Archiv für den Monat: Dezember 2020

Pflichti III: Nachträgliche Bestellung nach neuem Recht, oder: AG sind „großzügiger“

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Was wäre ein Pflichtverteidigungstag ohne Entscheidungen zur nachträglichen Bestellung eines Pflichtverteidigers. Daher dann hier zu der Porblematik noch zwei amtsgerichtliche Entscheidungen, und zwar:

Das AG Essen hat im AG Essen, Beschl. v. 19.11.2020 – 35 Ds-72 Js 1266/18-71/18 – nachträglich beigeordnet. In dem Fall hatte die Verteidigerin  beantragt, als Pflichtverteidigerin beigeordnet zu werden. Das Gericht hatte diese Entscheidung bis zur Hauptverhandlung zurück gestellt. In der Hauptverhandlung wurde eine Pflichtverteidigung dann nicht protokolliert. Das AG hate beigeordnet:

„Zwar besteht gerichtsseitig keine konkrete Erinnerung mehr darüber, ob die Entscheidung nicht getroffen oder nur nicht protokolliert wurde. Die Voraussetzungen für eine Bestellung als Pflichtverteidiger gem. § 140 Abs. 2 StPO lagen und liegen vor. Es steht für das Gericht außer Frage, dass diese Entscheidung getroffen und die Beiordnung nicht abgelehnt werden sollte.

Aus diesem Grunde muss nach Auffassung des Gerichts auch nachträglich eine deklaratorische Beiordnungsentscheidung für einen rechtzeitig gestellten Antrag möglich sein. Diese Fallkonstellation ist untypisch, so dass jedenfalls die Rechtsprechung, die einer konstitutiven nachträglichen Entscheidung entgegensteht, hier nicht entgegensteht.“

Und die zweite Entscheidung kommt vom AG Koblenz. Das hat im AG Koblenz, Beschl. v. 27.11.2020 – 30 Gs 8361/20 – die nachträgliche Bestellung – nach einer Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO – als zulässig angesehen. Begründung: Im Hinblick auf die Intention des Gesetzgebers zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung muss eine rückwirkende Bestellung zulässig sein, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde, die Voraussetzungen für eine Beiordnung vorlagen und die Entscheidung durch interne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte.

Wenn ich mir die Rechtsprechung so anschaue: Die AG sind „großzügiger“ und haben verstanden, worum es dem Gesetzgeber mit der Neuregelung der §3 140 ff. StPO gegangen ist.

Und nochmal Sondermeldung: VerfGH BaWÜ rüffelt nun OLG Karlsruhe betreffend das Einsichtsrecht in die Lebensakte des Messgeräts bei einem Rotlichtverstoß

entnommen openclipart.org

Manche Tage sind bemerkenswert. Heute ist so einer.

Erst heute Morgen die Nachricht zum BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 – (vgl. dazu Sondermeldung zum OWi: BVerfG hebt OLG Bamberg auf, oder: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen der Rohmessdaten.) Und dann jetzt der Hinweis meines Kollegen/Coautors Niehaus – ja, das ist der von „Cierniak/Niehaus“  🙂 auf den VerfGH Baden-Württemberg, Urt.  v. 14.12.2020 – 1 VB 64/17.

In dem hat nun das OLG Karlsruhe in dem Verfahren 1 Rb 7 Ss 486/17 betreffend das Einsichtsrecht in die Lebensakte des Messgeräts bei einem Rotlichtverstoß „einen hinter die Löffel bekommen“.

Mir liegt bislang nur die PM dazu vor, in der es heißt: (Edit: Inzwischen hat mir der Kollege Gratz, der die Entscheidung erstritten hat, den Volltext geschickt. Er ist verlinkt.)

„Der VerfGH Stuttgart hat entschieden, dass die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde gegen ein amtsgerichtliches Urteil durch das OLG Karlsruhe im Zusammenhang mit der Verurteilung wegen eines Rotlichtverstoßes verfassungswidrig war.

Das OLG Karlsruhe hatte mit Beschluss vom 05.09.2017 den Antrag des Beschwerdeführers auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gegen ein Urteil des AG Karlsruhe, durch das er wegen eines Rotlichtverstoßes verurteilt worden war, verworfen. Der Beschwerdeführer hatte insbesondere gerügt, dass ihm die Einsicht in die Zuverlässigkeit der Messung betreffende Unterlagen wie die sog. Lebensakte des Messgeräts sowohl von der zuständigen Ordnungswidrigkeitenbehörde als auch vom Amtsgericht versagt worden war.

Der VerfGH Stuttgart hat der Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts stattgegeben.

Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofs ist die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts, soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung der durch die Verfassung des Landes Baden-Württemberg (LV) gewährten Rechte auf effektiven Rechtsschutz und den gesetzlichen Richter rügt, zulässig und begründet.

Die Rechtsbeschwerde hätte zugelassen werden müssen. Der mit der Entscheidung über die Zulassung befasste Einzelrichter hätte die Sache gemäß § 80a Abs. 3 OWiG auf den mit drei Richtern besetzten Bußgeldsenat übertragen müssen, um die Entscheidung über eine etwaige Vorlage an den BGH nach § 121 Abs. 2 GVG zu ermöglichen. Anlass hierzu habe die von der Rechtsprechung noch nicht abschließend und auch uneinheitlich beantwortete Frage gegeben, ob und unter welchen Voraussetzungen der Betroffene ein ungeschriebenes Recht auf Beiziehung von und Einsicht in behördliche Unterlagen zur technischen Verlässlichkeit standardisierter Messverfahren (wie die sog. Lebensakte des Messgeräts sowie weitere Unterlagen zu dessen Beschaffenheit und Verwendung) habe, selbst wenn das Gericht sie nach sorgfältiger Prüfung und unter Berücksichtigung seiner Amtsaufklärungspflicht für nicht beweiserheblich halte und deshalb ihre Anforderung von der Bußgeldbehörde ablehne.

Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach Grund und Reichweite eines ungeschriebenen Rechts auf Beiziehung von und Einsicht in behördliche Unterlagen zur technischen Verlässlichkeit standardisierter Messverfahren werde in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet. BGH und BVerfG haben sich lediglich zu verwandten Fragen des Beweisrechts geäußert. Auf dieser Grundlage und aus einer spezifisch beweisrechtlichen Perspektive lehne ein Teil der Oberlandesgerichte einen solchen Verschaffungsanspruch ab. In den letzten Jahren vor dem streitgegenständlichen Beschluss haben jedoch mehrere Oberlandesgerichte die Ablehnung entsprechender Beweisanträge als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beanstandet.

Das Oberlandesgericht hätte sich in dieser Situation mit der Frage einer Vorlage an den BGH gemäß § 121 Abs. 2 GVG, § 79 Abs. 3 OWiG auseinandersetzen müssen. Zum Zwecke einer Entscheidung hierüber hätte es zugleich die Rechtsbeschwerde nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG zulassen müssen. Stattdessen habe das Oberlandesgericht eine Pflicht zur Divergenzvorlage ohne hinreichende Prüfung verneint.

Eine solche Anwendung der Vorschriften zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG) zum Zwecke einer anschließenden Vorlage an den BGH (§ 121 Abs. 2 GVG) verletze die Garantie effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht des Betroffenen auf den gesetzlichen Richter.

Als Folge der Aufhebung des Beschlusses müsse das OLG Karlsruhe über den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde erneut entscheiden.“

Da werden aber vor Weihnachten bei den Verfassungsgerichten noch einmal die Ecken richtig sauber gemacht. Wurde aber auch allmählich Zeit.

Pflichti II: Materielle Voraussetzungen der Bestellung, oder: AufenthG, DNA und ausländerrechtliche Folgen

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Im zweiten Posting dann einige Entscheidungen zu den (materiellen) Voraussetzungen der Bestellung eines Pflichtverteidigers. Und damit es nicht zu viel wird, stelle ich auch hier nur die Leitsätze der Entscheidungen vor, und zwar:

Allein der Umstand, dass das Gericht das Vorliegen eines persönlichen Strafausschließungsgrundes nach § 95 Abs. 5 AufenthG zu prüfen hat, macht die Sach- oder Rechtslage noch nicht schwierig im Sinne von § 140 Abs. 2 StPO.

KG, Beschl. v. 14.102020 – 3 Ws 226/20

Die Einholung eines Sachverständigengutachtens erfordert nicht in jedem Fall die Beiordnung eines Verteidigers. Für eine Beiordnung spricht aber, das Vorliegen eines DNA-Gutachtens, mit dem eine  kritische Auseinandersetzung erfolgen muss, die einem Laien ohne Unterstützung durch einen Verteidiger in der Regel nicht möglich sein wird.

LG Aachen, Beschl. v. 08.07.2020 – 62 Qs 41/20

  • Schwere der Tat

Zur Frage der Bestellung eines Pflichtverteidigers bei einem ausländischen Beschuldigten im Hinblick auf Verständigungsschwierigkeiten und ggf. mögliche ausländerrechtliche Folgen einer Verurteilung.

LG Kaiserslautern, Beschl. v. 27.11.2020 – 5 Qs 84/20

Sondermeldung zum OWiG: BVerfG hebt OLG Bamberg auf, oder: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen der Rohmessdaten.

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Mich weist gerade ein Leser des Blogs auf den BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18 hin. Er verhält sich zur Verfassungsbeschwerde gegen den OLG Bamberg, Beschl. v. 19.06.2019 – 3 Ss OWi 672/18 (vgl. dazu Antwort vom OLG Bamberg: Das VerfG Saarland hat keine Ahnung, oder: Von wegen der Rechtsstaat lebt).


 

Edit an dieser Stelle am 15.12.2020 um 13.30 Uhr: Inzwischen bin och schon ein paar mal gefragt worden, wer die Verfassungsbeschwerde erfolgreich geführt hat. Bislang konnte ich das nicht beantworten. Jetzt kann ich es, dass der Kollege sich bei mir mit folgender Mail gemeldet hat:

„Sehr geehrter Herr Kollege Burhoff,

vielen Dank für Ihre „Sondermeldung zum OWi: BVerfG hebt OLG Bamberg auf, oder: Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen der Rohmessdaten.“

Insbesondere durch Ihre Inspiration konnte ich meine Verfassungsbeschwerde erfolgreich gestalten. Danke!

Über eine Benennung/Verweisung/Verlinkung Ihrerseits auf meine Website
www.kanzlei-fritschi.de würde ich mich sehr freuen!“

Das tue ich doch sehr gerne und gratulieren ihm zu seinem Erfolg. Das mit der Inspiration ist ja nett, aber: Nicht ich habe die Verfassungsbeschwerde erfolgreich geführt.

Mal sehen, was die Fachgerichte daraus machen.


