Archiv für den Monat: Januar 2021

Rücknahme der Revision der StA, oder: Wie ist das dann mit der Verfahrensgebühr des Verteidigers?

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Die zweite Entscheidung vom vom LG Detmold. Das hat im LG Detmold, Beschl. v. 18.12.2020 – 23 Qs-21 Js 463/18-142/20 – zur Frage des Entstehens der Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren und zur Frage der „Erstattungsfähigkeit“ der Gebühren für das Revisionsverfahren, wenn die Staatsanwaltschaft die von ihr eingelegte Revision vor der Begründung zurücknimmt. Das ist ja eine Problematik, die in der Praxis immer wieder eine Rolle spielt.

Dazu das LG:

„Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist gemäß §§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 3 und 4 RVG zulässig und auch in der Sache begründet. Dem Verteidiger steht für seine Tätigkeit im Revisionsverfahren eine Verfahrensgebühr nach Nr. 4130 VV RVG sowie die Pauschale für Post und Telekommunikation in Höhe von 609,38 EUR brutto gegen die Staatskasse zu.

1. Rechtsgrundlage für die Vergütung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger ist gemäß § 48 Abs. 1 RVG die Bestellung durch den Vorsitzenden des Gerichts (§ 141 StPO). Die Bestellung des Pflichtverteidigers endet gemäß § 143 Abs. 1 StPO grundsätzlich mit dem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens, wirkt also auch im Revisions-verfahren fort. Der Vergütungsanspruch des Pflichtverteidigers richtet sich unmittelbar gegen die Staatskasse (OLG Düsseldorf Beschluss vom 10. März 2004 — 111-2 Ws 40/05, 2 Ws 40/05 m.w.N.).

2. Die Voraussetzungen für die Geltendmachung der Verfahrensgebühr Nr. 4130 VV RVG liegen vor. Die hier zur Beurteilung stehende Tätigkeit des Verteidigers war von seiner Pflichtverteidigerbestellung umfasst. Durch die Verfahrensgebühr im Rechtsmittelverfahren werden alle Tätigkeiten des Verteidigers abgegolten, die nicht durch gesonderte Gebühren – wie z.B. Terminsgebühren für einen Hauptverhandlungstermin – erfasst sind. Dabei entsteht die Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren gemäß Nr. 4130 VV RVG bereits mit der ersten Tätigkeit des Rechtsanwalts in der Revisions-instanz (vgl. Gerold/Schmidt/Müller-Rabe RVG § 1 Rn 103; Gerold/Schmidt/Burhoff VV 4130 Rn 4). Dies entspricht dem in der amtlichen Vorbemerkung 4 Abs. 2 festgelegten Willen des Gesetzgebers, dass die Verfahrensgebühr für das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information entstehe.

a) Die vorliegend durch den Verteidiger beschriebenen Tätigkeiten wurden im Rahmen des Revisionsverfahrens erbracht. Denn die Staatsanwaltschaft Detmold hat mit Schriftsatz vom 3. September 2019 (BI. 120 d.A.) Revision gegen das Urteil des Landgerichts Detmold vom 29. August 2019 eingelegt.

Das Revisionsverfahren beginnt mit der Einlegung der Revision gemäß § 341 StPO. Nach dieser Vorschrift muss die Revision binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingereicht werden. Die Revisionseinlegung ist stets vorbehalt- und bedingungslos (Meyer-Goßner/Schmitt StPO § 341 Rn 4 und 5) und löst Gerichtskosten aus (§ 473 StPO). Die rechtzeitige Einlegung einer statthaften Revision hemmt die Rechtskraft des tatrichterlichen Urteils und bewirkt, dass ein nach Erlass des Urteils eintretendes Prozesshindernis zur Einstellung des Verfahrens führt, auch wenn die Revision nicht oder nicht ordnungsgemäß begründet wird (KK-StPO/Gericke, 8. Aufl. 2019, StPO § 341 Rn 23). Aus alledem folgt, dass mit der Einlegung der Revision der Staatsanwaltschaft die Berufungsinstanz beendet war und das Revisionsverfahren begann.

