Archiv für den Monat: Februar 2021

Pflichti II: Rückwirkende Bestellung, oder: Einmal ja, einmal/nein, aber nur alte Rechtsprechung zitiert

© pedrolieb -Fotolia.com

Ein Pflichtverteidigungstag ohne Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers – der Dauerbrenner im Recht der Pflichtverteidiger – geht nicht. Und daher auch heute zu der umstrittenen Frage einige Entscheidungen:

Grundsätzlich ist eine rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung nicht mit Wirkung für die Vergangenheit vornehmbar. Von dieser Regel kann jedoch abgewichen werden, wenn trotz zwischenzeitlich erfolgter Verfahrenseinstellung zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung über diese z.B. aus gerichtsinternen Gründen unterblieben ist.

Die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers ist schlechthin unzulässig.

Anzumerken ist: Beide Entscheidungen erwähnen die gesetzlichen Neuregelungen in den §§ 140 ff. StPO mit keinem Wort, setzen sich damit also nicht auseinander.Die Neuregelungen scheint man dort aber zu kennen, da man den neuen § 142 Abs. 7 StPO zitiert.

Beim LG Stralsund wird auch viel alte Rechtsprechung verwendet, dafür sprechen die zitierten Entscheidungen. Wahrscheinlich ein Textbaustein. Ähnlich, aber nicht ganz so schlimm, das LG Berlin, das eine Entscheidung aus 2004 zitiert. Ich meine, mal sollte sich als Kammer eines LG über ein Jahr nach Inkrafttreten von Neuregelungen u.a. dann doch mal von alten Zöpfen trennen und ggf. einen neuen Taxbaustein entwerfen. So viel Zeit sollte sein.

Und wie das eben so bei großen LG ist: Der LG Berlin, Beschl. v. 17.11.2020 – 539 Qs 25/20 – vertritt die gegenteilige Auffassung. Innendivergenz nennt man so etwas. Ist unschön für die Beschuldigten.

Pflichti I: Schwierige Sachlage?, oder: Auswertung eines DNA-Gutachtens im JGG-Verfahren

entnommen open clipart.org

Heute dann mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

In den starte ich mit dem LG Amberg, Beschl. v. 04.02.2021 – 51 Qs 1/21 jug – zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers im JGG-Verfahren, wenn es um die Auswertung eines DNA-Gutachtens geht. Das LG hat – anders als das AG – einen Pflichtverteidiger bestellt:

„Es liegt eine notwendige Verteidigung nach § 68 Nr. 1 JGG. § 140 Abs. 2 StPO vor. Es ist eine Schwierigkeit der Sachlage gegeben. Diese folgt daraus, dass dem Beschuldigten die Tat nur mittels eines molekulargenetischen Sachbeweises nachgewiesen werden kann. Der Beschuldigte hat sich bisher zur Sache nicht eingelassen. Zeugenaussagen, aus denen sich die Identität des Täters ergeben könnten, liegen nicht vor bzw. sind zumindest nicht aktenkundig. Es wurde lediglich eine DNA-Spur an einem Stein gefunden, bei der es sich um eine Mischspur von mindestens 3 Personen handelt. Das molekulargenetische Gutachten vom 22.07.2020 kam insofern zu dem Ergebnis. dass zwar u.a. sämtliche Allele detektiebar waren, die der Beschuldigte aufweist. Er kommt daher grundsätzlich als Spurenmitverursacher in Frage. Es wird aber auch ausgeführt. dass die Voraussetzungen für eine biostatistische Befundinterpretation nicht gegeben mittels eines molekulargenetischen Sachbeweises nachgewiesen werden kann. Der Beschuldigte hat sich bisher zur Sache nicht eingelassen. Zeugenaussagen, aus denen sich die Identität des Täters ergeben könnten, liegen nicht vor bzw. sind zumindest nicht aktenkundig. Es wurde lediglich eine DNA-Spur an einem Stein gefunden, bei der es sich um eine Mischspur von mindestens 3 Personen handelt. Das molekulargenetische Gutachten vom 22.07.2020 kam insofern zu dem Ergebnis, dass zwar u.a. sämtliche Allele detektierbar waren, die der Beschuldigte aufweist. Er kommt daher grundsätzlich als Spurenmitverursacher in Frage. Es wird aber auch ausgeführt, dass die Voraussetzungen für eine biostatistische Befundinterpretation nicht gegeben seien, da erzielte Ergebnisse zum Teil schwache Signalintensitäten aufweisen würden, sodass grundsätzlich die Möglichkeit einer Fehlapplikation während der PCR bestehe. Darüber hinaus seien unter Einbeziehung nicht reproduzierbarer Zusatzmerkmale unter anderem auch vielfach Merkmale darstellbar gewesen, die Bastian J. aufweise; dieser komme daher grundsätzlich als Mitverursacher infrage. Aus dem erwähnten Gutachten ergibt sich aber auch weiter, dass es offensichtlich 7 Tatverdächtige als Verursacher gibt. Zwar wurden Hinweise auf signifikante DNA-Mengen von den anderen Tatverdächtigen nicht festgestellt. Ob daraus jedoch ohne weitere Anhaltspunkte geschlossen werden kann, dass diese als Täter grundsätzlich ausgeschlossen werden können, erscheint fraglich.

