Archiv für den Monat: Januar 2016

Fesselung bei der Darmentleerung, oder: Habt Ihr sie denn noch alle,…..?

© Birgit Reitz-Hofmann - Fotolia.com

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Nach dem  LG Kleve, Beschl. v. 07.12.2015 – 182 StVK 1/15 betreffend die Zulässigkeit der Fesselung eines Untergebrachten bei dessen Vorführung zu einem Anhörungstermin bei der StVK (vgl. dazu Fesselung eines Maßregelpatienten bei der Vorführung?, oder: Hat das OLG Hamm seine Hausaufgaben nicht gemacht?), nun das LG Marburg, Urt. v. 22.09.2015 – 7 O 112/11. In ihm geht es um die Zahlung einer angemessenen Entschädigung wegen einer Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts eines Verurteilten. Verlangt hat der Verurteilte 5.000 € auf der Grundlage folgenden Sachverhalts:

„Der Kläger verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes mit anschließender Sicherheitsverwahrung in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt. Während der gesamten bis zum streitgegenständlichen Vorfall dreizehnjährigen Haftdauer gab es keine Ereignisse, die auf einen Fluchtwillen hindeuteten.

Am 19.11.2009 wurde der Kläger aufgrund plötzlich aufgetretener krampfartiger Schmerzen im Unterleib in die Asklepios-Klinik Schwalmstadt verbracht. Auf Anweisung der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt wurden dem Kläger Hand- und Fußfesseln angelegt und zudem ständige und unmittelbare Bewachung angeordnet. Die Fesselung wurde während der ärztlichen Untersuchung und Behandlung, bei der der Kläger Einläufe erhielt, beibehalten.

Zur Bewachung des Klägers befanden sich mindestens sechs Polizeibeamte in dem Behandlungszimmer, die das Zimmer auch während der Verabreichung der Einläufe nicht verließen und somit Zeuge der für den Kläger unangenehmen Prozedur wurden. Im Anschluss an die Einläufe wurde dem Kläger nicht gestattet, den im Behandlungszimmer befindlichen fensterlosen Toilettenraum aufzusuchen. Es wurde auf Weisung der bewachenden Polizeibeamten ein Toilettenstuhl in das Behandlungszimmer gebracht, auf dem der Kläger in Gegenwart der Polizeibeamten seine Notdurft verrichtete. Auch während dieses Vorgangs blieb die Fesselung an Händen und Füßen bestehen. Gegenüber dem Hinweis des Klägers, eine Flucht sei nicht beabsichtigt, verwiesen die Beamten auf die Anordnung der Fesselung. Im Anschluss daran wurde der Kläger zur weiteren Behandlung in das Vollzugskrankenhaus nach Kassel transportiert.

Mit Beschluss vom 07.05.2010 hat die 7. Strafkammer – Strafvollstreckungskammer – des Landgerichts Marburg/Lahn festgestellt, dass die Sicherungsmaßnahmen anlässlich des Krankenhausaufenthaltes am 19.11.2009, soweit diese von der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt veranlasst waren, rechtswidrig waren (Beiakte 7a StVK 262/09, Bl. 8f. d. A.).

Der Kläger begehrt eine angemessene Entschädigung, wobei er sich einen Betrag in der Größenordnung von 5.000 € vorstellt. Der Kläger ist der Auffassung, dass die massive Bewachung eine Fluchtgefahr ausgeschlossen habe. Die Weigerung, dem Kläger die Nutzung des fensterlosen Toilettenraumes zu gestatten, habe ihn in seinen Rechten verletzt. Die Rechtsverletzung zwinge zur Gewährung einer Geldentschädigung. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit sei nicht geeignet, ihm zureichende Genugtuung und Wiedergutmachung zu vermitteln.“

