Archiv für den Monat: Dezember 2015

Vertretungsvollmacht/Verteidigungsvollmacht – schön unterscheiden

© M. Schuppich - Fotolia.com

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Mal was aus dem Vollmachtskasten. Kein potentieller „Vollmachtstrick“, sondern „Vollmachtsgrundwissen, über das man als Verteidiger (im Bußgeldverfahren) schon verfügen sollte. Es geht um den KG, Beschl v. 02.09.2015 – 3 Ws (B) 447/15. Da hatte der Verteidiger in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellt. Er hatte aber keine schriftliche Vertretungsvollmacht vorlegen können, eine solche befand sich zu diesem Zeitpunkt auch nicht bei den Akten befand. Das AG hat den Beweisantrag abgelehnt. Der Verteidiger hat die Verfahrensrüge erhoben. Das KG hat diese als zulässig angesehen, in der Sache dann aber als unbegründet zurückgewiesen. Zur Zulässigkeit für das KG aus:

a) Allerdings steht der Zulässigkeit der Verfahrensrüge nicht entgegen, dass der Verteidiger in der Hauptverhandlung ausweislich der Urteilsgründe keine schriftliche Vertretungsvollmacht vorlegen konnte und sich diese zu diesem Zeitpunkt auch nicht bei den Akten befand. Zwar konnte sich der Betroffene, der von der Anwesenheitsverpflichtung nach § 73 Abs. 2 OWiG entbunden war, nach § 73 Abs. 3 OWiG nur durch „einen schriftlich bevollmächtigten Verteidiger vertreten lassen“. Es kann aber offen bleiben, ob die Vertretungsvollmacht, wie es trotz der unterschiedlichen Formulierungen von § 73 Abs. 3 OWiG und § 51 Abs. 3 OWiG („Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet“) einhelliger Meinung entspricht, dem Gericht zu Beginn der Hauptverhandlung schriftlich vorliegen muss (so OLG Bamberg NZV 2011, 509; OLG Jena VRS 111, 200; Senge in Karlsruher Kommentar, OWiGAufl., § 73 Rn. 41) oder ob etwa eine anwaltliche Versicherung des Bestehenseiner schriftlichen Vertretungsvollmacht genügen könnte. Denn der nur mit einer Verteidigervollmacht versehene Rechtsanwalt kann zwar anstelle des Betroffenen keine Erklärungen abgeben oder entgegennehmen, er hat aber sämtliche demVerteidiger zustehenden Befugnisse (vgl. BayObLG VRS 61, 39; Senge in Karlsruher Kommentar, aaO, § 73 Rn. 42). Dazu gehört auch das Recht, in der Hauptverhandlung Anträge zu stellen.

Da der Verteidiger hier ausweislich der Rechtsbeschwerdeschrift bevollmächtigt war und die Verteidigervollmacht, anders als die Vertretungsvollmacht, auch im Abwesenheitsverfahren keiner Form bedarf (vgl. Seitz in Göhler, OWiG 16. Aufl.,
§ 73 Rn. 26), konnte der Verteidiger in der Hauptverhandlung im eigenen Namen wirksam Anträge stellen.

Wie gesagt: Verteidigervollmacht und Vertretungsvollmacht des Verteidigers sind streng voneinander zu unterscheiden. Die Verteidigervollmacht gibt dem Verteidiger das (eigene) Recht zur Antragstellung. Sie gibt ihm aber nicht das Recht, den Betroffenen in der Hauptverhandlung zu „vertreten“, also z.B., wenn der Betroffene abwesend ist, Erklärungen für ihn abzugeben. Denn der Verteidiger ist nach §§ 137 StPO i.V.m. §§ 46, 71 OWiG Beistand des Betroffenen und nicht sein Vertreter. Will der Verteidiger daher den (abwesenden) Betroffenen in der Hauptverhandlung vertreten, muss er über eine Vertretungsvollmacht verfügen.