b) Der Beschwerdeführer hat rechtsanwaltliche Tätigkeiten im Rahmen des Revisions-verfahrens erbracht. Ausweislich des Empfangsbekenntnisses (BI. 129 d.A.) wurde dem Verteidiger der Revisionsschriftsatz der Staatsanwaltschaft Detmold am 4. Oktober 2019 zugestellt. Damit hat der Verteidiger die Revisionsschrift der Staatsanwaltschaft entgegengenommen und die erste Tätigkeit im Rahmen des Revisionsverfahrens entfaltet.

Der Beschwerdeführer hat den Verurteilten anlässlich der Revisionseinlegung auch bezogen auf dessen Einzelfall beraten. So hat er ihn nicht nur über die Bedeutung der Revisionseinlegung und den weiteren Verfahrensgang im Allgemeinen, sondern auch konkret über die Folgen der Revision für seine Bewährung aufgeklärt. Dies war für den Verurteilten, dem für seine Bewährung Auflagen und Weisungen aufgegeben worden sind, auch von besonderer Bedeutung. Schließlich hat der Verteidiger auch glaubhaft dargelegt, bereits Vorbereitungen hinsichtlich einer Gegenerklärung zu der zu erwartenden Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft getroffen zu haben.

c) Die dargelegten anwaltlichen Tätigkeiten waren erstattungsfähig. Dabei ist grundsätzlich nicht zu prüfen, inwieweit die gebührenauslösende Tätigkeit zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung unbedingt erforderlich war (Gerold/Schmidt/Müller-Rabe RVG § 55 Rn 53). Etwas anderes gilt nur, wenn eine Prozesshandlung völlig überflüssig oder bedeutungslos war (Gerold/Schmidt/Müller-Rabe a.a.O.). Im vorliegenden Fall waren die Tätigkeiten des Beschwerdeführers nicht nur nicht „völlig überflüssig oder bedeutungslos“, sondern zur sachgemäßen Verteidigung erforderlich.

Dies gilt zunächst bereits für die Entgegennahme der Revisionseinlegung durch die Staatsanwaltschaft. Denn durch die Revisionseinlegung wurde, wie bereits dargestellt, das Revisionsverfahren in Gang gesetzt und damit der Beratungsbedarf des Verurteilten hinsichtlich der unmittelbaren Folgen der Revisionseinlegung für ihn ausgelöst.

Auch stellt die Revisionseinlegung einen für den Fortgang der Sache wesentlichen Vorgang dar und führt dazu, dass der Verurteilte gemäß § 11 BORA hierüber ohne besondere Aufforderung durch den Verteidiger zu unterrichten ist. Die darauf folgende Beratung hinsichtlich der Wirkung des Revisionsverfahrens auf die Bewährung und die damit verbundenen Weisungen und Auflagen war objektiv notwendig. Für den Verurteilten als juristischem Laien war nicht ohne weiteres ersichtlich, welche Folgen die Revisionseinlegung für die Bewährung und insbesondere die Bewährungsauflagen haben würde. Da diese Beratung erst durch die Einlegung der Revision durch die Staatsanwaltschaft erforderlich wurde, war die Tätigkeit des Verteidigers nicht mehr durch die Gebühren des Berufungsverfahrens gedeckt. Denn ohne die Revisionseinlegung der Staatsanwaltschaft wäre die anwaltliche Tätigkeit des Pflichtverteidigers beendet und der Verurteilte hinsichtlich etwaigen Beratungsbedarfs an seinen Bewährungshelfer zu verweisen gewesen.