Wenn man das liest, möchte man den Polizeibeamten noch nachträglich zurufen: „Habt Ihr sie noch alle, schon mal was von Menschenwürde gehört?“ Das LG gewährt dann auch eine Entschädigung, aber nur in Höhe von 2.500 €, was mir verhältnismäßig niedrig erscheint. Wenn man dann liest, mit welchen Argumenten das LG sich in dem Zusammenhang auseinandersetzen muss, dann weiß man, was das beklagte Land vorgetragen hat. Und dann möchte man denen, die das im Verfahren als Erwiderung verfasst haben, noch mal rufen: „Habt Ihr sie denn noch alle, ……“ Allein, dass der Kläger Klage erheben musste, ist m.E. schon ein Unding, aber dann offenbar u.a. auch noch folgende Argumente des Landes:

„Die Fesselung des Klägers während der Behandlung begründete sowohl mit Blick auf das Krankenhauspersonal als auch auf die anwesenden Vollzugs- und Polizeibeamten eine Bloßstellung und damit auch eine Entwürdigung. Hierbei ist davon auszugehen, dass angesichts der zahlenmäßigen Übermacht der Beamten, der gesundheitlichen Beeinträchtigung des Klägers und der Behandlungsmaßnahmen eine Flucht oder eine Gefährdung Dritter nahezu ausgeschlossen war.

Mit dem Argument, ein Patient empfinde die Zuwendung einer ärztlichen Behandlung mit einer gewissen Erleichterung und Dankbarkeit lässt sich die Beeinträchtigung nicht relativieren, da eine solcherart empfundene Dankbarkeit nicht auch auf eine Fesselung und die Beobachtung durch die anwesenden Beamten bezogen ist. Gegen die Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle spricht auch nicht, dass das medizinische Personal der Verschwiegenheitspflicht unterlag. Der Kläger wendet sich nicht primär gegen die Beobachtung durch medizinisches Personal, sondern gegen die Fesselung während der Behandlung und die Beobachtung durch umstehende Beamte der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt und des Sondereinsatzkommandos der Polizei. Die durch Fesselung und Überwachung mit mehreren Beamten begründete Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechtes des Klägers ist auch nicht mit der weithin üblichen Behandlung in einem Zweibettzimmer zu vergleichen. Ungeachtet des Umstandes, dass deutlich mehr Personen als ein gedachter Mitpatient anwesend waren, ist der Krankenhausbetrieb im Regelfall in der Lage, durch mobile Trennwände oder ähnliche Maßnahmen auch in einem Zweibettzimmer eine abgeschirmte Behandlungssituation zu gewährleisten, wenn dies der Zustand des Patienten oder die Behandlung erfordern. Bedeutung für das Ausmaß der Beeinträchtigung im Einzelfall hat allerdings der vom Kläger selbst vorgetragene Umstand, dass er aufgrund der Schmerzen genauere Erinnerungen an die Einzelheiten der Situation nicht mehr hat (Bl. 33 d. A.). In diesem Zusammenhang muss auch Berücksichtigung finden, dass die bloßstellende Behandlung unter fortdauernder Fesselung allenfalls einen kurzen Zeitraum von wenigen Stunden andauerte.

Auch mit Blick auf das Maß der Sorgfaltspflichtverletzungen sprechen die überzeugenderen Gründe für die Annahme einer Entschädigungspflicht. Die Anordnung einer ununterbrochenen Fesselung bzw. die Außerachtlassung derjenigen Aspekte, die zur wenigstens kurzzeitigen Lockerung der Fesselung drängten, kann als qualifizierte Sorgfaltsverletzung angesehen werden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf die Aufrechterhaltung der Fesselung während der Darmentleerung. Entsprechendes gilt für die Weigerung, den fensterlosen Toilettenraum nutzen zu dürfen. Auch hierfür ist ein nachvollziehbarer Grund nicht ersichtlich. Dass die insofern vorgebrachten Sicherungsüberlegungen oder Aspekte der medizinischen Behandlung eine ernsthafte Rolle gespielt haben können, erschließt sich für die Kammer nicht. Der Sorgfaltspflichtverstoß der mit der Ausführung befassten Beamten erscheint aus den oben dargestellten Gründen auch nicht deshalb geringer, weil die behandelnden Ärzte eine Aufhebung der Fesselung nicht für erforderlich hielten.