„Die Leiden der jungen Strafverteidigerin“…, oder: Verschwiegenheitspflicht

© santi_ Fotolia.com

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Die Überschrift „Die Leiden der jungen Strafverteidigerin“ ist nicht von mir, sondern ich greife mit ihr den Vorschlag einer (jungen) Kollegin auf, die sich gestern mit einer Frage mit gebührenrechtlichem Einschlag an mich gewendet hatte. Ich hatte ihr die Aufnahme isn RVG-Rätsel „angedroht“, bringe die Sache dann aber mal hier, da letztlich dann doch eine andere Problematik im Vordergrund gestanden hat. Die Kollegin fragte:

„Guten Morgen Herr Burhoff,
gestern habe ich mich – was ab und an vorkommt – damit beschäftigt, ob ich mich eigentlich selbst strafbar mache. Es geht um Folgendes:
Seit ca. zwei Jahren verteidige ich eine Mandantin, die nunmehr (was zu erwarten war) auch vom Berufungsgericht verurteilt wurde. In der Berufungsinstanz war ich Pflichtverteidigerin.
Milde ausgedrückt, hat sich meine Mandantin mir gegenüber unredlich verhalten, deshalb wurde das Mandat im Laufe der Zeit immer schwieriger und ich ihr gegenüber immer deutlicher.
Gegen das Urteil habe ich abredegemäß Revision eingelegt und die Zustellung des Hauptverhandlungsprotokolls beantragt. Meine Mandatin bekam von mir zudem einen Terminsbericht, mit Hinweisen über den möglichen weiteren Fortgang des Verfahrens.
Sechs Wochen später kamen das Hauptverhandlungsprotokoll sowie das schriftliche Urteil. Ich prüfte noch am gleichen Tag etwaige Revisionsgründe und fand auch einiges. Hierüber erfreut rief ich meine Mandantin an und berichtete ihr meine vorläufigen Ergebnisse. Am Ende dieses Telefonats kündigte diese mir indes an, einen anderen Verteidiger als Wahlverteidiger mit der Revisionsbegründung beauftragen zu wollen oder dies schon getan zu haben. Mit anderen Worten: Sie eierte rum.
Schriftlich bat ich Sie daher um Klarstellung und wies darauf hin, dass ein Wahlverteidiger berufsrechtlich verpflichtet ist, sich mit mir in Verbindung zu setzen. Nichts geschah.
Eine Woche später rief ich deshalb beim Landgericht an und fragte, ob sich in der Sache ein Wahlverteigiger gemeldet hätte. Dies wurde mir bestätigt. „Vor ca. einer Woche hat sich Herr Kollege X aus Y gemeldet“.
Ich googelte die Kontaktdaten dieses Kollegen und rief an. Dieser bestätigte mir, mit der Revisionsbegründung beauftragt worden zu sein. Der Stift würde sich indes erst dann „drehen“, wenn die (insolvente) Mandantin ihn bezahlt. Wir erörterten kurz etwaige Revisionsgründe. Gut zwei Wochen später telefonierten der Kollege und ich ein weiteres Mal und redeten nochmals über Revisionsgründe. Der Kollege bestätigte, die Revisionsbegründung abzugeben. Dies schrieb ich dann nochmals der Mandatin.
Dann beantragte ich beim Amtsgericht u. a. die Gebühr für das Revisionsverfahren als Vorschuss festzusetzen. Vier (!!!) Monate später teilte mir der freundiche Rechtspfleger mit, dass er meine Tätigkeit im Revisionsverfahren nicht erkennen kann. Die Revisionseinlegung sei mit der Verfahrensgebühr für das Berufungsverfahren abgegolten, die Revisionsbegründung hat dagegen der andere Kollege abgegeben. Er regt an, den Antrag zurückzunehmen und gibt mir eine Stellungnahmefrist von 2 Wochen.

Nun zu meinen Fragen:
1.)  Wenn ich dem freundlichen, flinken Rechtspfleger mittteile, was ich nach der Revisionseinlegung für die gute Mandantin getan habe, müsste er die Verfahrensgebühr für das Revisionsverfahren doch festsetzen, oder?
2.)  Gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB wird der plaudernde Anwalt bestraft. Hier ginge es doch aber um meinen Vergütungsanspruch. Deshalb wäre der Geheimnisverrat zumindest nicht „unbefugt“ und ich würde mich nicht strafbar machen, wenn ich den freundlichen Rechtspfleger ins Bild setze, oder?
Danke für Ihre Mühe und entschuldigen Sie den „Roman“.

Also: Ich konnte und habe verhältnismäßig kurz geantwortet, nämlich:

Hallo Frau Kollegin,
Sie liegen m.E. in beiden Fragen richtig.

Die Verfahrensgebühr Nr. 4130 VV RVG ist hier auf jeden Fall entstanden, da Sie ja nicht nur die Revision eingelegt haben, sondern darüber hinaus Tätigkeiten erbracht haben.

Auch die Verschwiegenheitspflicht greift hier m.E. nicht. Dazu steht einiges in der berufsrechtlichen Literatur. Und natürlich auch in meinem Handbuch, Ermittlungsverfahren. Es geht zwar immer um den Honorarprozess, hier dürfte aber nichts anderes gelten. Ich würde aber so knapp wie möglich Stellung nehmen. M.E. reicht die Mitteilung, dass Sie mehrfach mit dem neuen Verteidiger gesprochen haben. Ausgang würde mich interessieren.