Schließlich war die Beratung auch unmittelbar nach Zustellung der Revisionseinlegung und nicht erst mit Eingang der Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft erforderlich. Denn Beratungsgegenstand war insoweit nicht nur die materielle Beurteilung der Erfolgsaussichten der Revision, sondern zumindest auch der Einfluss der Revisionseinlegung auf die dem Verurteilten mit dem Bewährungsbeschluss auferlegten Pflichten.

Zu der Beratung seines Mandanten war der Verteidiger berufsrechtlich vor dem Hintergrund von § 11 Abs. 2 BORA im Übrigen auch verpflichtet. Denn nach dieser Vorschrift sind Anfragen des Mandanten unverzüglich zu beantworten, wovon nur querulatorische oder gänzlich unbedeutende Anfragen ausgenommen sind (Henssler/Prütting BORA § 11 Rn 9). Querulatorisch oder gänzlich unbedeutend war der Beratungsbedarf des Verurteilten vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen indes nicht.

Des Weiteren war auch die durch den Verteidiger behauptete Vorbereitung einer Gegenerklärung zu der erwarteten Revisionsbegründung der Staatsanwaltschaft zur sachgemäßen Verteidigung zweckdienlich. Auch ohne Kenntnis der konkreten Angriffsmittel der Staatsanwaltschaft ist es – wie der Beschwerdeführer glaubhaft dargelegt hat – möglich und im Einzelfall auch sinnvoll, erste Vorbereitungen für das weitere Revisionsverfahren zu treffen. Mit der Rücknahme der Revision durch die Staatanwaltschaft oder der Versäumung der Begründungsfrist mit der Folge der Unzulässigkeit der Revision braucht die Verteidigung entgegen der Ausführungen des Amtsgerichts Lemgo, Beschluss vom 9. Oktober 2020, nicht zu rechnen.“

Der Beschluss ist richtig. M.E. hat sich das LG aber zu viel Mühe gemacht. Der Kollege war Pflichtverteidiger. Da kommt es auf die Frage der „Erstattungsfähigkeit“ der Gebühren nicht an. Das LG hat also wahrscheinlich schon mal „geübt“, wenn der Kollege Evers, der mir den Beschluss geschickt hat, für den Mandanten die Wahlanwaltsgebühren geltend macht. Aber: Die Ausführungen des LG haben natürlich auch so eine gewisse Berechtigung, weil sie sich gegen den Einwand: „sinnlose Tätigkeit“ richten.

Im Übrigen: Nicht zu früh freuen. Das LG hat die weitere Beschwerde zugelassen. Das bedeutet, dass demnächst das OLG Hamm entscheiden wird. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass der Bezirksrevisor die Entscheidung ohne weiteren Kampf hinnehmen wird.

Terminsgebühr beim Schöffengericht, oder: Es bleibt bei 150 EUR für 51 Minuten Terminsdauer

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Heute ist RVG-Tag. Da erinnere ich zunächst an mein Posting vom 02.10.2020 zum AG Saarlouis, Beschl. v. 09.09.2020 – 6 Ls 35 Js 1187119 (49/19). Zu der Entscheidung hatte ich unter: Terminsgebühr beim Schöffengericht, oder: Bei nur 51 Minuten Terminsdauer müssen 150 EUR reichen, Stellung genommen. Gegen den Beschluss vom 09.09.2020 hatte der Kollege-Gratz aus Bous, der „Betroffener“ dieser Entscheidung war, Erinnerung eingelegt.

