Archiv für den Monat: März 2017

Nacktkontrollen im Strafvollzug, oder: Ausnahmen müssen sein

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Ich habe schon länger nicht mehr über Entscheidungen zum/aus dem Strafvollzug berichtet. Das will ich dann heute nachholen. Ich eröffne den Reigen mit dem schon etewas älteren BVerfG, Beschl. v. 05.11.2016 – 2 BvR 6/16. Es geht um die Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen, die sich gegen dessen Durchsuchung vor dem Gang zu einem Besuch richtete. Der Strafgefangene musste sich dafür vollständig entkleiden, die körperliche Durchsuchung umfasste auch eine Inspektion der Körperöffnungen. Grundlage der Durchsuchung war eine gemäß Art. 91 Abs. 2 Satz 1 BayStVollzG erlassene Durchsuchungsanordnung, wonach jeder fünfte Gefangene und Sicherungsverwahrte vor der Vorführung zum Besuch zu durchsuchen sei. Der Strafgefangene hatte sich dagegen gewehrt, mit seinen Rechtsmitteln aber weder beim LG noch beim OLG Erfolg. Erst das BVerfG hat dem – zumindest vorerst – Einhalt geboten. Dazu aus der PM des BVerfG:

„1. Der Beschluss des Landgerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG).

a) Durchsuchungen, die mit einer Entkleidung verbunden sind, stellen einen schwerwiegenden Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dar. Dies gilt in besonderem Maße für Durchsuchungen, die mit einer Inspizierung von normalerweise verdeckten Körperöffnungen verbunden sind. Diese Wertung liegt auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zugrunde, die bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu berücksichtigen ist. Mit Entkleidungen und der Inspektion von Körperöffnungen verbundene Durchsuchungen können durch die Erfordernisse der Sicherheit und Ordnung der Haftanstalt gerechtfertigt sein. Insofern erlaubt Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG im Einzelfall die mit einer Entkleidung verbundene körperliche Durchsuchung von Gefangenen auf Anordnung des Anstaltsleiters. Die Definition des „Einzelfalls“ wird sehr weit gefasst, was verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, solange nicht fast alle Gefangenen von der Anordnung betroffen sind. Demnach ist für eine Einzelfallanordnung ausreichend, dass sie durch Ort, Zeit, Art und Umfang der Maßnahme im Einzelnen so bestimmt abgegrenzt werden kann, dass dadurch für jeden denkbaren Einzelfall erkennbar ist, worin die Maßnahme im Einzelnen besteht und welcher Gefangene ihr unterworfen sein soll.

b) Vor diesem Hintergrund ist das Landgericht vertretbar davon ausgegangen, bei der Durchsuchungsanordnung vom 17. Mai 2015 handele es sich um eine Einzelfallanordnung im Sinne des Art. 91 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 BayStVollzG. Allerdings verletzt die Anordnung der Durchsuchung das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers, weil sie keine Abweichungen zulässt und daher dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht ausreichend Rechnung trägt. Mit Blick auf den weiten Begriff des „Einzelfalls“ hätte die Verfügung der Anstaltsleitung erkennen lassen müssen, dass von der Anordnung der Durchsuchung jedes fünften Gefangenen ausnahmsweise abgewichen werden kann. Um einen gerechten Ausgleich zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der Wahrung der Intimsphäre des Gefangenen und dem Sicherheitsinteresse der Vollzugsanstalt zu erreichen, hätte den die Durchsuchungsanordnung vollstreckenden Vollzugsbeamten durch den Wortlaut der Anordnung zumindest die Möglichkeit belassen werden müssen, von ihr abzuweichen, wenn die Gefahr des Missbrauchs des Besuchs fernliegt.

c) Die Entscheidung der Frage, ob die Justizvollzugsanstalt vorliegend zu Gunsten des Beschwerdeführers von der getroffenen Anordnung hätte abweichen müssen, da die Gefahr eines Missbrauchs des Besuchs durch den Beschwerdeführer fernliegend war, obliegt den Fachgerichten. Dies ist insbesondere mit Blick darauf, dass der Beschwerdeführer sich bei dem Empfang von Besuchen in der Vergangenheit bewährt hatte, jedenfalls nicht ausgeschlossen.“

Dazu passt dann ganz gut der OLG Hamm, Beschl. v. 03.11.2016 – 1 Vollz (Ws) 385/16.