Und in der „Dankesmail“ hatte die Kollegin dann die nette Idee von den „Leiden der jungen Strafverteidigerin“.

Pflichti III: Und es gibt sie doch: Die Untätigkeitsbeschwerde

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So, die kleine Serie zur Pflichtverteidigung (s. LG Stendal, Beschl. v. 26.11.2015 – 501 AR 9/15 und dazu Pflichti I: Rückwirkende Beiordnung, oder „Hase und Igel“ und LG Hamburg, Beschl. v. 04.11.2015 – 628 Qs 34/15 und dazu Pflichti II: Wegfall der „Waffengleichheit“, oder: Vorgeschobene Entpflichtungsgründe?) schließe ich dann für heute ab mit dem LG Dresden, Beschl. v. 07.12.2015 – 3 Qs 118/15.

Der Sachverhalt: Das AG hatte gegen den Angeklagten einen Strrafbefehl wegen Hausfriedensbruchs in zwei Fällen erlassen. Gegen den hat der Angeklagte Einspruch eingelegt und die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragt weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung in seiner Verteidigungsfähigkeit beschränkt sei. Am 10.11.2015 bestimmte das AG Dresden Termin zur Hauptverhandlung auf den 26.11.2015, ohne über den Antrag auf Verteidigerbestellung zu entscheiden. Unter dem 12.11.2015 legte der Angeklagte gegen die unterlassene Beiordnung eines Pflichtverteidigers Beschwerde ein. Mit Beschluss vom 16.11.2015 wies das AG den Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zurück. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil der Angeklagte die Beschwerde einlegte, bevor das AG am 16.11.2015 den Bestellungsantrag des Angeklagten zurückgewiesen hat. Das LG macht das nicht mit, sondern:

„1. Die am 12.11.2015 eingelegte Beschwerde ist zulässig. Sie ist nicht als Beschwerde gegen den durch das Amtsgericht Dresden erst am 16.11.2015 gefassten Beschluss gerichtet, sondern bereits gegen das Unterlassen einer Entscheidung über den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung bei Terminierung.

Zwar ist der Strafprozessordnung eine reine Untätigkeitsbeschwerde fremd, weil in der bloßen Untätigkeit keine sachliche Entscheidung liegt. Nur eine solche aber Gegenstand der Überprüfung durch das Beschwerdegericht sein kann. Die Unterlassung einer von Amts wegen oder auf Antrag zu treffenden Entscheidung ist jedoch dann anfechtbar, wenn die unterlassene Entscheidung selbst bzw. deren Ablehnung anfechtbar ist, und der Unterlassung die Bedeutung einer Sachentscheidung im Sinne einer endgültigen Ablehnung und nicht einer bloßen Verzögerung der zu treffenden Entscheidung zukommt. Das ist hier der Fall. Gegen die Ablehnung der Bestellung steht dem Angeklagten das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 304 StPO zu. Angesichts des Umstandes. dass das Amtsgericht am 10.11.2015 bei Bestimmung eines 16 Tage später stattfindenden Hauptverhandlungstermins nicht über den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers entschied, entspricht dies einer ablehnenden Sachentscheidung. Denn ein beigeordneter Verteidiger hätte die verbleibende Zeit bis zum Hauptverhandlungstermin zur Terminsvorbereitung nutzen müssen. Eine am 10.11.2015 nicht getroffene Entscheidung kommt daher einer endgültigen Ablehnung gleich. Hiergegen kann sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde wenden. In der Folge ist der am 16.11.2015 ergangene amtsgerichtliche Beschluss vom 16.11.2015 als Nichtabhilfeentscheidung zu betrachten.“

Und: Das LG hat dann gem. § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger bestellt. Der Angeklagte habe Unterlagen vorgelegt, aus denen ersichtlich sei, „dass bei ihm eine „schwere andere seelische Abartigkeit vorliegt und zwar eine kombinierte Persönlichkeitsstörung mit narzistischen und selbstunsicheren Zügen (amtsärztliches Gutachten am 26.03.2012) bzw. Verdacht auf kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen, Verdacht auf wahnhafte Störung (Epikrise der Universitätsklinik vom 30.04.2014). Die Kammer hat deshalb erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung, so dass ihm gemäß § 140 Abs. 2 StPO ein Verteidiger zu bestellen war.“

Pflichti II: Wegfall der „Waffengleichheit“, oder: Vorgeschobene Entpflichtungsgründe?