Darüber hat nun das AG Saarlouis entschieden, und zwar im AG Saarlouis, Beschl. v. 15.01.2021 – 6 Ls 35 Js 1187/19 (49/19). Der Amtsrichter hat die Festsetzung von nur 150 EUR als Terminsgebühr bestätigt und die Erinnerung des Kollegen zurückgewiesen. Lapidare Begründung:

„Das Gericht schließ sich der ausführlichen Begründung in dem Beschluss vom 09.09.2020 an, welcher auch die einschlägige Rechtsprechung zitiert. Insbesondere ist nochmals auf die kurze Dauer der Hauptverhandlung von 51 Minuten vor dem Schöffengericht hinzuweisen, welche ein deutliches Indiz dafür ist, dass die Festsetzung der Rahmengebühr nach § 14 RVG i.V.m. Nr. 4108 W RVG auf den Betrag von 150,00 € nicht zu beanstanden ist.“

Wahrscheinlich findet das AG seine Begründung noch toll. „Einschlägige Rechtsprechung“. Welche? Die von 2004? Und welcher Kommentar? Vielleicht zitiert man mal einen aktuellen Kommentar.

Im Übrigen: Ohne (weitere) Worte.

Strafzumessung III: Schwere der Schuld im JGG, oder: Bloß „Internetjihadismus“

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Die dritte und letzte Entscheidung kommt aus Berlin vom KG. Es handelt sich um das KG, Urt. v. 30.10.2020 – (6a) 172 OJs 22/18 (1/20), und zwar mit einer ganz interessanten Frage in Zusammenhang mit derStrafzumessung im Jugendrecht, nämlich der Frage nach der Schwere der Schuld bei „Internetjihadismus“.

Das KG hat die Frage auch bei bloßer Propaganda für den militanten Jihad bejaht:

„2. Verhängung einer Jugendstrafe

Nach der gebotenen jugendspezifischen Gesamtabwägung reichte die Verhängung von Zuchtmitteln oder Erziehungsmaßregeln nicht aus. Vielmehr war gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhängen. Denn seine Schuld wiegt schwer (§ 17 Abs. 2 2. Alt. JGG).

Die Schwere der Schuld bemisst sich nach dem Gewicht der Tat und der in der Persönlichkeit des Angeklagten begründeten Beziehung zu ihr. Entscheidend ist die innere Tatseite, also inwieweit sich die charakterliche Haltung und die Persönlichkeit sowie die Tatmotivation des Jugendlichen oder Heranwachsenden in vorwerfbarer Schuld niedergeschlagen haben (vgl. BGH NStZ 2010, 281). Dem äußeren Unrechtsgehalt der Tat kommt keine selbständige Bedeutung zu. Er ist allerdings sowohl für die Beurteilung der Schuldschwere im Sinne des § 17 Abs. 2 Alt. 2 JGG als auch für die Zumessung der konkreten Jugendstrafe insofern von Belang, als aus ihm Schlüsse auf die Persönlichkeit des Täters und die Höhe der Schuld gezogen werden können (ständige Rechtsprechung des BGH, vgl. NStZ-RR 2015, 155; NStZ-RR 2001, 215; BGHR JGG § 18 Abs. 2 Tatumstände 2; BGHSt 16, 261; BGHSt 15, 224). Dabei ist zur Bestimmung der zurechenbaren Schuld des jugendlichen oder heranwachsenden Täters das Tatunrecht am Maßstab der gesetzlichen Strafandrohungen des Erwachsenenstrafrechts heranzuziehen, weil in den Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts die Bewertung des Tatunrechts zum Ausdruck kommt (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 155).

Bei der nach dieser Maßgabe vorzunehmenden Beurteilung war Folgendes zu berücksichtigen:

Der Angeklagte hat die Straftatbestände der §§ 86 Abs. 1 Nr. 2, 91 Abs. 1 Nr. 1, 129a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 Satz 2 i. V. m. 129b Abs. 1, 131 Abs. 1 Nr. 1a StGB verwirklicht. Für das nach dem Strafrahmen schwerste dieser Vergehen – Werben um Mitglieder oder Unterstützer für eine terroristische Vereinigung im Ausland – sieht § 129a Abs. 5 Satz 2 StGB im Falle der Anwendung von Erwachsenenstrafrecht Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor. Die Voraussetzungen für eine Strafmilderung nach § 129a Abs. 6 StGB liegen nicht vor, denn die Schuld des Angeklagten ist nicht gering und seine Mitwirkung war auch nicht von untergeordneter Bedeutung.