Nicht zu überzeugen vermag auch das Argument des beklagten Landes, der Kläger habe sich im Nachgang zu der Ausführung über die Fesselung nicht beschwert. Zunächst ist eine Beschwerde im weiteren Sinn jedenfalls in dem Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit vom 28.11.2009 zu erblicken. Zudem ließe das Fehlen einer persönlichen Missfallensbekundung nicht den Schluss zu, die Beeinträchtigung sei nur gering gewesen, werde als gering empfunden oder klaglos hingenommen.

Ob die anwesenden Beamten anlässlich der ärztlichen Behandlung abfällige Bemerkungen machten, ist für die Frage der Zubilligung einer Entschädigung und deren Höhe nicht von Bedeutung, da der Kläger das Geschehen selbst nur verschwommen wahrnahm. Keine wesentliche Bedeutung kommt auch dem Umstand zu, dass der Kläger nach seinem unstreitig gebliebenen Vortrag infolge des Ereignisses an Alpträumen leidet. Nach menschlichem Ermessen sind auch zahlreiche andere in der Biografie des Klägers begründete Umstände zur Auslösung von Alpträumen geeignet. Hierfür spricht gerade auch die Angabe des Klägers, diese Alpträume nicht zum Schwerpunkt der Klage machen zu wollen (Bl. 28 d. A.).

Zu berücksichtigen war allerdings der Umstand, dass die Fesselung des Klägers eine effektive Reinigung nach dem Ausscheidungsvorgang erheblich beeinträchtigt haben dürfte.“

Man könnte „kotzen“, wenn man es liest.

Fesselung bei der Vorführung zur Anhörung?, oder: Hat das OLG Hamm seine Hausaufgaben nicht gemacht?

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Heute dann mal ein Strafvollstreckungs-/vollzugstag, den ich eröffne mit dem Hinweis auf einen Streit zwischen einer StVK des LG Kleve und dem OLG Hamm betreffend die Vorführung eines Maßregelpatienten in Fesselung. Das OLG Hamm hatte im OLG Hamm, Beschl. v. 23.09.2014 – – III – 1 Vollz (Ws) 411/14 – entschieden:

„Eine Fesselung im Rahmen einer Vorführung, allein aus allgemeinen Sicherheitserwägungen oder zur Vorbeugung einer möglich erscheinenden Flucht, ist bei nach § 63 StGB untergebrachten Maßregelpatienten mangels Vorhandenseins einer entsprechenden Gesetzesgrundlage unzulässig.“

Betroffen war eine StVK des LG Kleve, die die Vorführung des im Maßregelvollzug Untergebrachten in Fesselung verfügt hatte. Der Untergebrachte war dann gefesselt zur Anhörung vorgeführt worden. Das OLG hatte das als rechtswidrig angesehen.

Nun wurde erneut eine mündliche Anhörung des Untergebrachten gemäß § 67e StGB wurde durch den Vorsitzenden der großen StVK bestimmt, und zwar in einem Saal des LG Kleve. Der An- und Abtransport erfolgte, da die Klinik, in der der Untergebracht untergebracht ist,  über keinen entsprechenden Transportdienst verfügt, durch den Transportdienst der JVA X. Die Beamten der JVA legten dem Untergebrachten während des Transports Fesseln an. Im Gerichtsgebäude übernahmen die Gerichtswachtmeister. Während der Anhörung im besonders gesicherten „Vorführsaal“ blieb der Untergebrachte ungefesselt. Auf der Grundlage dieser Anhörung hat die große Strafvollstreckungskammer die Unterbringungsfortdauer beschlossen. Der Untergebrachte hat nun unterBezugnahme auf den Beschluss des OLG Hamm vom 23.09.2014 die Feststellung beantragt, dass die Fesselung rechtwidrig war.

Das LG Kleve sieht das im LG Kleve, Beschl. v. 07.12.2015 – 182 StVK 1/15 – (erneut) anders und „rügt“ das OLG mit deutlichen Worten:

Dem steht nicht der Beschluss des 1. Strafsenates des OLG Hamm vom 23.09.2014 – III – 1 Vollz (Ws) 411/14 entgegen, weil dieser über die Entscheidung des damaligen konkreten Einzelfalles hinaus keine Bindungswirkung entfaltet.