Zwar erfordert das Vorliegen eines Sachverständigengutachten nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Grundsätzlich ist aber im Jugendstrafverfahren eine extensive und großzügige Auslegung der Generalklausel in § 140 Abs. 2 S. 1 StPO geboten. Dies gilt v.a. auch deshalb, weil junge Beschuldigte zur eigenen Verteidigung nur begrenzt in der Lage sind. Auch enthält das JGG u.a. im Bereich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit (§ 3 S. 1 JGG), der Rechtsfolgenspanne sowie speziell der Rechtsmittelbeschränkung (§ 55) durchaus komplizierte Sonderregelungen. Prinzipiell ist ein Verteidiger daher umso eher notwendig, je jünger der Beschuldigte ist (zum Ganzen: Eisenberg/Kölbel, 21. Aufl. 2020, JGG § 68 Rn. 23 m.w.N.). Aufgrund der aufgezeigten Problematik hinsichtlich des Tatnachweises, wobei ein derartiges Gutachten für einen juristischen Laien nicht leicht verständlich ist, und des noch jungen Alters des Beschuldigten ist daher bezogen auf den vorliegenden Einzelfall die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich (vgl. Auch LG Aachen Beschl. v. 8.7.2020 — 62 Qs-111 Js 146/20-41/20, BeckRS 2020, 33074).“

StPO III: Revision gegen ein Verwerfungsurteil, oder: Fehlender Eröffnungsbeschluss

© artefacti – Fotolia.com

Und zum Tagesschluss dann noch eine OLG-Entscheidung, nämlich der OLG Köln, Beschl. v. 04.02.2020 – 1 RVs 240/19. Ergangen ist er in einem Revisionsverfahren. Die Berufung des Angeklagten ist nach § 329 Abs. 1 StPO verworfen worden. Das OLG hat aufgehoben, und zwar auf die Sachrüge des Angeklagten, die der Verteidiger zum Glück erhoben und geltend gemacht hatte, dass ein Eröffnungsbeschluss nicht vorliegt:

„Der Senat berücksichtigt dieses Verfahrenshindernis auch auf die gegen ein Verwerfungsurteil gerichtete Sachrüge.