Vielmehr offenbaren die vom Angeklagten begangenen Taten im oben bezeichneten vorwiegend subjektiven Sinn schwere Schuld. Der Angeklagte zeigte sich hasserfüllt, kalt und empathielos, als er für den IS und damit seit Jahren weltweit gewalttätigste und gefährlichste terroristische Organisation warb. Dabei hatten es ihm vor allem die Brutalität und die Menschenverachtung des IS angetan, aber er wusste auch um die große Macht und die objektive Gefährlichkeit der Vereinigung für alle Andersdenkenden. Der vom Angeklagten empfundene und verbreitete Hass und der Wille unbedingter Vernichtung gegen „Ungläubige“ richtete sich dabei offen gegen große Teile seiner eigenen Lebenswelt und damit auch gegen die deutsche Bevölkerung. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Tathandlungen Versklavung, Folter und Mord Vorschub leisteten. Grausame Darstellungen menschlichen Leids befand er für besonders geeignet, als Propaganda gegen die „Ungläubigen“ und für die grenzenlose Macht eines weltweit herrschenden Islams zu dienen. Der vom Angeklagten betriebene „Internetjihadismus“ war auch kein singuläres oder kurzfristiges Ereignis mit Ausnahmecharakter. Seine Taten waren kein Augenblicksversagen, sondern von erheblicher Dauer, Stringenz und strategischer Planung gekennzeichnet. Er war, teils lesend und teils mit Administratorenrechten ausgestattet, Mitglied in Hunderten von radikalislamistischen und jihadistischen Gruppen und Kanälen. Zwar hat der Senat erkannt und gewürdigt, dass der Angeklagte geständig war. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass sich der Angeklagte offenbaren und weitgehend reinen Tisch machen wollte. Nicht festgestellt werden konnte allerdings, dass das Geständnis von tiefgreifendem Problembewusstsein, über die Oberfläche hinausgehender Reue oder gar unumkehrbarer Einsicht getragen gewesen wäre. Vielmehr deutet einiges darauf hin, dass der Angeklagte das begangene Tatunrecht nur oberflächlich reflektiert hat. Insgesamt befindet sich der Angeklagte noch am Anfang eines dringend erforderlichen Entwicklungsprozesses.“

Strafzumessung II: Fahren ohne Fahrerlaubnis, oder: „bequemliche Polizeiflucht“

Die zweite Entscheidung kommt vm OLG Hamm. Das hat im OLG Hamm, Beschl. v. 19.11.2020 – 4 RVs 129/20 – die Strafzumessung in einem Urteil des LG Münster wegen Fahren ohne Fahrerlaubnis beanstandet. Das hatte auf den der Fahrt zugrunde liegenden Anlass – Polizeiflucht – und darauf abgestellt, dass der Angeklagte „- trotz der offenen Bewährungen – allein aus Bequemlichkeitsgründen ungefähr 18 Monate nach der letzten Verurteilung durch das Amtsgericht Rheine vom 02.12.2016 erneut gegen das Verbot, ohne Fahrerlaubnis zu fahren, verstoßen hat und dabei mit seiner Polizeiflucht auch die Gefährdung Dritter Personen in Kauf genommen hat“. Das hat dem OLG nicht gefallen:

„2. Die auf die erhobene Sachrüge hin vorgenommene materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat im Rechtsfolgenausspruch jedoch durchgreifende Rechtsfehler zu Lasten des Angeklagten ergeben.

