das Landgericht hat bei der Strafrahmenwahl sowie bei der Strafzumessung im engeren Sinne zum Nachteil des Angeklagten berücksichtigt, dass dieser eine Scheinwaffe als Werkzeug bzw. Mittel im Sinne des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB nicht nur bei sich führte, sondern sie gezielt einsetzte und somit verwendete, indem er sie auf die Zeugin D. richtete. Dies verstößt gegen § 46 Abs. 3 StGB, wonach Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürfen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gehört der geplante und umgesetzte Einsatz einer Scheinwaffe als Druckmittel bereits zum Regelfall der Tatbestandsverwirklichung des § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB (vgl. BGH, Beschlüsse vom 26. September 2019 – 4 StR 342/17 Rn. 10 und vom 4. August 1999 – 2 StR 342/99 Rn. 2). Der Senat kann nicht ausschließen, dass sich dieser Wertungsfehler auf die verhängte Strafe ausgewirkt hat. Die Feststellungen sind davon nicht betroffen und können aufrechterhalten bleiben.“

Und die dritte Entscheidung, der BGH, Beschl. v. 09.02.2021 – 6 StR 7/21 – ist auch „unschön“.

„Der Strafausspruch hält sachlichrechtlicher Überprüfung nicht stand. Auf die gleichfalls nur für den Strafausspruch relevante Verfahrensrüge kommt es daher nicht an. Das Landgericht hat dem Angeklagten angelastet, dass er die Tat bagatellisiert und keine Reue gezeigt habe. Diese Gesichtspunkte durfte die Strafkammer nicht straferschwerend berücksichtigen, weil er das Handeltreiben nicht eingeräumt hatte (vgl. BGH, Beschlüsse vom 19. Januar 2016 – 4 StR 521/15; vom 8. Januar 2015 – 3 StR 543/14; vom 29. August 2012 – 4 StR 322/12; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 674).

Der Senat kann trotz der anderen gewichtigen Strafschärfungsgründe nicht ausschließen, dass dieser Fehler die Höhe der Freiheitsstrafe beeinflusst hat.“

Wenn man alles so liest, fragt man sich mal wieder, ob sich eigentlich niemand mit der Rechtsprechung des BGh zu § 46 StGB befasst.

Strafzumessung I: Wenn dem BGH die Tagessatzhöhe nicht gefällt, oder: Nettoeinkommensprinzip

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Ich habe seit längerem keine Strafzumessung mehr „gebracht“ – und der BGh ist in den letzten Tagen auch ein wenig kurz gekommen. Also heute dann:

Zunächst hier der BGH, Beschl. v. 14.01.2021 – 1 StR 242/20 – mit Ausführungen zur Tagessatzhöhe. Das LG hat den Angeklagten wegen Bestechung im geschäftlichen Verkehr in vier Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 180 Tagessätzen zu je 280 EUR verurteil. Der BGH beanstandet den Strafausspruch:

„2. Der Strafausspruch hält hinsichtlich der Entscheidung über die Tagessatzhöhe sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Die Höhe des Tagessatzes ist gemäß § 40 Abs. 2 Satz 1 StGB unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters zu bestimmen. Bei der Bemessung ist grundsätzlich von dem Nettoeinkommen auszugehen, das der Täter an einem Tag hat oder haben könnte (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB). Die Festlegung der Tagessatzhöhe erschöpft sich jedoch nicht in einem bloßen Rechenvorgang, es handelt sich vielmehr um einen wertenden Akt richterlicher Strafzumessung, der dem Tatrichter Ermessensspielräume hinsichtlich der berücksichtigungsfähigen Faktoren belässt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. April 2017 – 1 StR 147/17 Rn. 7 mwN; Fischer, StGB, 68. Aufl., § 40 Rn. 6a mwN; MünchKommStGB/Radtke, 4. Aufl., § 40 Rn. 56 mwN). „Einkommen“ ist dabei ein rein strafrechtlicher Begriff und nicht etwa im steuerrechtlichen Sinne zu verstehen. Er umfasst alle Einkünfte aus selbständiger und nicht selbständiger Arbeit sowie aus sonstigen Einkunftsarten (st. Rspr.; vgl. BGH, aaO, Rn. 7, 9 mwN; Fischer, aaO, Rn. 7 mwN; MünchKommStGB/Radtke, aaO, Rn. 59 f. mwN). Von den anzurechnenden Einkünften sind damit zusammenhängende Ausgaben, wie beispielsweise Werbungskosten, Betriebsausgaben und Steuern in Abzug zu bringen; ebenfalls sind in der Regel außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen, Unterhaltsverpflichtungen des Täters demgegenüber nur in angemessenem Umfang (st. Rspr.; vgl. BGH, aaO Rn. 7, 9 mwN; Fischer, aaO, Rn. 13 f. mwN; MünchKommStGB/Radtke, aaO, Rn. 65 ff., 68 f. mwN).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die vom Landgericht festgesetzte Tagessatzhöhe keinen Bestand. Ausweislich der Urteilsgründe hat das Landgericht „die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten, insbesondere seine Gehälter, seine Erfolgstantiemen und seine Mieteinnahmen“ (UA S. 31 f.) berücksichtigt und auf dieser Grundlage die Höhe des Tagessatzes auf 280 Euro festgesetzt. Aus den Feststellungen zur Person ergibt sich dabei, dass der Angeklagte L. aus seiner unternehmerischen Tätigkeit monatlich 2.000 Euro netto erhält und daneben einen monatlichen „Gewinn“ aus Miete in Höhe von ebenfalls 2.000 Euro erwirtschaftet. Das Landgericht hat jedoch hinsichtlich der Erfolgstantiemen in Höhe von jährlich 50.000 Euro und der Vergütung der Tätigkeit des Angeklagten im Aufsichtsrat in Höhe von jährlich 6.000 Euro hiermit etwa zusammenhängende Ausgaben und Abzüge bei der Berechnung der Tagessatzhöhe nicht in den Blick genommen und damit gegen das in § 40 Abs. 2 Satz 2 StGB normierte Nettoeinkommensprinzip verstoßen. Auch ist nicht zu erkennen, dass sich das Landgericht mit der Frage etwa berücksichtigungsfähiger Unterhaltspflichten des Angeklagten, insbesondere gegenüber seiner Ehefrau, auseinandergesetzt hätte.“

Pflichti: Welche Rechtsfolgen sind zu erwarten? oder: Wenn auch Einziehung – in Coronazeiten – droht

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Und die dritte Entscheidung kommt vom LG Aurich. Das hat im LG Aurich, Beschl. v. 05.02.2021 – 12 Qs 28/21 – noch einmal sehr schön zu den Beiordnungsgründen Stellung genommen, und nimmt vor allem auch eine drohende Einziehungsentscheidung in den Blick:

„Die Voraussetzungen für eine – hier nur nach § 140 Abs. 2 StPO in Betracht kommende – Pflichtverteidigerbestellung sind gegeben. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO n.F. liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.

Vorliegend erscheint die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wegen der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge geboten.

1. Allerdings hat das Amtsgericht zu Recht darauf verwiesen, dass die Schwere der zu erwartenden Strafe eine Beiordnung nicht rechtfertigt.

Auch im Zuge der Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung, im Rahmen derer die „Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge“ ausdrücklich in den Wortlaut des § 140 Abs. 2 StGB aufgenommen worden ist, sind die im Rahmen der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze weiterhin von Bedeutung, da sich bislang die Schwere der Tat ebenfalls nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung beurteilt hat (vgl. BeckOK StPO/Krawczyk, 38. Ed. 01.10.2020, StPO § 140 Rn. 23). Die Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge beurteilt sich mithin in erster Linie nach der zu erwartenden Rechtsfolge im Fall einer Verurteilung, wobei eine Verteidigerbeiordnung bei einer zu erwartenden Freiheitsstrafe ab einem Jahr in der Regel geboten ist (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 140 Rn. 23 m.w.N.).