Und hier dann weiter: Das BVerfG führt dazu aus:

„Das Oberlandesgericht Bamberg hat die damit einhergehende Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren durch die Verwerfung der Rechtsbeschwerde nicht beseitigt.

a) Im Ausgangspunkt ist es von Verfassungs wegen zunächst nicht zu beanstanden, dass die Fachgerichte von einer reduzierten Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht der Gerichte im Fall eines standardisierten Messverfahrens ausgegangen sind.

aa) Die im Fall des Beschwerdeführers zur Anwendung gekommene Messungsmethode mit dem Messgerät der Marke PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic Dr.-Ing. Stein Bildverarbeitungssysteme GmbH, bei der unter Einsatz eines (mobilen) Messgeräts mittels scannender Laserstrahlen eine Laufzeitmessung vorgenommen wird, ist als sogenanntes standardisiertes Messverfahren anerkannt (vgl. zuletzt Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 3. April 2020 – 1 SsRs 50/19 -, juris, Rn. 9 m.w.N.; zur Funktionsweise vgl. Smykowski, NZV 2018, S. 358 <359 m.w.N.>; H.-P. Grün/M. Grün/R. Schäfer, in: Burhoff, Messungen im Straßenverkehr, 5. Aufl. 2020, § 1 Rn. 803 ff. m.w.N.).

Bei einem standardisierten Messverfahren handelt es sich um ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf derart festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind, wobei dies nicht bedeutet, dass die Messung in einem voll automatisierten, menschliche Handhabungsfehler praktisch ausschließenden Verfahren stattfindet (vgl. BGHSt 43, 277 <284>). Regelmäßig werden technische Messsysteme, deren Bauart von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt zur Eichung zugelassen ist, von den Gerichten als standardisierte Messverfahren insbesondere bei Geschwindigkeitsmessungen anerkannt (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014 – IV-1 RBs 50/14 -, juris, Rn. 9; OLG Frankfurt, Beschluss vom 4. Dezember 2014 – 2 Ss-OWi 1041/14 -, juris, Rn. 15; Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 9. Dezember 2019 – 202 ObOWi 1955/19 -, juris, Rn. 8; vgl. auch Cierniak, ZfS 2012, S. 664).

Kommt bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung ein standardisiertes Messverfahren zur Anwendung, sind nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geringere Anforderungen an die Beweisführung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte zu stellen (vgl. BGHSt 39, 291; 43, 277). Denn die Zulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt bietet bei Verwendung des Messgerätes im Rahmen der Zulassungsvorgaben nach gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich eine ausreichende Gewähr dafür, dass die Messung bei Einhaltung der vorgeschriebenen Bedingungen für den Einsatz auch im Einzelfall ein fehlerfreies Ergebnis liefert (vgl. OLG Karlsruhe, Beschluss vom 17. Juli 2015 – 2 (7) SsBs 212/15 -, juris, Rn. 6 m.w.N.; zu möglichen Auswirkungen der Änderungen des Mess- und Eichrechts vgl. Rothfuß, DAR 2016, S. 257 <259>). Wie bei allen technischen Untersuchungsmethoden, insbesondere solchen, die in Bereichen des täglichen Lebens außerhalb von Laboratorien durch „angelerntes“ Personal gewonnen werden, ist auch bei standardisierten Messverfahren eine absolute Genauigkeit, also eine sichere Übereinstimmung mit der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit, nicht möglich. Das Tatgericht muss sich deshalb bei der Berücksichtigung der Ergebnisse von Geschwindigkeitsmessgeräten bewusst sein, dass Fehler nicht auszuschließen sind. Es hat diesem Umstand durch die Berücksichtigung von Messtoleranzen Rechnung zu tragen (vgl. BGHSt 39, 291 <301>).

Davon abgesehen ist das Tatgericht nur dann gehalten, das Messergebnis zu überprüfen und sich von der Zuverlässigkeit der Messung zu überzeugen, wenn konkrete Anhaltspunkte für Messfehler gegeben sind (vgl. BGHSt 39, 291 <301>; 43, 277 <283 f.>). Wurde das Messgerät von seinem Bedienpersonal standardmäßig, also in geeichtem Zustand gemäß der Betriebsanleitung des Herstellers und den Zulassungsbedingungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt entsprechend verwendet, ist das Tatgericht auch von weiteren technischen Prüfungen, insbesondere zur Funktionsweise des Messgerätes, freigestellt (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 4. Dezember 2014 – 2 Ss-OWi 1041/14 -, juris, Rn. 16).

Die amtliche Zulassung von Messgeräten sowie die Reduzierung des gemessenen Wertes um einen – systemimmanente Messfehler erfassenden – Toleranzwert dient dem Zweck, Ermittlungsbehörden und Gerichte von der Sachverständigenbegutachtung und der Erörterung des Regelfalles zu entlasten (vgl. BGHSt 39, 291 <297>; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014 – IV-1 RBs 50/14 -, juris, Rn. 10). Bestehen keine Bedenken gegen die Richtigkeit des Messergebnisses, genügt deshalb zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes grundsätzlich die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der ermittelten Geschwindigkeit nach Abzug der Toleranz und des berücksichtigten Toleranzwertes (vgl. BGHSt 43, 277 <282>; Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 3. April 2020 – 1 SsRs 50/19 -, juris, Rn. 8 m.w.N.; Cierniak, ZfS 2012, S. 664 <666>; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 17. Aufl. 2017, § 71 Rn. 43 f. m.w.N.; Burhoff, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn. 2171 f. m.w.N.). Bei standardisierten Messverfahren sind daher im Regelfall – ohne konkrete Anhaltspunkte für eventuelle Messfehler – die Feststellungs- und Darlegungspflichten des Tatgerichts reduziert (vgl. Cierniak, ZfS 2012, S. 664 <669>; Cierniak/Niehaus, DAR 2014, S. 2; Krumm, in: Fahrverbot in Bußgeldsachen, 4. Aufl. 2017, § 5 Rn. 46). Regelmäßig umfasst der Akteninhalt der Bußgeldakte deshalb lediglich diejenigen Informationen, die zur Feststellung des Geschwindigkeitsverstoßes nach den Grundsätzen zum standardisierten Messverfahren entscheidungserheblich sind (vgl. insoweit Saarländischer VerfGH, Beschluss vom 27. April 2018 – Lv 1/18 -, juris, Rn. 30; Cierniak, ZfS 2012, S. 664 <676>; Deutscher, VRR 2013, S. 7 <10>).