aa)  Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats, dass die gegen ein Verwerfungsurteil gemäß § 329 Abs. 1 StPO (bzw. – gleichsinnig – § 74 Abs. 2 OWiG) allein erhobene Sachrüge die Prüfung veranlasst, ob die für das Verfahren erforderlichen Prozessvoraussetzungen vorliegen oder ob dessen Einleitung oder Fortführung Prozesshindernisse entgegenstehen (SenE v. 15.08.2000 – Ss 189/00 -; SenE v. 16.03.2001 – Ss 66/01 -; SenE v. 13.03.2001 – Ss 65/01 -; SenE v. 12.12.2000 – Ss 446/00 – = VRS 100, 45 [49] = NJW 2001, 1223; SenE v. 03.04.2001 – Ss 92/01 -; SenE v. 27.11.2001 – Ss 468/01 -; SenE v. 21.12.2001 – Ss 507/01 B – = VRS 102, 112 [113] = DAR 2002, 178 [179] = NZV 2002, 241 [242]; SenE v. 11.03.2005 – 8 Ss 29/05 -; SenE v. 16.03.2011 – III-1 RBs 59/11 -; SenE v. 14.12.2018 – III-1 RBs 406/18 -).

bb) Das gilt – was der Senat bislang noch nicht zu entscheiden hatte – unabhängig von der Frage, zu welchem Zeitpunkt das Verfahrenshindernis eingetreten ist, ob es also – wie der fehlende Eröffnungsbeschluss – bereits vom Amtsgericht hätte beachtet werden müssen. Der Senat folgt insoweit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der dies auf Vorlage des OLG Koblenz für das Verfahrenshindernis des fehlenden (zurückgenommenen) Strafantrags angenommen hat (BGHSt 46, 230 = NStZ 2001, 440). Dies entspricht auch der Rechtsmeinung derjenigen Oberlandesgerichte, die sich seither mit der genannten Rechtsfrage zu befassen hatten (OLG Hamm B. v. 25.10.2016 – III-3 RVs 72/16 – zitiert nach Juris [Verjährung]; OLG Düsseldorf B. v. 08.04.2014 III-2 RVs 35/14 = BeckRS 2014, 7811 [Frage des Vorliegens einer Eröffnungsentscheidung]; OLG Hamburg NJW 2012, 631 [unwirksame Anklage]; OLG Celle NStZ-RR 2012, 75 [parallele Situation der Sprungrevision gegen ein Verwerfungsurteil gemäß § 412 StPO – Verjährung]; OLG Celle NStZ 2008, 118 [Verfahrenseinstellung gemäß § 154 Abs. 2 StPO]; s. weiter OLG Bamberg B. v. 19.01.2012 – 2 Ss OWi 1545/11= BeckRS 2012, 26002). Diese Rechtsauffassung wird auch von Teilen der Literatur vertreten (MüKo-StPO-Quentin, § 329 Rz. 11; Löwe/Rosenberg-Gössel, 26. Auflage 2012, § 329 Rz. 65; HK-StPO-Rautenberg/Reichenbach, § 329 Rz. 6; Paulus NStZ 2001, 445; a. A. – Berücksichtigung nur nachträglich entstandener Verfahrenshindernisse – aber Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse S. 45 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage 2019, § 329 Rz. 8; SK-StPO-Frisch, 5. Auflage 2016, § 329 Rz. 39; KK-StPO-Paul, 8. Auflage 2019, § 329 Rz. 13; SSW-StPO-Brunner, 3. Auflage 2018, § 329 Rz. 54; Duttge NStZ 2001, 442; wohl auch Radtke/Hohmann-Beukelmann, StPO, § 329 Rz. 37). Für einen Vorrang der Einstellung vor der Verwerfung spricht, dass es sich bei den Verfahrensvoraussetzungen um Umstände handelt, die so schwer wiegen, dass von ihrem Vorhandensein die Zulässigkeit des Verfahrens im Ganzen abhängt. Sie bestehen nicht nur im Interesse des Angeklagten, sondern vielmehr auch im allgemeinen Interesse (BGHSt 46, 230 [236]). Dass – wie die Gegenauffassung annimmt – die Anwesenheit des Angeklagten eine Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Sachentscheidung des Berufungsgerichts darstelle (Meyer-Goßner, Prozessvoraussetzungen und Prozesshindernisse S. 46; Duttge NStZ 2001, 442 [443]) ist demgegenüber jedenfalls keine vom Gesetz bruchlos durchgeführte Konzeption, wie die Vorschrift des § 329 Abs. 6 erweist, die (zwar nur, aber immerhin) eine Sachentscheidung über die Gesamtstrafe bei Abwesenheit des Angeklagten gestattet.