© pedrolieb -Fotolia.com

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Nach dem in meinen Augen nicht so schönen LG Stendal, Beschl. v. 26.11.2015 – 501 AR 9/15 (vgl. dazu Pflichti I: Rückwirkende Beiordnung, oder „Hase und Igel“) einen Beschluss, der beim AG einen ebenfalls nicht so ganz schönen Anfang genommen hat. Das LG Hamburg hat es dann aber im LG Hamburg, Beschl. v. 04.11.2015 – 628 Qs 34/15 – „gerichtet“. Es handelt sich um ein Verfahren beim AG wegen vorsätzlicher Körperverletzung. Dem ursprünglichen Mitangeklagten des Angeklagten, dem bei einer Verurteilung ein Bewährungswiderruf in einer anderen Strafsache gedroht hätte, hatte das AG einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies ist dann auch beim Angeklagten am ersten Hauptverhandlungstag geschehen. Am vierten Hauptverhandlungstag stellt das AG dann auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen den Mitangeklagten gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein. Dann setzt es die Hauptverhandlung mit der Vernehmung eines Zeugen fort. Nach dieser Vernehmung stellte Herr Pflichtverteidiger des verbliebenen Angeklagten drei Beweisanträge. Abschließend beraumte das AG einen weiteren Verhandlungstermin an, zu dem es sowohl den Angeklagten als auch seinen Pflichtverteidiger lud. Am nächsten Tag teilt das AG dann zum ersten Mal mit, es erwäge, die Beiordnung die Beiordnung des Pflichtverteidigers aufzuheben. Aufgrund der Einstellung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten sei der Grund der Beiordnung entfallen. Einige Tage später wird dann tatsächlich aufgehoben.

Das LG Hamburg ist „not amused“. Wenn man den Beschluss so liest, hat man den Eindruck, dass es dem AG die Beschlussbegründung – weitere Beiordnung nicht mehr erforderlich, da Gründe für die Waffengleichtheit weggefallen sind – nicht glaubt., sondern (auch) den Eindruck hat, dass es sich um vorgeschobene Gründe handelt, die vorgebracht wurden, um einen missliebigen, weil unbequemen Verteidiger – Stichwort: drei Beweisanträge –  aus dem Verfahren zu „schießen“:

„2. Ferner ist für die Kammer nicht feststellbar, dass die Aufhebung der Beiordnung tatsächlich allein durch das Ausscheiden des Mitangeklagten motiviert war.

Immerhin hat das Amtsgericht die Einstellung des Verfahrens gegen den Mitangeklagten am 27.10.2015 nicht etwa zum Anlass genommen, sogleich eine Entpflichtung von Herrn Rechtsanwalt Dr. T. zu erwägen. Vielmehr hat es die Hauptverhandlung mit einer Zeugenvernehmung fortgesetzt, sodann einen weiteren Termin anberaumt und Herrn Dr. T. – der zuvor noch drei Beweisanträge gestellt hatte – zu diesem Termin geladen. Erst am Folgetag hat das Amtsgericht dann mitgeteilt, die Aufhebung der Beiordnung zu erwägen, und Gelegenheit zur eiligen Stellungnahme gegeben.“

Im Übrigen Bestätigung der „Vertrauensschutzrechtsprechung“ der Obergerichte, die sich in dem Leitsatz zusammenfassen lässt:

„Die Beiordnung eines Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO gilt grundsätzlich für das gesamte Strafverfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss. Eine Aufhebung der Beiordnung ist daher nur zulässig, wenn das Vertrauen des Angeklagten auf die Beiordnungsentscheidung ausnahmsweise nicht schutzwürdig ist, weil sich die für die Entscheidung maßgeblichen Umstände wesentlich geändert haben oder das Gericht von objektiv falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.“

Der Kollege, der den Beschluss erstritten hat, wird sich nicht nur über die Entscheidung freuen, sondern sicherlich mit dem Mandanten auch die Frage der Befangenheit des Amtsrichters erörtern (§ 24 StPO). Mal sehen, ob wir von der Sache noch hören.

Pflichti I: Rückwirkende Beiordnung, oder „Hase und Igel“

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Der Kollege C. Hoenig und die Kollegin K. Rueber haben gestern zu Pflichtverteidigungsfragen gebloggt (vgl. hier der Kollege Hoenig mit Eine Pflichtverteidigung in Braunschweig und die Kollgein Rueber mit Dank des Pflichtverteidigers). Dabei haben sie eher „allgemeine Fragen“ der Pflichtverteidigung aufgegriffen. Ich will das Thema heute aufgreifen und drei Beschlüsse vorstellen, die mir in den letzten Tagen von Kollegen übersandt worden sind.