Auch in der Sache überzeugt diese Entscheidung nicht.
…….

Sind mithin vom Wortlaut und von der Entstehungsgeschichte her mehrere Auslegungen möglich, so ist nicht die zu wählen, die zu lebensfremden und lebensgefährlichen Ergebnissen führt.

Als Anordnungsgrundlage greift § 5 MRVG NRW (Einschränkung der Freiheit der Maßregelvollzugspatienten, die für die Sicherheit unerlässlich ist) ein. Während einige Maßregelvollzugsgesetzte der Länder nur die besonders geregelten Eingriffe und Einschränkungen zulassen, hat NRW darüber hinaus ausdrücklich diese Generalklausel ins MRVG eingefügt. Die Fesselung ist auch als besondere Sicherungsmaßnahme im Sinne des § 21 MRVG NRW anzusehen (Kammeier, vorstehend; Prütting, MRVG und PsychKG NRW, § 21 MRVG NRW Rn. 9). Zudem greift § 22 MRVG NRW, der unter anderem zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung bei einer erheblichen Gefährdung die Möglichkeit der Anwendung unmittelbaren Zwangs vorsieht, wozu auch die Fesselung gehört (vgl. § 58 Abs. 1 bis 3 PolG NRW) als Rechtsgrundlage ein (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 15.04.2ß015 – III 2 Ws 137-138/15; zu § 176 GVG und § 231 StPO als Rechtsgrundlage für die Fesselungsanordnung durch den Vorsitzenden vgl. 5. Strafsenat des OLG Hamm, Beschluss vom 09.01.2014 – 5 RVs 134/13; zur „obergerichtlich hinreichend geklärten“ Fesselung bei Vorführung von Strafgefangenen vgl. OLG Rostock, Beschluss vom 10.10.2014 – 20 Ws 229/14). Hinzuweisen ist noch auf § 73 VwVG NRW und § 14 Abs. 1 OBG NRW.

Sinn und Zweck der Vorschriften sprechen dafür, dass sie auch als Rechtsgrundlage für eine Fesselung eingreifen.

Dass bei Gefangenen bzw. Untergebrachten, die per Definition besonders schwer einzuschätzen (psychische Beeinträchtigung) und besonders gefährlich sind (vgl. § 63 StGB) eine Fesselung – zum Schutz der Allgemeinheit und zum Schutz der vorführenden Beamten – möglich sein muss, liegt auf der Hand. Für Personen, die regelmäßig unmittelbaren Kontakt zu diesem Personenkreis haben, bedarf dies keiner weiteren Ausführung. Im Übrigen sei beispielhaft auf F 60.2 der ICD-10 hingewiesen („Dissoziale Persönlichkeitsstörung: … Kaltes Unbeteiligtsein und Rücksichtslosigkeit … sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten …“). Den vorführenden Beamten ist es generell und insbesondere bei psychisch Kranken unmöglich, die „Tagesform“ des Probanden einzuschätzen und die oft raptusartigen Aggressionsausbrüche oder Fluchtversuche vorherzusehen. Dies gilt erst recht aufgrund der örtlichen Gegebenheiten des LG xx, wo der Gefangenentransporter nicht in einen umschlossenen Innenhof einfahren kann, sondern der Eingang zu den Haftzellen in einem allgemein zugänglichen Bereich liegt.“

Liest sich so ähnlich wie: Hausaufgaben nicht gemacht. Wird man beim OLG Hamm nicht so gerne lesen. Ich bin gespannt, ob und wie man darauf antwortet.