c) aa) Ein Beschluss des Amtsgerichts, durch den die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Köln vom 7. Juni 2018 – 666 Js 821/18 – gegen die Revisionsführerin zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet wurde, ist in den Akten nicht vorhanden.

bb) Die fehlende Eröffnungsentscheidung ist auch nicht durch andere Beschlüsse oder Vorgänge im Rahmen des amtsgerichtlichen Verfahrens ersetzt worden. Zwar kann ein (konkludenter) Eröffnungsbeschluss auch in einer anderen, vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils schriftlich ergangenen Entscheidung gesehen werden, der eine schlüssige und eindeutige Willenserklärung des Gerichts, die Anklage unter den Voraussetzungen des § 203 StPO zuzulassen, unter gleichzeitiger Würdigung des hinreichenden Tatverdachts, zweifelsfrei entnommen werden kann (vgl. BGH NStZ 1987, 239; BGH NStZ 1988, 236; BGH NStZ-RR 2011, 150 m. w. N. recherchiert über juris; SenE v. 18.12.2007 – 81 Ss 88/07 -; SenE v. 11.08.2009 – 81 Ss 35/09 -; SenE v. 29.06.2016 – III-1 RVs 128/16; SenE v. 25.09.2018 – III-1 RVs 181/18; LR-StPO-Stuckenberg, StPO, 26. Auflage, § 207 Rz. 54). Vorliegend lässt jedoch der einzig insoweit in Betracht zu ziehende Verfahrensvorgang – der Verbindungsbeschluss vom 5. September 2018 (Bl. 55 d. A.) – eine sachliche Prüfung der Zulassungsvoraussetzungen gerade nicht erkennen. Dort ist nämlich eine weitere Anklage (vom 31. August 2018 – 666 Js 1339/18) zur Hauptverhandlung zugelassen worden; hinsichtlich des hier in Rede stehenden Tatvorwurfs findet sich hingegen nur eine Entscheidung über die Verfahrensverbindung.“

StPO II: ED-Behandlung im Vergewaltigungsverfahren, oder: Nackbilder sind unzulässig

Bild von Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay

Bei manchen Entscheidungen, die ich zugeschickt bekomme, stutze ich dann beim Lesen doch mächtig und frage mich, ob das „Fake-News“ sind oder „reales Strafverfahren“. So ist es mir beim LG Wuppertal, Beschl. v. 12.01.2021 – 24 Qs 10/20 – gegangen, den mir der Kollege Lauterbach aus Solingen geschickt hat.

Gegenstand der Entscheidung ist die Zulässigkeit der erkennungsdienstlichen Behandlung eines Beschuldigten in einem Verfahren wegen Vergewaltigung. so weit, so gut. Nicht mehr gut ist es dann aber (m.E.), wenn man liest, dass von der Polizeibehörde die Anfertigung von (Nackt-)Lichtbildern des Beschuldigten angeordnet worden ist. das ging dann auch der Kammer zu weit und sie hat festgestellt, dass diese erkennungsdienstlichen Maßnahme – richterlich bestätigt übrigens – den Beschuldigten in seinen Rechten verletzt hat:

„Die richterliche Bestätigung der vom Beschwerdeführer beanstandeten, zumindest konkludent durch ihre Durchführung am 12.11.2020 seitens der Polizei getroffenen Anordnung gegen ihn gerichteter erkennungsdienstlicher Maßnahmen analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO kann keinen Bestand haben, da die bestätigte Anordnung rechtswidrig war.