Vorliegend ist lediglich eine Geldstrafe zu erwarten. Bei den 24 angeklagten Steuerstraftaten handelt es sich um Vergehen i.S.d. § 370 Abs. 1 und 2 AO. Das Vorliegen eines besonders schweren Falls der Steuerhinterziehung — mit der Folge einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten (§ 370 Abs. 3 AO) — ist nicht ersichtlich. Die im Einzelnen hinterzogenen Beträge liegen jeweils unterhalb der Wertgrenze von 50.000,00 E, die die Rechtsprechung für eine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes i.S.d. § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 AO zieht (BGH, Urteil vom 27.10.2015 — 1 StR 373/15 = NStZ 2016, 288 [289 f.]). Die im Falle des Schuldspruches vom Strafgericht zu bildende Gesamtstrafe ist mithin höchstwahrscheinlich eine Geldstrafe, da das Gericht aus einzelnen Geldstrafen nicht eine Gesamtfreiheitsstrafe bilden darf (BGH, Urteil vom 17.11.1994 —4 StR 492/94 = NStZ 1995, 178).

2. Nichtsdestotrotz erscheint der Kammer aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls die Beiordnung eines Pflichtverteidigers geboten.

Zum einen sind angesichts der Klarstellung in § 140 Abs. 2 StPO für die Beurteilung der Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung die insgesamt zu erwartenden Rechtsfolgen, d.h. auch Nebenstrafen oder Nebenfolgen, in den Blick zu nehmen. Dies betrifft beispielsweise eine drohende Unterbringung nach § 64 StGB, die Entziehung der Fahrerlaubnis oder ein Fahrverbot bei entsprechender Berufstätigkeit (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21). In Bezug auf eine drohende Einziehung hat das Kammergericht entschieden, dass der Antrag auf Einziehung wertvoller Gegenstände die Beiordnung eines Pflichtverteidigers gebieten kann (KG, Beschluss vom 02.12.1996 — 1 Ss 285/96). Zum anderen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass auch schwerwiegende mittelbare Nachteile aus einer Verurteilung zu berücksichtigen sind, z.B. der drohende Widerruf einer Bewährung in anderer Sache, erhebliche disziplinarrechtliche Folgen, drohender Widerruf der Zurückstellung nach § 35 BtMG, weitreichende haftungsrechtliche Folgen oder drohende Ausweisung (KK-StPO/Willnow, 8. Aufl. 2019 Rn. 21, StPO § 140 Rn. 21 m.w.N. aus der Rechtsprechung).

Vorliegend ist aufgrund der drohenden Einziehungsentscheidung, der beruflichen Stellung des Angeklagten und der allgemein bekannten Pandemielage eine Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge anzunehmen, die eine Pflichtverteidigerbestellung gebietet. Der Einwand des Angeklagten, im Falle einer antragsgemäßen Verurteilung und Einziehung wäre seine wirtschaftliche Existenz bedroht, ist glaubhaft. Das Amtsgericht hat mit Strafbefehl vom 03.04.2020 die Einziehung der (mutmaßlich) hinterzogenen Steuerbeträge von insgesamt 19.173,27 € angeordnet. Schon die Höhe des Einziehungsbetrages lässt vermuten, dass eine entsprechende Einziehungsentscheidung den Angeklagten als (faktischen) Inhaber des Imbissbetriebes wirtschaftlich bedrohen würde. Hinzu kommt, dass gerade das Gastronomiegewerbe in besonderer Weise unter den Infektionsschutzmaßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie leidet. Die Einnahmesituation der Gastronomie ist trotz Gewährung staatlicher Hilfen derzeit außerordentlich schlecht. Eine zeitnahe Besserung ist derzeit nicht absehbar. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass eine Verurteilung mittelbare Nachteile für den Angeklagten mit sich bringen könnte, beispielsweise die Untersagung des Gaststättenbetriebs wegen gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit nach der GewO und dem NGastG.“

Pflichti II: Rückwirkende Bestellung des Verteidigers, oder: Beim AG Erfurt klappt das im JGG-Verfahren

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Die zweite Entscheidung, der AG Erfurt, Beschl. v. 26.02.2021 – 45 Gs 378/21 jug -, den mir die Kollegin Klein aus Weimar geschickt hat, behandelt auch die Frage der nachträglichen Bestellung. Und das AG macht es richtig, und zwar sowohl zur Frage der nachträglichen Bestellung als auch hinsichtlich des Vorliegens der Voraussetzungen für eine Bestellung, und ordnet bei:

„Dem zur Tatzeit Jugendlichen werden Diebstähle am 05.07.2020 und 17.07.2020 zur Last gelegt (vgl. BI. 54 d.A.)