Zwar ist die Strafzumessung grundsätzlich Sache des tatrichterlichen Ermessens und daher vom Revisionsgericht nur darauf zu prüfen, ob Rechtsfehler vorliegen. Das Revisionsgericht darf daher nur eingreifen, wenn die Strafzumessungserwägungen des Urteils in sich rechtsfehlerhaft sind, wenn der Tatrichter die ihm nach § 46 StGB obliegende Pflicht zur Abwägung der für und gegen den Angeklagten sprechenden Umstände verletzt, insbesondere rechtlich anerkannte Strafzwecke nicht in den Kreis seiner Erwägungen einbezogen hat, oder die Strafe bei Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Strafrahmens unvertretbar hoch oder niedrig ist (st. Rspr. des BGH; vgl. BGH, Urteil vom 27.01.2015 -1 StR 142/14 -, juris; BGH, Urteil vom 7. Februar 2012 – 1 StR 525/11 -; BGHSt 57, 123, 127; jeweils mwN; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Auflage 2020, § 337 Rn. 34).

Solche Rechtsfehler liegen hier indes vor.

So hat das Landgericht strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte aus Bequemlichkeitsgründen mit dem Kraftfahrzeug gefahren ist. Diese Erwägung ist jedoch rechtsfehlerhaft, als sich hieraus allein noch kein auffälliges Missverhältnis von Anlass und Tat im Sinne einer „aus der Tat sprechenden Gesinnung“ gemäß § 46 Abs. 2 StGB ableiten lässt, sondern vielmehr nur das Fehlen eines triftigen Grundes für die Fahrt und damit das Fehlen nachvollziehbarer Motive strafschärfend berücksichtigt wurde.

Ferner hat das Landgericht rechtsfehlerhaft die „Flucht des Angeklagten vor der Polizei“ zu dessen Lasten gewertet. Der Versuch, sich der Strafverfolgung zu entziehen, darf aber grundsätzlich nicht zu Lasten eines Angeklagten herangezogen werden, es sei denn, das Nachtatverhalten schafft neues Unrecht oder der Täter verfolgt Ziele, die ein ungünstiges Licht auf ihn werfen, so wenn er sich damit erneut über strafrechtliche Gebote hinweg setzt (vgl. BGH, Urteil vom 27.11.2011 – 2 StR 493/10 -, juris). Hinreichende Feststellungen dazu, dass ein solches Nachtatverhalten des Angeklagten vorliegt, sind den Urteilsgründen jedoch nicht zu entnehmen. Feststellungen dazu, dass es im Rahmen der Flucht des Angeklagten vor der Polizei zu einer konkreten Gefährdungssituation für die nachfahrenden Polizeibeamten oder andere Verkehrsteilnehmer gekommen ist, sind nicht getroffen worden. Auch kann den Urteilsgründen nicht entnommen werden, dass zumindest eine abstrakte Gefährdung dergestalt bestanden hätte, dass der Angeklagte mit stark überhöhter Geschwindigkeit geflüchtet wäre. Auch liegt in der „Fluchtfahrt“ des Angeklagten keine neue Tat, die ggf. ein neues Unrecht begründen könnte, da es sich bei dem vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis um eine Dauerstraftat handelt, die grundsätzlich erst endet, wenn der Täter mit dem Weiterfahren endgültig aufhört und die Fahrtrichtungsänderung, um einer Polizeikontrolle zu entgehen, keine neue Tat beginnen lässt (vgl. BGH, NJW 1983, 1744 zur Trunkenheitsfahrt). Damit sind den Urteilsgründen im Ergebnis keine Umstände zu entnehmen, die über die abstrakte Gefährlichkeit, die mehr oder minder mit dem Vergehen gegen § 21 StVG verbunden ist und die allein nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, hinausgehen (vgl. Hühnermann in Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, § 26. Auflage 2020, § 21 StVG Rn. 51). ….“

Strafzumessung I: Widerruf in anderer Sache droht, oder: Das muss erörtert werden

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Wenn ich es richtig sehe, habe ich im neuen Jahr noch keine Strafzumessungsentscheidungen vorgestellt. Das hole ich heute nach.

Ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 09.09.2020 – 2 StR 281/20. Der BGH beanstandet eine landgerichtliche Strafzumessung als „lückenhaft“:

„a) Die Strafzumessung ist grundsätzlich Sache des Tatrichters. Es ist seine Aufgabe, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen entlastenden und belastenden Umstände festzustellen, sie zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. In die Strafzumessungsentscheidung des Tatrichters kann das Revisionsgericht nur eingreifen, wenn diese Rechtsfehler aufweist, weil die Zumessungserwägungen in sich fehlerhaft sind, das Tatgericht gegen rechtlich anerkannte Strafzwecke verstoßen hat oder sich die verhängte Strafe nach oben oder unten von ihrer Bestimmung löst, gerechter Schuldausgleich zu sein (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 10. April 1987 – GSSt 1/86, BGHSt 34, 345, 349).

Bei der Darstellung seiner Strafzumessungserwägung im Urteil ist das Tatgericht nur gehalten, die bestimmenden Zumessungsgründe mitzuteilen (§ 267 Abs. 3 Satz 1 StPO). Eine erschöpfende Aufzählung aller für die Strafzumessungsentscheidung relevanten Gesichtspunkte ist dagegen weder gesetzlich vorgeschrieben noch in der Praxis möglich (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, NStZ 2019, 138, 139; BGH, Urteil vom 2. August 2012 – 3 StR 132/12, NStZ-RR 2012, 336, 337). Ein der Strafzumessung in sachlich-rechtlicher Hinsicht anhaftender Rechtsfehler liegt jedoch dann vor, wenn das Tatgericht bei seiner Zumessungsentscheidung einen Gesichtspunkt, der nach den Gegebenheiten des Einzelfalls als bestimmender Strafzumessungsgrund in Betracht kommt, nicht erkennbar erwogen hat (vgl. BGH, Urteile vom 27. Februar 2020 – 4 StR 552/19, juris Rn. 10, vom 4. April 2019 – 3 StR 31/19, juris Rn. 15; Senat, Urteil vom 14. März 2018 – 2 StR 416/18, aaO).

b) Diesen Anforderungen wird die Strafzumessungsentscheidung des angefochtenen Urteils nicht in jeder Hinsicht gerecht. Sie erweist sich als lückenhaft.

aa) Die Strafkammer hat einerseits rechtsfehlerfrei zum Nachteil des Angeklagten unter anderem dessen strafrechtliche Vorbelastung aufgrund einer Verurteilung vom 1. Juni 2017 wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie die Begehung der neuerlichen Tat während der bis zum 31. Mai 2020 für die vorgenannte Verurteilung laufenden Bewährungszeit berücksichtigt.

bb) Sie hätte indes mit Rücksicht auf die Wirkungen der Strafe, die für das künftige Leben des Angeklagten zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), angesichts des drohenden Widerrufs der Strafaussetzung einer erheblichen Restfreiheitsstrafe auch das den Angeklagten treffende Gesamtstrafübel in den Blick nehmen und erörtern müssen (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 – 5 StR 478/14, juris Rn. 3; Senat, Urteil vom 22. August 2012 – 2 StR 235/12, juris Rn. 21; BGH, Beschlüsse vom 20. Juli 2009 – 5 StR 243/09, NStZ-RR 2009, 367, vom 9. November 1995 – 4 StR 650/95, BGHSt 41, 310, 314; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis für Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 740; MüKo-StPO/Wenske, § 267 Rn. 395). Zwar hatte der Angeklagte nach den Urteilsfeststellungen in dem zum Widerruf anstehenden Verfahren in der Zeit vom 17. Dezember 2016 bis zum 1. Juni 2017 Untersuchungshaft erlitten. Gleichwohl wird die Gesamtverbüßungsdauer durch den drohenden Bewährungswiderruf der verbleibenden Reststrafe von mehr als einem Jahr hier erheblich verlängert. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Strafausspruchs.“