Gemäß § 81b StPO dürfen Lichtbilder und Fingerabdrücke eines Beschuldigten auch gegen seinen Willen aufgenommen und Messungen und ähnliche Maßnahmen an ihm vorgenommen werden, soweit es für die Zwecke der Durchführung des Strafverfahrens oder für die Zwecke des Erkennungsdienstes notwendig ist.

Zur Durchführung des Strafverfahrens zum Az. 324 Js 991/20 der Staatsanwaltschaft Wuppertal war die beanstandete Anordnung nicht notwendig. Die Notwendigkeit i.S.d. § 81b StPO und ihre Grenzen ergeben sich im Strafverfahren aus der Sachaufklärungspflicht (Meyer-Goßner/Schmitt, 63. Aufl. 2020, § 81b StPO Rn. 12; Löwe-Rosenberg/Krause, StPO, 27. Aufl. 2017, § 81b Rn. 11 m.w.N.), die im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft trifft, § 160 StPO. Maßgeblich ist hiernach, ob die aus der angeordneten erkennungsdienstlichen Maßnahme gewonnenen Erkenntnisse der zu führenden Ermittlungen förderlich sind. Zugleich verweist der Begriff der Notwendigkeit auf den ohnehin bereits aus allgemeinen rechtsstaatlichen Gründen zu beachtenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der verlangt, dass die angeordnete Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zweckes – hier der Förderung des Ermittlungsverfahrens nach o.g. Maßstab ¬geeignet, erforderlich und angemessen ist.

Vorliegend hat die Staatsanwaltschaft den Zweck der Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Angeschuldigten darin gesehen, dass hierbei gefertigte Lichtbilder der Auswertung „etwaiger Tatvideos“ dienen würden, um möglicherweise dort erkennbare Personen damit abgleichen zu können. Insoweit war die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Angeschuldigten bereits nicht geeignet, das Ermittlungsverfahren zu fördern. Denn weder im Zeitpunkt ihrer Anordnung und Durchführung (wobei offenbleiben kann, ob dies zeitlich auseinanderfällt), noch ihrer richterlichen Bestätigung war die Existenz vermeintlicher inkriminierender Videos, auf denen der Angeschuldigte zu sehen sein könnte und daher identifiziert werden müsste, geklärt. Hinweise auf derartige Videos ergaben sich ursprünglich (nur) aus einer Aussage der pp. vom 07.10.2020, wonach der Angeschuldigte mitunter Videos von ihr gefertigt habe oder sie zur Fertigung solcher Videos von sich angehalten habe, wobei er zumindest auch sein damaliges Mobiltelefon benutzt habe. Ungeachtet der Frage, inwieweit hiernach vermutet werden durfte, dass auch der Angeschuldigte selbst auf diesen vermeintlichen Videos zu sehen sei, hätte der Verdacht, dass es diese (noch) gebe, zunächst weiterer Aufklärung bedurft. Ohne das Vorliegen solcher Videos lag ein möglicher Nutzen erkennungsdienstlichen Materials wie Lichtbildern zu ldentifizierungszwecken im Unklaren. Daran änderte sich auch im weiteren Verlauf der Ermittlungen bis zur Durchführung der in Rede stehenden Maßnahmen am 12.11.2020 nichts. Vielmehr zeichnete sich nach und nach ab, dass man Videos nicht würde zutage fördern können. So wurden bei einer Wohnungsdurchsuchung vom 23.10.2020 weder ein gesuchtes Tablet noch andere Datenträger gefunden (vgl. BI. 264 d.A.). Die Untersuchung eines Tower-PC-Systems endete am 02.11.2020 ohne positiven Befund; nicht einmal konnte die von der Zeugin erwähnten Webcamnutzung für den untersuchten PC belegt werden. Weitere Ermittlungsansätze ergaben sich ausweislich eines polizeilichen Vermerks vom 10.11.2020 (BI. 288 d.A.) hieraus nicht. Auch war die Wahrscheinlichkeit des erhofften Auffindens inkriminierender Videos nach Aktenlage in keinem Zeitpunkt so hoch, dass es nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gerechtfertigt war, in der Erwartung des Auffindens gleichsam vorauseilend Ermittlungshandlungen vorzunehmen, die — wie die Beschaffung von Bildmaterial zum Abgleich mit etwaigen Videos — an sich allenfalls als nächster Schritt in Betracht gekommen wäre.