Dabei bleibt der Anspruch des Betroffenen, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten verurteilt zu werden, gewahrt, wenn ihm die Möglichkeit eröffnet ist, das Tatgericht im Rahmen seiner Einlassung auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen (vgl. BGHSt 39, 291 <300>; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014 – IV-1 RBs 50/14 -, juris, Rn. 10). Durch das Stellen von Beweisanträgen, Beweisermittlungsanträgen und Beweisanregungen hat der Betroffene ausreichende prozessuale Möglichkeiten, weiterhin auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme Einfluss zu nehmen (vgl. insoweit auch OLG Bamberg, Beschluss vom 13. Juni 2018 – 3 Ss OWi 626/18 -, juris, Rn. 12).

Für einen erfolgreichen Beweisantrag muss der Betroffene konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen, wohingegen die bloß allgemeine Behauptung, die Messung sei fehlerhaft gewesen, das Gericht nicht zur Aufklärung anhält (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 11. Dezember 2006 – 2 Ss OWi 598/06 -, juris, Rn. 13; OLG Celle, Beschluss vom 26. Juni 2009 – 311 SsBs 58/09 -, juris, Rn. 12; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. Juli 2014 – IV-1 RBs 50/14 -, a.a.O, Rn. 20; Fromm, NZV 2013, S. 16 <18>; Cierniak/ Niehaus, DAR 2014, S. 2). Gleiches gilt für pauschale Behauptungen des Betroffenen ins Blaue hinein, etwa, dass das Messgerät nicht richtig funktioniert habe, die Gebrauchsanweisung nicht eingehalten oder nachträglich Eingriffe an dem Gerät vorgenommen worden seien (vgl. Krumm, in: Haus/Krumm/Quarch, Gesamtes Verkehrsrecht, 2. Aufl. 2017, II. § 77 OWiG Rn. 20; vgl. auch Deutscher, VRR 2013, S. 7 <8>; Hannich, in: Festschrift für Thomas Fischer, 2018, S. 655 <662 f.>).

bb) Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist nicht zu beanstanden.

Mit der Rechtsprechungspraxis zum standardisierten Messverfahren bei Geschwindigkeitsverstößen wird gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht jedes Amtsgericht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüfen muss (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 11. November 2016 – 2 SsOWi 161/16 (89/16) -, juris, Rn. 7). Die damit verbundene Vereinfachung des Verfahrensgangs ist bei derartigen Bußgeldverfahren indiziert (vgl. Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 15. April 2020 – 1 SsRs 16/20 -, juris, Rn. 7). Das Bußgeldverfahren als solches ist gerade im Hinblick auf seine vorrangige Bedeutung für die Massenverfahren des täglichen Lebens (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 24. März 1996 – 2 BvR 616/91 -, juris, Rn. 47) auf eine Vereinfachung des Verfahrensgangs und eine schnelle Erledigung ausgerichtet (vgl. BGHSt 39, 291 <299>; 41, 376 <381>; 43, 22 <26>; 46, 358 <368>; BT-Drucks 13/5418, S. 7; Rothfuß, DAR 2016, S. 257; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 17. Aufl. 2017, Vor § 71 Rn. 1). Anders als das Strafverfahren dient es nicht der Ahndung kriminellen Unrechts, sondern der verwaltungsrechtlichen Pflichtenmahnung, der der Ernst der staatlichen Strafe fehlt (vgl. BVerfGE 27, 18 <33>; 45, 272 <288 f.>). Es ist von Verfassungs wegen deshalb auch nicht zu beanstanden, wenn dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen wird (vgl. insoweit zu Sonderregelungen im Bußgeldverfahren auch BVerfGE 45, 272 <289>).

b) Ungeachtet dessen erweist sich der Umgang des Amtsgerichts Hersbruck mit dem Begehren des Beschwerdeführers auf Zugang zu bestimmten Informationen, die in der dem Amtsgericht vorgelegten und der Verteidigung zur Akteneinsicht überlassenen Bußgeldakte nicht enthalten, an anderer Stelle aber vorhanden waren, als verfassungswidrig. Die Fachgerichte haben dem aus dem Recht auf ein faires Verfahren resultierenden Anspruch des Beschwerdeführers auf Informationszugang auch zu den nicht zur Bußgeldakte genommenen Informationen nicht hinreichend Rechnung getragen.

aa) Ein rechtsstaatliches und faires Verfahren fordert „Waffengleichheit“ zwischen den Verfolgungsbehörden einerseits und dem Beschuldigten andererseits. Der Beschuldigte hat deshalb ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte (vgl. BVerfGE 110, 226 <253>). Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 12. Januar 1983 zu sogenannten Spurenakten gehört hierzu auch der Zugang zu den bei den Ermittlungsbehörden anlässlich des Verfahrens entstandenen Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen, die dem Gericht durch die Verfolgungsbehörde nicht vorgelegt wurden und deren Beiziehung seitens des Fachgerichts unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet wird (vgl. BVerfGE 63, 45 <66 ff.>).