PoliscanSpeed – OLG-Beschluss „widerspricht jedenfalls der technischen Realität“, oder: Die Karawane zieht weiter

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Ich hatte gestern über den den OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.01.2017 – 1 OWi 1 Ss Bs 53/16 berichtet, der zum AG Mannheim, Beschl. v. 29.11.2016 – 21 OWi 509 Js 35740/15 – (vgl. Mal wieder Poliscan Speed, oder: Verstoß gegen Bauartzulassung = keine Verurteilung/Einstellung und „AG Mannheim und das Ende des standardisierten Messverfahrens?“) Stellung genommen hat (vgl. hier OLG Zweibrücken: Poliscan ist/bleibt standardisiert, oder: Teufelskreis bzw: Bock zum Gärtner machen?).

Und: Die Karawane zieht weiter bzw. das Hamsterrad läft weiter. Und zwar wie folgt:

Der Kollege Pahlke aus Dresden hat mir vorhin eine Stellungnahme des Dipl. Ing. R. Bladt v. 10.02.2017 zu dem OLG Zweibrücken-Beschluss übersandt, mit der sich der Sachverständigen an das OLG „gewendet“ und dargelegt hat, warum das OLG irrt. Der Eingangssatz der Stellungnahme ist bemerkenswert: „…. Eine nachvollziehbare Begründung fehlt jedoch vollständig.“

Und das Fazit – das Übrige bitte selbst lesen:

„Das Pfälzische OLG Zweibrücken lässt die Frage offen, auf welchen konkreten technischen Erkenntnissen die Entscheidung beruht, wenn es sich (nur) auf die beiden Erklärungen der PTB stützt, in denen die Abweichung der Messwertbildung zur Bauartzulassung sogar bestätigt werden.

Zudem hat die umfassende Beweisaufnahme durch Befragung des Herstellers und Vertreters der PTB am AG Mannheim zweifelsfrei ergeben, dass diese Abweichungen von der Bauartzulassung tatsächlich bestehen. Wie das OLG Zweibrücken dennoch ungeachtet der Ergebnisse der Beweisaufnahme am AG Mannheim an seiner gegenteiligen Auffassung festhalten kann, wird nicht begründet.

Der Beschluss widerspricht jedenfalls der technischen Realität. Wie dieser Beschluss als Basis für die weitere Rechtssprechung dienen soll, ist nicht nur für Sachverständige nicht nachvollziehbar.“

Inzwischen hat auch schon das OLG geantwortet:

„Sehr geehrter Herr Bladt,
eine Erläuterung gerichtlicher Entscheidungen ist im Gesetz nicht vorgesehen. Erst recht gilt dies gegenüber Personen, die an dem betreffenden Verfahren nicht beteiligt waren. Da mir Ihre Auffassung zu der Bauartzulassung des Geschwindigkeitsmessgerätes PoliScan Speed nunmehr konkret bekannt ist, werde ich allerdings in der nächsten Entscheidung des Senats zu einer Geschwindigkeitsmessung mit diesem Gerät insbesondere zur Bedeutung der Begriffe Fehlmessung und Strukturfehler unter Berücksichtigung der von Ihnen zitierten Entscheidung des OLG Frankfurt eingehen und Ihnen diese in anonymisierter Form zukommen lassen.