Jedenfalls war die Anordnung der erkennungsdienstlichen Behandlung des Angeschuldigten aufgrund vorstehender Erwägungen unangemessen. Obgleich es sich bei erkennungsdienstlichen Maßnahmen oftmals um eher niederschweflige Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung handelt, ist vorliegend zu berücksichtigen, dass es im konkreten Fall — wie erst nachträglich aktenkundig gemacht wurde — um die Fertigung von Lichtbildern im unbekleideten Zustand ging („Bilder der Nackt-ED-Behandlung“, BI. 356 d.A.) ging, was dem Eingriff zumindest einige Erheblichkeit verleiht. Dies steht im konkreten Fall außer Verhältnis zum Gewicht des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses. Denn weil –  wie dargelegt – der Nutzen der Maßnahme zu Identifizierungszwecken ohne das Vorliegen der (vermeintlichen) mit den Bildern abzugleichenden Videos unklar war, bestand die Gefahr, dass sich die erkennungsdienstliche Maßnahme letztlich als überflüssig erweisen würde und damit dem Grundrechtseingriff kein Gewinn für die staatliche Strafverfolgungstätigkeit gegenüberstünde.

Nur ergänzend weist die Kammer darauf hin, dass überdies erhebliche Bedenken gegen die Erforderlichkeit der in Rede stehenden Anordnung zu identifizierungszwecken bestehen. Dabei kann dahinstehen, ob es zur Vermeidung einer möglichen Retraumatisierung der mutmaßlichen Geschädigten pp.  durch den Vorhalt etwaiger Videos gerechtfertigt war, von deren Befragung, ob darauf der Angeschuldigte zu erkennen sei, abzusehen und stattdessen der Nutzung der Ergebnisse einer erkennungsdienstlichen Behandlung des Angeschuldigten den Vorzug zu geben. Denn jedenfalls wäre zur Identifizierung des Angeschuldigten auf Videos auch eine Befragung der weiteren Zeugen und pp., in Betracht gekommen, die aufgrund ihrer familiären Beziehung zum Angeschuldigten ebenfalls hierzu in der Lage gewesen sein dürften und sich auch bislang zur Aussage bereitgefunden hatten.

Auf präventivpolizeiliche erkennungsdienstliche Zwecke außerhalb des Ermittlungsverfahrens zum Az. 324 Js 991/20 der StA Wuppertal (§ 81 b Var. 2 StPO) wurde die Anordnung im zur Beurteilung ihrer Rechtmäßigkeit maßgeblichen Zeitraum, dh.. spätestens bis zu ihrem Vollzug, nicht gestützt. Soweit in einem Vermerk der als Ermittlungsperson der Staatanwaltschaft tätigen Sachbearbeiterin des ermittlungsführenden Kriminalkommissariats vom 20.11.2020 (BI. 356 d.A.) die Möglichkeit einer Nutzung der Ergebnisse der in Rede stehende Maßnahmen für künftige Ermittlungsverfahren angedeutet wird, handelt es sich nur um eine im Vermerk wiedergegebene Absichtserklärung des Landeskriminalamtes NRW, das mit den Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer nicht unmittelbar befasst war. Auch ist nicht ansatzweise ersichtlich, dass diese Erwägung bereits vor dem 20.11.2020 einmal im Raume gestanden hätte, sodass sie, da die Maßnahmen am 12.11.2020 durchgeführt wurden, auch aus zeitlichen Gründen nicht Grundlage der Anordnung gewesen sein kann. Die Staatsanwaltschaft hat sich die vorgenannte Erwägung erst nachträglich mit ihrer Verfügung vom 07.12.2020 (BI. 373R d.A.) zu eigen gemacht. Im Übrigen bestand auch für Zwecke i.S.d. § 81b Var. 2 StPO keine Notwendigkeit der in Rede stehenden Anordnung, da der anlässlich des vorliegenden Ermittlungsverfahrens festgestellte Sachverhalt keinen Anlass für die Annahme bietet, dass der Angeschuldigte in den Kreis Verdächtiger einer noch aufzuklärenden anderen strafbaren Handlung mit einbezogen werden könnte.