(1) Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt hiernach, dass der Beschuldigte eines Strafverfahrens neben der Möglichkeit, prozessual im Wege von Beweisanträgen oder Beweisermittlungsanträgen auf den Gang der Hauptverhandlung Einfluss zu nehmen, grundsätzlich auch das Recht hat, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden (vgl. BVerfGE 63, 45 <66>). Dem Beschuldigten bietet sich auf diesem Weg auch außerhalb eines gerichtlich anhängigen Strafverfahrens eine weitgehende Möglichkeit, anlässlich der Tatermittlung entstandene Unterlagen der Ermittlungsbehörden, die nicht zum Bestandteil der Akten im Strafverfahren geworden sind, durch seine Verteidigung einsehen zu lassen. Dadurch werden seine Verteidigungsmöglichkeiten erweitert, weil er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind. Während so regelmäßig dem Informationsinteresse des Beschuldigten genügt ist, ist gleichwohl gewährleistet, dass der Ablauf des gerichtlichen Verfahrens nicht durch eine sachlich nicht gebotene Ausweitung der Verfahrensakten unverhältnismäßig erschwert oder sogar nachhaltig gefährdet wird (vgl. BVerfGE 63, 45 <67>).

Die möglicherweise außerhalb der Verfahrensakte gefundenen entlastenden Informationen können von der Verteidigung zur fundierten Begründung eines Antrags auf Beiziehung vor Gericht dargelegt werden. Der Beschuldigte kann so das Gericht, das von sich aus keine sachlich gebotene Veranlassung zur Beiziehung dieser Informationen sieht, auf dem Weg des Beweisantrages oder Beweisermittlungsantrages zur Heranziehung veranlassen (vgl. BVerfGE 63, 45 <69 f.>).

(2) Diese für das Strafverfahren geltenden Grundsätze können auf das Ordnungswidrigkeitenverfahren übertragen werden. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gewährleistet dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso wie dem Beschuldigten im Strafverfahren das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 19. März 1992 – 2 BvR 1/91 -, juris, Rn. 23).

Zwar bestehen zwischen dem Recht der Ordnungswidrigkeiten und dem allgemeinen Strafrecht wesentliche Unterschiede im Sanktionscharakter, weshalb die Strenge des anzuwendenden Maßstabs im Ordnungswidrigkeitenrecht vermindert sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 2. Juli 2003 – 2 BvR 273/03 -, Rn. 10). Im Hinblick auf den hier in Rede stehenden Zugang zu Informationen, die nicht Bestandteil der Bußgeldakten werden, sind Gründe, das ordnungswidrigkeitenrechtliche Verfahren anders zu behandeln als das Strafverfahren, allerdings nicht ersichtlich. Auch im Verfahren nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz kann der Betroffene ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Es besteht im Hinblick auf Geschwindigkeitsmessungen insbesondere kein Erfahrungssatz, dass die eingesetzten Messgeräte unter allen Umständen zuverlässige Ergebnisse liefern (vgl. BGHSt 39, 291 <300>). Die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessungen zum Einsatz kommenden Messmethoden und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung und die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte lassen das Bedürfnis der Betroffenen am Zugang zu weiteren die Messung betreffenden Informationen vielmehr nachvollziehbar erscheinen.

(3) Wenn der Betroffene demnach geltend macht, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den dem Gericht nicht vorgelegten Inhalten keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die durch seinen Verteidiger vermittelte Einsicht grundsätzlich zu gewähren sein.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Andernfalls bestünde – wie der Generalbundesanwalt zu Recht einwendet – die Gefahr der uferlosen Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerungen und des Rechtsmissbrauchs.

Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Insofern ist maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf. Die Verteidigung kann grundsätzlich jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen, wohingegen die Bußgeldbehörden und schließlich die Gerichte von einer weitergehenden Aufklärung gerade in Fällen standardisierter Messverfahren grundsätzlich entbunden sind. Es kommt deshalb insofern nicht darauf an, ob die Bußgeldbehörde oder das Gericht die in Rede stehende Information zur Überzeugung von dem Verstoß für erforderlich erachtet.

Die Bußgeldbehörden beziehungsweise die Fachgerichte haben bei entsprechenden Zugangsgesuchen hiernach im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das den Geschwindigkeitsverstoß betreffende Gesuch der Verteidigung in Bezug auf die angeforderten Informationen innerhalb dieses Rahmens hält. Etwaigen praktischen Bedenken dürfte durch eine verfahrenseffiziente Handhabung der Einsicht begegnet werden können (vgl. zu entsprechenden Ansätzen OLG Bamberg, Beschluss vom 4. Oktober 2017 – 3 Ss OWi 1232/17 -, juris, Rn. 35; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 -, juris, Rn. 11). Eine generell-abstrakte, über den Einzelfall hinausgehende Festlegung des Umfangs des Informationszugangs und der Modalitäten seiner Gewährung durch das Bundesverfassungsgericht ist insoweit weder möglich noch von Verfassungs wegen geboten.