Bei „maximal 3,9 Promille“ kein § 21 StGB – ganz schön mutig

Oktoberfest_1Manchmal bin ich über den Mut von Strafkammern dann doch erstaunt. So über ein Urteil des LG Marburg, das in einem Verfahren u.a. wegen Raubes ergangen ist. Da hat das – sachverständig beratene – LG unter Rückrechnung einer etwa 7 ½ Stunden nach der Tat entnommenen Blutprobe mit einer BAK von 2,14 Promille festgestellt, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt eine „Blutalkoholkonzentration von maximal 3,9 Promille“ aufgewiesen habe. Auf der Grundlage der Trinkmengenangaben des Angeklagten ist das LG unter Anwendung der Widmark-Formel zu einer maximalen BAK von 3,03 Promille gekommen. Ausgehend von einer Alkoholisierung von maximal 3,9 Promille hat es aber gleichwohl die Voraussetzungen des § 21 StGB, nicht die des § 20 StGB (!!!) verneint.

Das passt dem BGH nun gar nicht, der dazu zunächst noch einmal allgemein im BGH, Beschl. v. 02.07.2015 – 2 StR 146/15 – ausführt:

b) Diese Begründung hält revisionsgerichtlicher Überprüfung nicht stand. Eine Blutalkoholkonzentration von maximal 3,9 Promille legt die Annahme einer erheblichen Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit sehr nahe, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs schon ab einer Blutalkoholkonzentration von 2,0 Promille in Betracht zu ziehen ist (BGH, Urteil vom 22. November 1990- 4 StR 117/90, BGHSt 37, 231, 235; Urteil vom 12. Januar 1994 – 3 StR 633/93, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 27; Beschluss vom 25. Februar 1998 – 2 StR 16/98, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 34; BGH, Beschluss vom 26. November 1997 – 2 StR 553/97, NStZ-RR 1998, 107; BGH, Beschluss vom 7. Februar 2012 – 5 StR 545/11, NStZ 2012, 261).

Auch wenn davon auszugehen ist, dass es keinen gesicherten medizinisch-statistischen Erfahrungssatz darüber gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der festgestellte Wert ein gewichtiges Beweisanzeichen für die Stärke der alkoholischen Beeinflussung. Je höher dieser Wert ist, um so näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit. Maßgeblich für die Frage, ob die Voraussetzungen des § 21 StGB gegeben sind, ist dementsprechend eine Gesamtwürdigung, in die sowohl die Höhe der Blutalkoholkonzentration als auch psychodiagnostische Kriterien einzustellen sind. Bei einer starken Alkoholisierung lässt sich erheblich verminderte Schuldfähigkeit nur ausschließen, wenn gewichtige Anzeichen für den Erhalt der Hemmungsfähigkeit sprechen (BGH, Beschluss vom 26. November 1997 – 2 StR 553/97, NStZ-RR 1998, 107).

Und dann wird es konkret und der BGH zeigt auf, was ihm im Einzelnen nicht gefällt:

bb) Zum anderen erweist sich die vom Landgericht vorgenommene Würdigung als nicht tragfähig. Als gegen die Annahme erheblich verminderter Schuldfähigkeit sprechende psychodiagnostische Beurteilungskriterien kommen dabei nur solche Umstände in Betracht, die verlässliche Hinweise darauf geben können, ob das Steuerungsvermögen des Täters trotz der erheblichen Alkoholisierung voll erhalten geblieben ist (BGH, Beschluss vom 30. Juli 1997 – 3 StR 144/97, NStZ 1997, 592). Wesentlichen vom Landgericht herangezogenen Umständen kommt eine solche Bedeutung nicht oder nur in eingeschränktem Umfang zu. Dass der Angeklagte zielgerichtet nach Wertgegenständen gesucht und dem Mitangeklagten K. beim Einpacken des Fernsehers geholfen hat, stellt sich lediglich als bloße Verwirklichung des Tatvorsatzes dar, Wertgegenstände aus der Wohnung zu entwenden; daraus lassen sich regelmäßig keine tragfähigen Schlüsse in bezug auf die Steuerungsfähigkeit des Täters gewinnen (Fischer, StGB, 62. Aufl., § 20 Rn. 25). Insoweit ist auch der vom Landgericht erwähnte Umstand, der Angeklagte M. habe genau gewusst, was er getan habe, ebenso ohne jede Aussagekraft wie die Einschätzung, er sei „laut“ und „aggressiv“ gewesen (was eher noch ein Umstand für eine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit sein könnte). Das Fehlen von Ausfallerscheinungen oder alkoholbedingten Einschränkungen, das die Strafkammer in verschiedener Weise heranzieht, kann zwar grundsätzlich gegen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit sprechen; doch ist bei – wie hier – alkoholgewöhnten Tätern zu berücksichtigen, dass äußeres Leistungsverhalten und innere Steuerungsfähigkeit durchaus weit auseinander fallen können (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Juni 2007 – 4 StR 187/07, NStZ 2007, 696; Beschluss vom 30. April 2015 – 2 StR 444/14) und sich gerade bei Alkoholikern oft eine durch „Übung“ erworbene erstaunliche Kompensationsfähigkeit im Bereich grobmotorischer Auffälligkeiten zeigt (Fischer, aaO, § 20 Rn. 23a). Dass dies selbst bei extrem hoher Blutalkoholkonzentration zu äußerer Unauffälligkeit führen kann, hat das Landgericht, das an anderer Stelle lediglich ohne nähere Erläuterung anführt, es sei auch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte trinkgewohnt sei, nicht erkennbar bedacht oder erwogen. Hinzu kommt, dass der Angeklagte nach dem Eindruck der Zeugin P. – was die Strafkammer an dieser Stelle nicht erwähnt – „leichte Gleichgewichtsprobleme“ hatte und damit jedenfalls gewisse Anhaltspunkte für eine alkoholbedingte Einschränkung im Raum stehen. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass die bloße Selbsteinschätzung des Angeklagten M. , er sei nur angetrunken, aber nicht betrunken gewesen, ebenso wenig wie die Angaben des ebenfalls hochgradig alkoholisierten Mitangeklagten K. , er habe keinerlei alkoholbedingte Auffälligkeiten beim Angeklagten M. bemerkt, ohne relevanten Beweiswert ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Mai 2009 – 5 StR 57/09, BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 41).

Darüber hinaus zeigt das Tatbild Besonderheiten, die sogar positiv auf eine alkoholbedingte erhebliche Herabsetzung der Hemmungsfähigkeit des Angeklagten schließen lassen können und die von der Jugendkammer in diesem Zusammenhang nicht erörtert werden…..“

Eine sehr schöne Zusammenstellung und Würdigung der Umstände durch den BGH, die man als Verteidiger gut gebrauchen können sollte. Denn viele der vom LG angeführten Umstände spielen in dem Zusammenhang „verminderte Schuldfähigkeit“ immer wieder eine Rolle.

Alles in allem: Ganz schön mutig die Strafkammer, hier den § 20 StGB zu verneinen. Denn an sich befinden wir uns schon in einem Bereich, in dem man ganz gut auch den § 20 StGB diskutieren könnte.

Das riecht mal wieder nach Zoff beim BGH, oder: Die Ersetzung des Zeugenbeweises durch Erklärungsverlesung

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Ein wenig riecht der Beschluss des 2. Strafsenats des BGH, also der „Rebellensenats“ 🙂 , mal wieder nach Zoff bzw. aufziehendem Gewitter. denn der 2. Strafsenat ist (mal wieder) anderer Auffassung, als der 1. Strafsenat es vor einiger Zeit gewesen ist. Na ja, so richtig noch nicht. Aber er neigt immerhin dazu. Der BGH, Beschl. v. 11.11.2015 – 2 StR 180/15 – ist also (nur) ein „Neigungsbeschluss“, der andeutet, wohin es beim 2. Strafsenat in Abweichung der Auffassung des 1. Strafsenats gehen könnte.