Mit Schreiben vom 05.08.2020 beantragte die Verteidigerin als Pflichtverteidigerin, für den seit dem 22.07.2020 inhaftierten Beschuldigten, beigeordnet zu werden (vgl. BI. 32, 54 d.A). Die Inhaftierung erfolgte auf Grundlage des Sicherungshaftbefehls des Amtsgerichtes Weimar vom 02.06.2020 im Verfahren 2 BRs 117/19 (vgl. BI. 62 d.A).

Mit Verfügung vom 10.12.2020 stellte die Staatsanwaltschaft Erfurt das Verfahren im Hinblick auf das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichtes Weimar vom 04.09.2019 (AZ: 750 Js 1440/19 – 2 Ls jug) gemäß § 154 Abs.1 StPO ein. Aufgrund des Widerrufs der Bewährung in vorbenannter Sache befindet sich der Beschuldigte bis voraussichtlich 20.03.2021 in der JSA Arnstadt in Haft.

Der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung ist zulässig. Der Umstand, dass das Verfahren mittlerweile eingestellt wurde führt nach Neufassung der §§ 140 ff StPO zu keiner anderen Betrachtungsweise, denn einzig maßgebend ist, dass die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen: Das war am 05.08.2020 der Fall.

Der Antrag ist auch begründet, da sowohl die Voraussetzungen des § 140 Abs.1 Nr. 5 StPO n.F., als auch des § 140 Abs.2 StPO vorlagen.

Nach § 140Abs1. Nr. 5 StPO ist dem Beschuldigten, der sich aufgrund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet ein Pflichtverteidiger zu bestellen. Die Einschränkung nach früherem Recht, dass die Inhaftierung mindesten 3 Monate gedauert haben muss ist weggefallen.

Diese Voraussetzungen    liegen hier vor, denn der Beschuldigte befindet sich seit dem 22.07.2020 in der JSA Arnstadt. Dort erfolgte auch die Durchsicht des Effektenprotokolls um fest-zustellen, ob dort ein Handy aufgeführt ist, dass Gegenstand der Tat vom 05.07.2020 war (vgl. Bl. 54 d.A)

Darüber hinaus liegen hier aber auch die Voraussetzungen des § 140 Abs.2 StPO vor. Danach ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn die Schwere der Tat dies gebietet.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Dabei sind im Jugendstrafrecht die gleichen Grundsätze wie im Erwachsenenstrafrecht anzuwenden (vgl. OLG Hamm, 14.05.2003, 3 Ss 1163/02)

Auch der Wortlaut des § 68 Abs.1 JGG spricht für diese Betrachtungsweise.

Danach ist auch im Jugendstrafrecht grundsätzlich erforderlich, das eine Straferwartung von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. Das mag beim einem drohenden Widerruf einer achtmonatigen Bewährungsstrafe fraglich sein.

Die Staatsanwaltschaft verkennt aber insoweit, dass im Jugendstrafrecht der § 31 JGG zu beachten ist (vgl. OLG Hamm a.a.O.)

Zum Zeitpunkt der Antragstellung, war hier die Anwendung des § 31 JGG zu erwarten, wobei, im Hinblick darauf das die Taten vom 05.07.2020 und 17.07.2020 nach der Verurteilung am 04.09.2019 erfolgten und ein hohes Rückfallintervall vorliegt mit einer Einheitsjugendstrafe von ca. 1 Jahr zu rechnen war.

Dies ergibt sich auch aus dem Beschluss des Amtsgerichtes Arnstadt vom 20.08.2020, durch den die Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde (vgl. BI. 62 ff d.A). Dort wird dezidiert das Verhalten des Beschuldigten nach der letzten Verurteilung beschrieben (vgl. BI. 63 d.A.) Der Umstand, dass es sich hier um keine einschlägige Straftat handelt, spielt im Jugendstrafrecht eine untergeordnete Rolle, da der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht.

Nach alldem lagen die Voraussetzungen einer Pflichtverteidigerbestellung vor und dem Antrag der Verteidigerin vom 05.08.2020 war stattzugeben.