(4) Der Gewährung eines solchen Informationszugangs können zudem gewichtige verfassungsrechtlich verbürgte Interessen wie beispielsweise die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege oder auch schützenswerte Interessen Dritter widerstreiten (vgl. auch hierzu BVerfGE 63, 45 <66>). Schließlich müssen auch unter dem Gesichtspunkt der „Waffengleichheit“ in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Verfolgungsbehörde und Verteidigung nicht in jeder Beziehung ausgeglichen werden (vgl. BVerfGE 63, 45 <67>; 63, 380 <392 f.>; 122, 248 <275>).

Die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege gebietet nicht nur die aufgezeigte Begrenzung des Umfangs des Informationszugangs, sondern findet ihren Niederschlag auch in der von dem Zugangsrecht unabhängigen Rechtsprechungspraxis zu standardisierten Messverfahren. Dieser wird durch den in Rede stehenden Informationszugang der Verteidigung auch nicht die Grundlage entzogen (entgegen OLG Oldenburg, Beschluss vom 23. Juli 2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 -, juris, Rn. 26; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 5. Juni 2019 – I OLG 123/19 -, juris, Rn. 10). Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Fachgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert. Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Entsprechend seiner Amtsaufklärungspflicht hat das Fachgericht die Korrektheit des Messergebnisses dann individuell – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – zu überprüfen und seine Überzeugung im Urteil darzulegen. Im Übrigen bleiben die Ablehnungsmöglichkeiten aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt (vgl. hierzu Cierniak/Niehaus, DAR 2018, S. 541 <544>, und die Anmerkung von Krenberger, NZV 2018, S. 80 <85>). Die Rechtsprechungspraxis zu standardisierten Messverfahren und die Ablehnungsmöglichkeiten nach § 77 Abs. 2 OWiG begrenzen insofern die Möglichkeiten der Geltendmachung der Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses unter Berufung auf die erlangten und ausgewerteten Informationen in zeitlicher Hinsicht. Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu (vgl. BVerfGE 63, 45 <67>). Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Von Verfassungs wegen ist dies nicht zu beanstanden.

Dass dort, wo ein über den Inhalt der Bußgeldakte hinausgehender Informationszugang bereits gewährt wird, die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege beeinträchtigt wäre, ist nicht ersichtlich. Insofern ist auch auf die Vielzahl fachgerichtlicher Entscheidungen hinzuweisen, die – zwar mit teils unterschiedlicher Begründung und in unterschiedlichem Umfang – davon ausgehen, dass Betroffenen auf Verlangen auch nicht bei der Bußgeldakte befindliche Informationen von den Verwaltungsbehörden zugänglich zu machen sind (vgl. hierzu die nicht abschließende Übersicht bei Burhoff, in: Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 5. Aufl. 2018, Rn. 228 ff.; Oberlandesgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5. November 2012 – 2 Ss (Bz) 100/12 -, juris, Rn. 8; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 1. März 2016 – 2 OLG 101 Ss Rs 131/15 -, juris, Rn. 17; Saarländisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 24. Februar 2016 – Ss (Bs) 6/2016 (4/16 OWi) -, juris, Rn. 7 f.; OLG Celle, Beschluss vom 16. Juni 2016 – 1 Ss (OWi) 96/16 -, juris, Rn. 5; OLG Frankfurt, Beschluss vom 11. August 2016 – 2 Ss-OWi 562/16 -, juris, Rn. 12 ff.; Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 8. September 2016 – (2 Z) 53 Ss-OWi 343/16 (163/16) -, juris, Rn. 12 ff.; wohl auch OLG Hamm, Beschluss vom 3. Januar 2019 – III-4 RBs 377/18 -, juris, Rn. 8; KG, Beschluss vom 2. April 2019 – 3 Ws (B) 97/19 -, juris, Rn. 5; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 -, juris, Rn. 28 m.w.N.; OLG Stuttgart, Beschluss vom 19. September 2019 – 1 Rb 28 Ss 300/19 -, juris, Rn. 4; OLG Dresden, Beschluss vom 11. Dezember 2019 – OLG 23 Ss 709/19 -, BeckRS 2019, 37019, beck-online, Rn. 7 ff.; wohl auch Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 3. April 2020 – 1 SsRs 50/19 -, juris, Rn. 20 ff.; OLG Koblenz, Beschluss vom 6. Juni 2020 – 2 OWi 6 SsRs 118/19 -, ZfSch 2020, S. 412; ausdrücklich offengelassen OLG Düsseldorf, Beschluss vom 22. Juli 2015 – IV-2 RBs 63/15 -, juris, Rn. 19; OLG Köln, Beschluss vom 27. September 2019 – III-1 RBs 339/19 -, juris, Rn. 11; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 5. Mai 2020 – 1 OWi 2 SsBs 94/19 -, juris, Rn. 16; ablehnend OLG Oldenburg, Beschluss vom 23. Juli 2018 – 2 Ss (OWi) 197/18 -, juris; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 5. Juni 2019 – I OLG 123/19 -, juris).

bb) In dem Verfahren des Beschwerdeführers haben die Fachgerichte bereits verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgt.