Es geht in einem Verfahren wegen eines Totschlagsvorwurf um die Revision der Nebenklägerin. Die hatte gerügt, das LG habe gegen seine Amtsaufklärungspflicht gem. § 244 Abs. 2 StPO verstoßen, da es den Inhalt des ärztlichen Berichts eines sachverständigen Zeugen Dr. S. nicht verlesen habe. Der 2. Strafsenat nimmt dazu Stellung, zwar nur einem Zusatz und er „niegt2 auch nur, aber immerhin:

Die Aufklärungspflicht ist nicht verletzt. Der Senat neigt zu der Ansicht, dass die Verlesung des ärztlichen Berichts von Dr. S. bereits unzulässig gewesen wäre, weil seine Einführung in die Hauptverhandlung den in § 250 StPO – 3 – enthaltenen Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt hätte. Dr. S. , der kurz nach der Tat von den Ärzten, die die Angeklagte nach einem Suizidversuch intensiv-medizinisch behandelt hatten, im Hinblick auf eine möglicherweise weiterhin bestehende Suizidgefahr als Konsiliararzt hinzugezogen worden war und über seine Untersuchung einen schriftlichen Bericht gefertigt hatte, machte in der Hauptverhandlung zwar Angaben zur „Befindlichkeit“ der Angeklagten anläss-lich dieser konsiliarischen Untersuchung, berief sich im Übrigen aber – nach dem (vorsorglichen) Widerruf der Schweigepflichtentbindung durch die Angeklagte – auf sein Zeugnisverweigerungsrecht gemäß § 53 Abs. 1 Nr. 3 StPO.

„Bei dieser Sachlage liefe die Verlesung des von dem Zeugen gefertigten Berichts auf eine nach § 250 Satz 2 StPO unzulässige Ersetzung des Zeugenbeweises hinaus. Denn Dr. S. hatte zum Inhalt des Berichts, der auch Angaben zu einer Befragung der Angeklagten enthielt, aus denen die Revision Rückschlüsse auf einen schon länger zuvor gefassten Tatplan ziehen will, vollumfänglich die Auskunft verweigert und lediglich Angaben zum Zustand der Angeklagten gemacht. Macht aber ein Zeuge zu einem bestimmten Sachver-haltskomplex von seinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch, würde die Verlesung der von ihm stammenden schriftlichen Erklärung dazu dienen, seine mündliche Vernehmung insoweit zu ersetzen. Dies würde zu einer Umgehung des durch § 53 StPO bezweckten Schutzes des Vertrauensverhältnisses zwi-schen den dort genannten Berufsgeheimnisträgern und einem Angeklagten führen. Der Senat neigt daher zu der Ansicht, dass eine Teilaussage nicht den pauschalen Zugriff auf alle schriftlichen Erklärungen ermöglicht (vgl. Pauly in: Radtke/Hohmann, StPO, § 250 Rn. 20). Soweit der 1. Strafsenat demgegenüber im Falle eines die Aussage nach § 55 StPO verweigernden Zeugen die Verlesbarkeit einer von ihm schriftlich abgegebenen Erklärung auch mit Blick auf § 250 Satz 2 StPO für zulässig erachtet hat, weil dieser jedenfalls Fragen zur Herkunft dieser Erklärung beantwortet hatte, weshalb sich ihre spätere Verlesung nicht als Ersetzung, sondern als zulässige Ergänzung seiner (auf die Herkunft begrenzten) Aussage darstellte (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1986 – 1 StR 514/86, NStZ 1988, 36 m. krit. Anm. Dölling NStZ 1988, 6, 10), vermag dies den Senat daher nicht zu überzeugen.

Indes bietet der vorliegende Fall keinen Anlass zur Erörterung der Frage, ob die im Zusammenhang mit § 55 StPO ergangene Entscheidung des 1. Strafsenats der Ansicht des Senats entgegenstehen würde, denn letztlich kommt es im hiesigen Fall darauf nicht an. Die Verwertung des schriftlichen Berichts des Zeugen Dr. S. musste sich dem Landgericht schon nicht aufdrängen. Ohne Rechtsfehler hat die Strafkammer in ihrer ablehnenden Entschei-dung eines in der Hauptverhandlung gestellten Antrags auf Verlesung des Berichts auch darauf hingewiesen, dass den Angaben der Angeklagten gegenüber Dr. S. nur geringe Bedeutung zukommen könne, weil sie anlässlich der Untersuchung nicht zu sachgerechten Äußerungen in der Lage gewesen sei.“

Der Bericht des Verfassungssschutzes als Grundlage für eine Durchsuchung?