Mit freundlichen Grüßen Der Vorsitzende
(Wilhelm)
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht“

Wie gesagt: Die Karawane zieht weiter – ich – und wahrscheinlich nicht nur ich – bin gespannt. Die Stellungnahme macht das OLG sicher ohne Sachverständigen. Kann man ja auch, denn beim OLG sitzt ja der geballte technische Sachverstand. 🙂

Das Geständnis beim Polizeibeamten, oder: die List ist erlaubt, die Lüge nicht

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Ich hatte vor einigen Tagen ja schon über den BGH, Beschl. v. 25.10.2016 – 2 StR 84/16 berichtet (vgl. hier Klassiker II: Mal wieder rechtlicher Hinweis nicht erteilt). Auf die Entscheidung komme ich heute wegen eines obiter dictum des BGH bzw. einer Segelanweisung noch einmal zurück. Es geht um die Verwertbarkeit eines Geständnisses des Angeklagten. Der BGh sieht es als unverwertbar an, und zwar:

„Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich auf Folgen-des hin:

Das vom Angeklagten abgelegte polizeiliche Geständnis vom 23. Juli 2014 ist unter Verstoß gegen § 136a Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 StPO zustande gekommen und daher unverwertbar. Der Vernehmungsbeamte hatte den Angeklagten in seiner ersten Beschuldigtenvernehmung mehrfach darauf hingewiesen, dass er ihn zwar nicht für einen „Mörder“ halte, dass die Tat aber angesichts der gravierenden Verletzungsfolgen und des Nachtatverhaltens wie ein „richtiger, klassischer Mord“ erscheine, wenn er – der Beschuldigte – dies nicht richtigstelle und sich zur Sache einlasse. Daraufhin äußerte sich der Beschuldigte zur Sache und räumte den äußeren Tatablauf weitgehend ein.

Diese Verfahrensweise war mit § 136a Abs. 1 StPO, der nach § 163a Abs. 4 Satz 2 StPO auch für Polizeibeamte gilt, nicht zu vereinbaren. Zwar schließt § 136a Abs. 1 Satz 1 StPO nicht die Anwendung jeder List bei einer Vernehmung aus. Die Vorschrift verbietet aber eine Lüge, durch die der Beschuldigte bewusst irregeführt und in seiner Aussagefreiheit beeinträchtigt wird. Weiß der Vernehmende, dass aufgrund der bisherigen Ermittlungen kein dringender Tatverdacht bezüglich eines Mordes besteht, erklärt aber trotzdem, die vorliegenden Beweise ließen dem Beschuldigten keine Chance, er könne seine Lage nur durch ein Geständnis verbessern, so täuscht er ihn über die Beweis- und Verfahrenslage (BGH, Urteil vom 24. August 1988 – 3 StR 129/88, BGHSt 35, 328). So liegt es hier. Ausweislich des den Verwertungswiderspruch zurückweisenden Beschlusses des Schwurgerichts hatte der Vernehmungsbeamte in seiner Vernehmung glaubhaft erklärt, dass die Polizeibeamten „selbst damals zunächst nicht von Mordmerkmalen ausgegangen seien, sondern von einer spontanen Tat, einer Affekttat oder einer Beziehungstat. Mordmerkmale hätten sich für sie erst nach dem Geständnis des Angeklagten offenbart.“ Damit steht fest, dass der Angeklagte bewusst darüber getäuscht worden ist, dass zureichende Anhaltspunkte für den Tatvorwurf des Mordes bestünden.“

Liest man selten, dass der BGH ein Geständnis als unverwertbar ansieht.

Vorschnell, oder: Ist der nicht erschienene Zeuge wirklich unerreichbar?

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Ein wenig früh/vorschnell hatte in einem beim LG Aachen anhängigen Verfahren mit dem Vorwurf der besonders schweren räuberischen Erpressung die Strafkammer die Flinte in Korn geworfen, als es ihr trotz aller Bemühungen um die Ladung eines Zeugen nicht gelungen ist, den in die Hauptverhandlung zu bekommen und den vermeintlich einfacheren Weg über die Ablehnung des entsprechenden Beweisantrages wegen Unerreichbarkeit gegangen. Das Verfahrensgeschehen war wie folgt:

In der Hauptverhandlung vom 07.04.2015 stellte der Verteidiger des Angeklagten G. einen Beweisantrag, der sich aus einer Vielzahl von unter Beweis gestellten Behauptungen zusammensetzte und unmittelbar auf das Tatgeschehen auf einem Parkplatz bezog, auf dem sich neben dem Angeklagten „mehrere andere Personen“, die nur teilweise mit vollständigem Namen bekannt seien, aufhielten. Im Beweisantrag selbst war zunächst nur ein Zeuge namentlich aufgeführt. Später wurden drei weitere als Zeugen in Betracht kommende Personen benannt, darunter ein „M. “ (Nachname nicht bekannt), H. straße, E., genannt „P.“. Der Vorsitzende erklärte nach Einholung einer Stellungnahme der Staatsanwaltschaft, dass die zum Beweisantrag genannten Zeugen zum nächsten Hauptverhandlungstermin geladen würden. Am darauf folgenden Hauptverhandlungstag, dem 10.04.2015, wurden – mit Ausnahme des „M. “ – die als Zeugen im Beweisantrag aufgeführten Personen in der Hauptverhandlung vernommen. Der noch am 08.04.2015 geladene Zeuge M. D. , der der „P. “ sein solle, erschien nicht. Es gelang in der Folgezeit nicht, diesen Zeugen zu laden. Auch eine Einwohnermeldeamtsanfrage bzgl. „M. B., E., alternative Schreibweisen M. B., M. B., M. B. “ bzw. „M. D. “ blieb erfolglos. Es gelang auch nicht den Zeugen unter anderen Anschriften zu laden. Ein als Zeuge geladener M.D. erschien nicht in der Hauptverhandlung. Die Strafkammer hat dann den auf den Zeugen „M. “ bezogenen Beweisantrag zurückgewiesen. Dieser sei unerreichbar.

Das BGH, Urt. v. 02.11.2016 – 2 StR 556/15 – hebt das landgerichtliche Urteil mit einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren auf. Begründung: Vorschnelle Ablehnung des Beweisantrages. Dazu:

  • Der BGH bejaht (zunächst) das Vorliegen eines Beweisantrages. Der als Zeuge benannte „M. “ sei durch die Angabe der genauen ladungsfähigen Anschrift, unter der nur eine Person mit diesem Vornamen gemeldet war, sowie durch die Angabe des Spitznamens hinreichend individualisiert. Es fehle auch nicht an der Konnexität zwischen Beweistatsache und Beweismittel. Nach dem Inhalt des Beweisantrags seien als Zeugen für den unter Beweis gestellten Sachverhalt ersichtlich jeweils nur Personen benannt, die vor Ort anwesend gewesen seien und das Geschehen insgesamt beobachtet haben sollten. Es liege angesichts dessen auf der Hand, dass sie und damit auch der Zeuge „M. “ zu den unter Beweis gestellten Tatsachen Angaben machen können.
  • Nach Auffassung des BGH hat das LG den Beweisantrag nicht mit der gegebenen Begründung zurückweisen dürfen. Der Zeuge „M. “ sei nicht unerreichbar gewesen. Unerreichbar sei ein Zeuge, wenn alle Bemühungen des Gerichts, die der Bedeutung und dem Wert des Beweismittels entsprechen, zu dessen Beibringung erfolglos geblieben sind und keine begründete Aussicht besteht, es in absehbarer Zeit herbeizuschaffen. Und an der Stelle nimmt der BGH das LG in die (weitere) Pflicht und verlangt weitere Anstrengungen des LG, die nach seiner Auffassung auch nicht von vornherein aussichtslos gewesen wären. Der Zeuge habe offensichtlich in der Wohnung gelebt, ohne dass es einen Anhalt für ein mögliches Verschwinden gegeben hätte. Versuche der Polizei, ihn vor Ort aufzusuchen, ggf. eine weitere Vorführungsanordnung oder die Androhung von Maßnahmen zur Erzwingung des Zeugnisses wären nicht von vornherein vergebliche Schritte gewesen, die beantragte Beweiserhebung in einer überschaubaren Zeitspanne zu ermöglichen. Der voreilige Verzicht hierauf lasse – so der BGH – besorgen, dass das LG die Bedeutung des Beweismittels, die der BGH, da es sich um einen unmittelbaren Tatzeugen gehandelt haben soll, unzutreffend eingeschätzt und damit vorschnell vom Vorliegen von Unerreichbarkeit ausgegangen sei.