Nach alledem war der angefochtene Beschluss aufzuheben. Zugleich war gem. § 309 Abs. 2 StPO die Feststellung der Rechtswidrigkeit der beanstandeten Anordnung veranlasst. Denn die Anordnung ist inzwischen vollzogen und der Beschwerdeführer hat ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit, da er einem erheblichen, sich allerdings typischerweise kurzfristig erledigenden Grundrechtseingriff ausgesetzt war und darüber hinaus aus der Feststellung insoweit Nutzen ziehen kann, als dass dadurch zu seinen Gunsten feststeht, dass das in Vollzug der Anordnung gewonnene Material (z.B. Lichtbilder) zu vernichten ist.“

Mann, Mann, warum braucht man dafür eine Strafkammer?

StPO I: Lange Postlaufzeit der Urteilszustellung, oder: Wir glauben dem Verteidiger/Organ der Rechtspflege

Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

Heute dann mal wieder drei StPO-Entscheidungen, aber nicht vom BGH, sondern von den sog. Instanzgerichten.

Und als erstes stelle ich den LG Hanau, Beschl. v. 12.10.2020 – 5 KLs 1136 Js 14486/17 – vor. Es geht um die Frage der rechtzeitigen Begründung einer Revision. Die Staatsanwaltschaft hatte Verwerfung beantragt, das LG hat den Antrag aber abgelehnt:

„Die Revision des Angeklagten war nicht als unzulässig nach § 346 Abs. 1 StPO zu verwerfen, weil sie nicht verspätet oder formwidrig eingelegt worden ist.

Die Revisionen beachtet die nach § 345 Abs. 2 StPO vorgeschriebene Form und ist innerhalb der Frist des § 345 Abs. 1 S. 1 StPO binnen eines Monats nach Zustellung des vollständig abgefassten Urteils bei dem Verteidiger pp. bei dem Landgericht Hanau angebracht worden. Als Zeitpunkt der Zustellung bei dem Verteidiger war das von dem Rechtsanwalt pp. mit dem 27.07.2020 bescheinigte Datum des von ihm erklärten Empfangsbekenntnisses zugrunde zu legen. Die Revisionsbegründungsschriften jeweils des Rechtsanwaltes pp. und des weiteren Rechtsanwaltes pp. aus Frankfurt am Main gingen beide als Telefax – binnen eines Monats – am 27.8.2020 bei dem Landgericht Hanau ein.

Trotz einer äußerst ungewöhnlichen Postlaufzeit an den Rechtsanwalt pp. von drei Wochen seit der Ausführung der Zustellungsverfügung durch die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle und einem zwischenzeitlich bei jenem eingegangenen und unter dem 10.8.2020 von ihm zurückgesandten Paket mit den vollständigen Akten vermag die Kammer nicht mit der notwendigen Gewissheit festzustellen, dass der Eingang der Urteilsausfertigung bei dem Rechtsanwalt pp. wahrheitswidrig bescheinigt worden und ein früherer Zugang der Ausfertigung anzunehmen ist. Zwar weisen der ebenfalls postalische Zugang des Pakets mit den Akten und die Laufzeiten sämtlicher späteren, jeweils mit Zustellungsurkunde versandten Schriftstücke (maximal fünf Tage) darauf hin, dass – auch unter Berücksichtigung zunehmend längerer Postlaufzeiten bei den Anbietern von Postdienstleistungen — die Laufzeit einer Briefsendung von drei Wochen sehr ungewöhnlich ist, zumal den Rechtsanwalt pp. auch im bisherigen Verfahren vor der Urteilsverkündung sämtliche Sendungen stets zeitnah erreichten. Gleichwohl lassen sich Unzuverlässigkeiten des beauftragten Postzustelldienstes in engen Einzelfällen nicht vollständig ausschließen. Letztlich sind bei dem als Organ der Rechtspflege unter erhöhter Wahrheitspflicht stehenden Rechtsanwalt hohe Anforderungen an die Annahme eines von ihm unzutreffend datierten Bekenntnisses des Empfangs zu stellen.