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Ich habe länger nicht mehr über Durchsuchungsmaßnahmen berichtet bzw. berichten müssen – man kann natürlich sagen: Gott sei Dank. Beim Vorbereiten von Beiträgen bin ich jetzt dann aber auf den schon ein wenig älteren und schön länger in meinem Blogordner hängenden BGH, Beschl. v. 12.08.2015 – StB 8/15 – gestoßen. Ja, auch der BGH macht mal gelegentlich Durchsuchung.

Hier ging es um ein Ermittlungsverfahren, das der GBA gegen mehrere Beschuldigte wegen des Verdachts der Gründung und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung namens „Oldschool Society“ führt. Auf seinen Antrag hatte der Ermittlungsrichter des BGH die Durchsuchung der Person und Wohnung des Beschwerdeführers sowie des von ihm genutzten Kraftfahrzeugs nach näher umschriebenen Beweismitteln angeordnet. Die Durchsuchung ist vollzogen worden. Der Beschuldigte hat Beschwerde gegen die Durchsuchungsanordnung eingelegt. Er hat beanstandet, dass der angefochtene Beschluss ausschließlich auf „Angaben vom Hörensagen“ beruhe, die aus unzulässiger Quelle von geringer Glaubwürdigkeit, nämlich dem Verfassungsschutz, stammten; Beweisergebnisse würden zudem nicht ausreichend konkret mitgeteilt.

Der BGH sieht das anders und führt zum Anfangsverdacht aus:

„a) Für die Zulässigkeit einer regelmäßig in einem frühen Stadium der Ermittlungen in Betracht kommenden Durchsuchung genügt der über bloße Vermutungen hinausreichende, auf bestimmte tatsächliche Anhaltspunkte gestützte konkrete Verdacht, dass eine Straftat begangen worden ist und der Verdächtige als Täter oder Teilnehmer an dieser Tat in Betracht kommt. Eines hinreichenden oder gar dringenden Tatverdachts bedarf es – unbeschadet der Frage der Verhältnismäßigkeit – nicht (st. Rspr.; vgl. BVerfG Beschluss vom 7. September 2006 – 2 BvR 1219/05, NJW 2007, 1443; BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2008 – StB 26/08, NStZ-RR 2009, 142, 143). Auch Behördenzeugnisse der Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder können dazu beitragen, einen konkreten Verdacht in diesem Sinne zu begründen. Zwar handelt es sich hierbei regelmäßig nur um sekundäre Beweismittel, welche die unmittelbaren Quellen der dort wiedergegebenen Erkenntnisse nicht oder nur unvollständig offen legen und daher einer vorsichtigen Würdigung und der Heranziehung weiterer zur Verfügung stehender Erkenntnismöglichkeiten bedürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 26. März 2009 – StB 20/08, BGHSt 53, 238, 247 zu einem hinreichenden Tatverdacht im Sinne des § 203 StPO). Dies nimmt Behördenzeugnissen jedoch nicht von vornherein jeglichen Beweiswert. Der Umfang ihrer Beweiskraft bedarf vielmehr einer Prüfung im Einzelfall. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob sie lediglich zum Beleg eines Anfangsverdachts (§ 160 1 StPO) oder zur Begründung einer höheren Verdachtsstufe herangezogen werden. Soweit in den Behördenzeugnissen der Inhalt primärer Beweismittel wiedergegeben wird, beurteilt sich die Zuverlässigkeit dieser Angaben nach allgemeinen Grundsätzen. Insoweit kann etwa die Konkretheit der Ausführungen ebenso von Bedeutung sein wie deren Umfang oder Objektivierung anhand weiterer, unmittelbar vorliegender Beweismittel.

b) Gemessen an diesen Maßstäben lagen zum Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Beschlusses sachlich zureichende Gründe für die Anordnung der Durchsuchung vor. Hinsichtlich der nach § 129a StGB erforderlichen Organisationsstruktur des Personenzusammenschlusses ergibt sich der Anfangsverdacht daraus, …….“