(1) Das Amtsgericht Hersbruck hat das Anliegen des Beschwerdeführers, Zugang zu solchen Informationen zum Zwecke der eigenständigen Überprüfung außerhalb des gerichtlich anhängigen Verfahrens zu erhalten, während des gesamten Bußgeldverfahrens unberücksichtigt gelassen. Das Gericht hat insbesondere im Rahmen seines Beschlusses nach § 62 OWiG, mit dem es den entsprechenden Antrag des Beschwerdeführers als unzulässig verworfen hat, keine Entscheidung über dessen Ansinnen in der Sache getroffen. Der Verweis auf die richterliche Überprüfung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs im Rahmen der Hauptverhandlung geht erkennbar am Begehren des Beschwerdeführers, eine möglichst umfassende, eigenständige Überprüfung des Messergebnisses vorzunehmen, vorbei.

Soweit sich das Gericht zu den von der Verteidigung erhobenen Einwänden in der Urteilsbegründung verhält, geschieht dies wiederum erkennbar nur unter dem Gesichtspunkt der richterlichen Amtsaufklärungspflicht. Es ging dem Beschwerdeführer allerdings nicht um die Frage, ob sich das Gericht in der Hauptverhandlung durch die Verlesung des Messergebnisses und des Messprotokolls sowie durch die Vernehmung des Messbeamten von der gefahrenen Geschwindigkeit und der Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit – unter Berücksichtigung eines Toleranzabzuges – überzeugen konnte. Da die Verteidigung des Beschwerdeführers im gesamten Bußgeldverfahren keine konkreten Anhaltspunkte für das Vorhandensein eines Messfehlers dargelegt hatte, hätte für das Amtsgericht Hersbruck grundsätzlich kein Anlass bestanden, die Beweisaufnahme auf die Beiziehung weiterer Unterlagen und Daten oder auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erstrecken. Der Beschwerdeführer wollte aber derartige Anhaltspunkte selbst ermitteln. Insofern standen nicht Aufklärungspflichten des Gerichts, sondern ein Zugangsrecht der Verteidigung zu weiteren Informationen in Rede.

(2) Auch das Oberlandesgericht Bamberg hat verkannt, dass das Begehren des Beschwerdeführers nicht darauf gerichtet war, durch die Beiziehung von Unterlagen oder Daten die richterliche Beweisaufnahme oder den Aktenumfang auszuweiten, sondern darauf, außerhalb der Beweisaufnahme einen von der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts unabhängigen Zugang zu den begehrten Informationen durch die Bußgeldstelle zu erreichen.

Die Verteidiger des Beschwerdeführers haben diesen Anspruch auf Zugänglichmachung weiterer Informationen auch frühzeitig vor der Hauptverhandlung gegenüber der Bußgeldstelle und mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG geltend gemacht. Nach Ablehnung dieses Begehrens noch im behördlichen Verfahren und anschließend durch das Fachgericht war der Beschwerdeführer zwar gezwungen, sein Begehren in der Hauptverhandlung erneut vorzubringen. Dem Beschwerdeführer ging es aber erkennbar um Informationsparität im Verhältnis zur Verwaltungsbehörde und nicht um „Waffengleichheit“ mit dem Gericht. Bei verständiger Auslegung des mit dem Aussetzungsantrag verbundenen Vorbringens kam es ihm weiterhin ausschließlich auf die Zugänglichmachung zu den außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen durch die Bußgeldstelle an. Die von Beginn des Bußgeldverfahrens an gestellten Anträge waren weder auf eine Beiziehung und Erweiterung des Akteninhalts durch das Amtsgericht Hersbruck noch auf eine bestimmte Beweiserhebung in der Hauptverhandlung gerichtet. Es ging der Verteidigung um die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messergebnisses mittels der bei der Bußgeldstelle vorhandenen Informationen. Hierbei handelte es sich nicht um Beweis(ermittlungs)anträge. Das vom Beschwerdeführer bereits im behördlichen Bußgeldverfahren geltend gemachte und vor Gericht weiterverfolgte Informationsbegehren durfte deshalb auch nicht unter Heranziehung der für die gerichtliche Beweisaufnahme nach § 77 OWiG geltenden Anforderungen unter Hinweis auf das Fehlen konkreter Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses bewertet werden.

Dem Beschwerdeführer kam es gerade darauf an, durch die eigenständige Überprüfung der begehrten Informationen derartige Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses erst zu ermitteln, um diese dann – gegebenen-falls – vor Gericht darlegen und dessen Amtsaufklärungspflicht auslösen zu können. Die fehlende Differenzierung des Oberlandesgerichts Bamberg zwischen Beweis(ermittlungs)antrag und dem Begehren auf Informationszugang lässt unberücksichtigt, dass die Verteidigungsinteressen des Betroffenen nicht identisch mit der Aufklärungspflicht des Gerichtes in der Hauptverhandlung sind und deutlich weitergehen können (vgl. hierzu KG, Beschluss vom 27. April 2018 – 3 Ws (B) 133/18 -, juris, Rn. 4; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16. Juli 2019 – 1 Rb 10 Ss 291/19 -, juris, Rn. 28; Cierniak, ZfS 2012, S. 664 <670>; Wendt, NZV 2018, S. 441 <445>). Dies führt im vorliegenden Fall dazu, dass der Verweis auf die auch bei standardisierten Messverfahren vorhandenen prozessualen Möglichkeiten des Betroffenen, weiterhin Einfluss auf Inhalt und Umfang der Beweisaufnahme zu nehmen, entwertet wird.

c) Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg beruht hiernach auf einer Verkennung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Es ist auch nicht auszuschließen, dass bereits die Verurteilung des Beschwerdeführers auf dem Verstoß des Amtsgerichts Hersbruck gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beruht.2

Ich habe es noch nicht alles gelesen. Aber eins scheint mir sicher 🙂 . Das BVerfG sieht es dann doch wohl etwas weiter/anders als das OLG Bamberg und die anderen OLG. Mal sehen, ob man jetzt auch wieder schreibt: Die haben in Karlsruhe keine Ahnung.