Die in den zur Akteneinsicht an den Rechtsanwalt pp. übersandten enthaltene Urschrift des Urteils kann die förmliche Zustellung nicht bewirken, weil es sich dabei nicht um eine für den Empfänger hergestellte Ausfertigung oder beglaubigte Abschrift handelt.

Auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Zugangs der in der Akte enthaltenen Urschrift kann aber auch aus dem Gesichtspunkt einer auch bei einer Notfrist eingreifenden – Heilung von Zustellungsmängeln nach § 189 ZPO nicht abgestellt werden. Denn nach dem soeben Gesagten ist die zur Zustellung bestimmte Ausfertigung mit der Übersendung der Akte gerade nicht dem Rechtsanwalt pp. zugegangen, sondern lediglich die Urschrift des Urteils war darin enthalten. Es handelt sich dabei nicht um das von § 189 ZPO vorausgesetzte Dokument. Auch die weiteren Voraussetzungen der Bestimmung liegen nicht vor. Es fehlt nämlich daran, dass – wie es das Gesetz vorsieht – die formgerechte Zustellung des Dokumentes nicht nachgewiesen werden kann oder das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen ist. Beides liegt nicht vor. Selbst ein unleserliches, ohne Datum oder mit einem unrichtigen Datum versehenes Empfangsbekenntnis berührt die Wirksamkeit der Zustellung nicht (Zöller/Stöber, ZPO, § 174 Rn. 14 m.w.N.). Die gesondert zugestellte Ausfertigung mit Zustellungswillen des Vorsitzenden ist dem Rechtsanwalt pp. aber in der gesetzlich vorgesehenen Form der Zustellung an einen Rechtsanwalt zugegangen. Zuletzt fehlt es auch an der Mitwirkungsbereitschaft des Rechtsanwaltes zur Zustellung bereits bei Erhalt der Akteneinsicht. Denn es bedarf insofern zwingend der Äußerung des Willens des Adressaten, die Sendung als zugestellt in Empfang zu nehmen (Zöller-Stöber, § 174 ZPO, Rn. 6). Allein die Veranlassung der Rücksendung der Akten lässt nicht auf einen Willen schließen, als Rechtsanwalt den Inhalt eines bestimmten Dokumentes aus den Akten zur Kenntnis zu nehmen oder dieses als tatsächlich zugegangen gelten zu lassen. Denn regelmäßig wird bei einer Akteneinsicht zweckmäßigerweise nach Durchführung des Kopierens zeitnah die Rücksendung an das Gericht veranlasst. Erst dann wird oft von dem Inhalt der Kopien Kenntnis genommen.

Dass dem Verteidiger pp. oder dem weiteren Verteidiger in sonstiger Weise bereits vor dem 27.07.2020 die Ausfertigung des Urteils zuging und er diese mit dem Willen, die Sendung als zugestellt gegen sich geltend zu lassen, in Empfang genommen hat, lässt sich nicht nachweisen.“

Also: Die Kammer „glaubt“ dem Verteidiger. Warum auch nicht?

Und wir glauben der Kammer, obwohl: Sie ist ein wenig durcheinander gekommen in den Eingangssätzen des Beschlusses. Es geht nicht um die Einlegung der Revision, sondern um deren Begründung 🙂 , das ändert aber nichts daran, dass der Beschluss richtig ist.