Den Auftakt will ich mit dem LG Stendal, Beschl. v. 26.11.2015 – 501 AR 9/15 – machen. Er behandelt noch einmal die Daueproblematik der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung und zeigt m.E. sehr schön, wohin der BGH, Beschl. v. 9.9.2015 – 3 BGs 134/15 – (vgl. dazu Ein Schritt zurück beim BGH, oder: Die StA wird es schon richten) führt, wenn man ihn nur geschickt „einsetzt“. das tut das LG zwer nicht ausdrücklich, stellt aber auch auf die vom BGH vertretetene – in der Literatur abgelehnte – Auffassung ab.

Der Sachverhalt der Entscheidung wird dem ein oder anderen Kollegen sicherlich bekannt vorkommen: In einem Verfahren wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften, das gegen einen im Maßregelvollzug untergebrachten Beschuldigten anhängig war, hat der Rechtsanwalt seine Bestellung als Verteidiger am 04.03.2015 angezeigt. Mit Schriftsatz vom 15.04.2015 regte der Rechtsanwalt bei der Staatsanwaltschaft an, seine Bestellung zum Pflichtverteidiger für den Beschuldigten bei Gericht zu beantragen. Am 07.05.2015 erinnerte er die Staatsanwaltschaft an die Erledigung seiner Anträge. Mit Schriftsatz vom 18.06.2015 hat er seine Anregung, die Pflichtverteidigerbestellung bei Gericht zu beantragen, wiederholt. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren mit Verfügung vom 11.10.2015 nach § 154 Abs. 1 StPO vorläufig eingestellt und dem Verteidiger Einstellungsnachricht erteilt. Danach hat der Rechtsanwalt die Staatsanwaltschaft erneut aufgefordert, seine Bestellung zum Pflichtverteidiger bei Gericht zu beantragen. Die Staatsanwaltschaft hat die Akte mit Verfügung vom 19.11.2015 der Kammer mit dem Antrag vorgelegt, den Rechtsanwalt rückwirkend zum notwendigen Verteidiger zu bestellen. Das LG hat den Antrag zurückgewiesen.

Begründung: Grundsätzlich keine rückwirkende Beiordnung. ggf. ausnahmsweise doch, wenn der Antrag auf gerichtliche Beiordnung vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde und zu diesem Zeitpunkt die Voraussetzungen des § 140 StPO bereits vorlagen. Das war aber nicht der Fall. Also: Aus der Traum, oder: Die Entscheidung zeigt im Grunde genommen sehr schön, dass die Fabel von Igel und Hase und „Ich bin schon da“ im übertragenen Sinn auch im Strafverfahren gilt. Wenn man nämlich mit der Entscheidung des LG Stendal und auch der des BGH Ernst machen, dann kann der Verteidiger, wenn die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren nicht im Hinblick auf eine Pflichtverteidigerbestellung tätig wird, später tun, was er will: Er wird nicht mehr beigeordnet werden. Denn man sieht die rückwirkende Bestellung als unzulässig an, lässt zwar ggf. eine Ausnahme zu, um dann aber sofort darauf hinzuweisen, dass die Voraussetzungen für die Ausnahme nicht vorliegen, da die Staatsanwaltschaft keinen Antrag gestellt hat. Damit bleiben die Fälle der nachträglichen Bestellung beschränkt auf diejenigen, in denen die Staatsanwaltschaft einen Bestellungsantrag gestellt hat. Man fragt sich, was mit den anderen ist, in denen der Verteidiger insgesamt dreimal seine Bestellung beantragt bzw. daran erinnert hat, ohne dass es die Staatsanwaltschaft für nötig gehalten hat, tätig zu werden? Soll in denen die Ausnahme nicht mehr gelten? Und man fragt sich: Was soll der Verteidiger denn noch mehr tun als er hier mit drei Anträgen/Erinnerungen getan hat.

Es ist im Übrigen für mich unfassbar/nur schwer, wenn überhaupt, nachvollziehbar, dass man darauf bei der Staatsanwaltschaft in einem Zeitraum von sieben Monaten nicht reagiert hat. Da hilft der (zu späte) Reparaturversuch mit der Antragstellung nach Einstellung auch nicht mehr. Den Satz „Für eine Bestellung lediglich im Kosteninteresse des Beschuldigten und seines Verteidigers ist kein Raum“ muss der Verteidiger bei der Sachlage als blanken Hohn empfinden.