Pflichti I: Zweimal BGH zum Pflichtverteidiger(wechsel), oder: Voraussetzungen und Zuständigkeit

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Heute dann noch einmal/mal wieder ein Pflichtverteidigungstag.

Den eröffne ich mit zwei BGH-Entscheidungen, die beide zum Pflichtverteidigerwechsel Stellung genommen haben.

Und ich beginne mit dem BGH, Beschl. v. 12.11.2020 – StB 39/20. Es geht um die Bestellung des Wahlverteidigers als weiterer Pflichtverteidiger. Der Ermittlungsrichter hatte dem Beschuldigten mit dessen Einverständnis einen Pflichtverteidiger bestellt. Dagegen dann der Antrag des (späteren) Wahlverteidigers, ihn beizuordnen. Der Antrag hatte keinen Erfolg:

„Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, da kein Grund für eine Bestellung des Wahlverteidigers als (weiterer) Pflichtverteidiger besteht.

1. Die sofortige Beschwerde ist als Rechtsmittel sowohl des Beschuldigten als auch seines Wahlverteidigers auszulegen; denn dieser hat in der Beschwerdeschrift ausgeführt, dass der „vorliegende Antrag […] auch als Antrag des Beschuldigten gelten“ solle. Nachdem im angefochtenen Beschluss allein der Wahlverteidiger als Antragsteller aufgeführt war, ergibt sich aus der Formulierung und dem Gesamtzusammenhang, dass der Antrag auf die Pflichtverteidigerbestellung ebenso wie das zu deren Durchsetzung eingelegte Rechtsmittel vom Beschuldigten selbst und vom Wahlverteidiger in eigenem Namen herrühren.

2. Die sofortige Beschwerde des Beschuldigten ist gemäß § 142 Abs. 7 Satz 1, § 143a Abs. 4, § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1, § 306 Abs. 1, § 311 Abs. 1 und 2 StPO zulässig (vgl. hinsichtlich der Bestellung als zusätzlicher Pflichtverteidiger BGH, Beschluss vom 31. August 2020 – StB 23/20, juris Rn. 7 f.; hinsichtlich eines Verteidigerwechsels BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 – StB 4/20, StraFo 2020, 199). Nähere Ausführungen zur Beschwerdebefugnis des Wahlverteidigers (s. dazu BGH, Beschlüsse vom 31. August 2020 – StB 23/20, juris Rn. 9; vom 18. August 2020 – StB 25/20, NJW 2020, 3331) sind angesichts der insgesamt fehlenden Begründetheit des Rechtsmittels entbehrlich.

3. Es liegen keine Gründe für die Bestellung des Wahlverteidigers als zusätzlicher Pflichtverteidiger oder für einen Pflichtverteidigerwechsel vor.

a) Die Bestellung eines weiteren Verteidigers ist nicht im Sinne des § 144 Abs. 1 StPO erforderlich. Insoweit wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug genommen.

b) Die Voraussetzungen für einen Verteidigerwechsel nach § 143a Abs. 2 Satz 1 StPO sind ebenfalls nicht gegeben. Ein davon unabhängiger, „konsen- sualer“ Pflichtverteidigerwechsel kommt ungeachtet der sonstigen Anforderungen allenfalls in Betracht, wenn er kostenneutral ist (vgl. BT-Drucks. 19/13829 S. 49; OLG Stuttgart, Beschluss vom 25. Oktober 2017 – 2 Ws 277/17, Justiz 2018, 555 mwN). Zwar hat der Wahlverteidiger in seiner ursprünglichen Antragsschrift vorgebracht, „eine Verteidigerumbestellung wird nicht zu einer Mehrbelastung der Justizkasse führen“. Dies ist aber, wie bereits im angefochtenen Beschluss dargelegt, nicht belegt. Soweit ein Verzicht des Pflichtverteidigers auf seine Vergütung zu erwägen ist, hat der derzeitige Wahlverteidiger einen solchen nicht erklärt. Dieser liegt nach den konkreten Umständen insbesondere nicht in dem pauschalen Satz, es werde nicht zu einer Mehrbelastung kommen. Obschon die entsprechenden Ausführungen des Ermittlungsrichters und des Generalbundesanwalts in seiner Stellungnahme dazu Anlass gegeben hätten, hat sich der Wahlverteidiger dazu im Folgenden, etwa in der ergänzenden Beschwerde- begründung, nicht weiter erklärt. Der bisherige Pflichtverteidiger hat inzwischen ausdrücklich mitgeteilt, auf bereits angefallene Gebühren nicht zu verzichten.“

Und von der zweiten Entscheidung, dem BGH, Beschl. v. 12. 11. 2020 – StB 34/20 – stelle ich nur den Leitsatz ein. Entschieden wird die Frage der Zuständigkeit für den Pflichtverteidigerwechsel nach Anklageerhebung. Dazu der BGH in Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung:

Zur Entscheidung über den Pflichtverteidigerwechsel ist nach Anklageerhebung ausschließlich der Vorsitzende des erkennenden Gerichts zuständig; nicht erledigte Beschwerden gegen insoweit ergangene Beschlüsse des Ermittlungsrichters sind ihm deshalb zur weiteren Entscheidung vorzulegen.