Archiv für den Monat: Mai 2012

Berufung der StA – (doch) kein Pflichtverteidiger?

© froxx - Fotolia.com

In der Praxis wird i.d.R. dann, wenn die StA gegen ein freisprechendes Urteil mit dem Ziel der Verurteilung Berufung einlegt, dem Angeklagten ein Pflichtverteidiger nach § 140 Abs. 2 StPO beigeordnet. Man geht davon aus, dass die Sache dann i.d.R. „schwierig“ ist.

Anders sieht es jetzt das OLG Köln, Beschl. v. 02.02.2012 – 2 Ws 91/12:

Der vorliegende Fall ist jedoch so gelagert, dass eine Ausnahme vom Regelfall anzunehmen ist, weil der Angeklagte wegen der einfachen Sachlage keines juristischen Beistands bedarf. Die Staatsanwaltschaft hat das Rechtsmittel nicht eingelegt, weil sie die erhobenen Beweise anders würdigt als die erste Instanz, sondern weil sie die Auffassung vertritt, das Amtsgericht habe es versäumt, die Zeugen PK’in Ka. und K. zu vernehmen. Die Strafkammer hat zu der auf den 22.02.2012 anberaumten Hauptverhandlung neben dem erstinstanzlich vernommenen Zeugen PK M. auch die Zeugen PK’in Ka. und K. geladen. Damit wird nunmehr die alle Beweismittel erschöpfende Beweisaufnahme durchgeführt, die eigentlich bereits in erster Instanz sachgerecht und geboten gewesen wäre. Im Rahmen des erstinstanzlichen Verfahrens war aber eine Beiordnung nach Maßgabe des § 140 Abs. 2 StPO ersichtlich nicht erforderlich – und ist im Übrigen von dem Angeklagten auch nicht beantragt worden. Eine abweichende Aussage des in erster Instanz vernommenen Zeugen PK M., der den Angeklagten als Verkäufer der Betäubungsmittel nicht identifizieren konnte, ist nicht zu erwarten, so dass auch unter diesem Gesichtspunkt die Beweiswürdigung keine besondere Schwierigkeit aufweist. Schließlich ist auch nicht deshalb eine notwendige Verteidigung zu bejahen, weil die Berufungsbegründung auf das gegen den Zeugen K. geführte Strafverfahren verweist. Das Hauptverhandlungsprotokoll vom 24.05.2011 in der Strafsache gegen den Zeugen K. kann in der Berufungshauptverhandlung genauso wie das gegen den Zeugen K. ergangene Urteil verlesen werden. Ausweislich des Protokolls hat der Zeuge die ihm zur Last gelegte Straftat umfassend eingeräumt, ohne Angaben zur Person des Verkäufers der Betäubungsmittel zu machen; auch insoweit ist eine abweichende Aussage ausgeschlossen. Demnach ist auch der den Zeugen K. betreffende Sachverhalt so einfach gelagert, dass in der Hauptverhandlung Fragen dazu gestellt werden können, ohne dass eine sachgerechte Verteidigung vorherige Gewährung von Akteneinsicht erfordern würde. Der vorliegende Fall rechtfertigt somit eine andere Beurteilung als der der o.a. Senatsentscheidung vom 20.05.2003 zugrunde liegende Sachverhalt.“

Na ja, kann man auch anders sehen.

LG Erfurt II: Pflichtverteidiger im Ermittlungsverfahren – geht auch ohne StA

© froxx - Fotolia.com

Ich hatte ja bereits auf  LG Erfurt, Beschl. v. 23.04.2012 – 7 Qs 101/12 hingewiesen (vgl. hier). Hier nun noch einmal der Beschluss und der zweite Grund, warum der Beschluss einen Bericht wert ist.

Das LG hat nämlich im Beschwerde-/Ermittlungsverfahren dem Beschuldigten „von Amts wegen“ einen Pflichtverteidiger beigeordnet und dabei von einer vorherigen Anhörung der StA abgesehen. Das liest man nun wirklich selten. Die Begründung:

Der Kammer hält es angesichts der besonderen Umstände im vorliegenden Fall – ausnahmsweise und in pflichtgemäßer Ausübung ihres Ermessens – für geboten, dem Beschul­digten gemäß § 140 Abs. 2 i.V.m. § 141 Abs. 3 StPO bereits im Ermittlungsverfahren einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen.

 Die frühzeitige Verteidigerbestellung ist erforderlich, weil erkennbar ist, dass in einer eventu­ellen Hauptverhandlung ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen wird und weil zudem wesentliche Weichenstellungen in dem derzeitigen Verfahrensabschnitt erfolgten und erfolgen (vgl. BGH, Beschluss vom 25.07.2000, Az.: 1 StR 169/00, juris). Dies gilt insbeson­dere für den Fall, dass der (wohl einzige) Belastungszeuge doch noch vernommen werden sollte. Zudem war und ist Akteneinsicht erforderlich, um die Rechtmäßigkeit des Durchsuchungsbeschlusses und die Ordnungsmäßigkeit späterer Anordnungen überprüfen zu kön­nen (vgl. LG Lübeck, Beschluss vom 10.11.2010, Az.: 4 Qs 118/10).

 Dabei war auch zu berücksichtigen, dass im Zuge des Ermittlungsverfahrens bereits Fehler unterlaufen sind, so dass die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten unerlässlich erscheint. So kann fortan ein konventions- und menschenrechtskonformes sowie faires Verfahren mit gewährleistet werden.

 Der Beschuldigte ist im Übrigen offenkundig nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, so dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO vorliegen. Der Beschuldigte ist der deut­schen Sprache nur begrenzt mächtig und bereits daher in seiner Verteidigungsfähigkeit ein­geschränkt. Als Ausländer vermag er die durchaus komplizierte Rechtslage kaum zu erfas­sen und die möglichen Folgen einzuschätzen. Auch mit Blick auf die Vielzahl und Schwere der erhobenen Vorwürfe — vom Betrug bis zum Verstoß gegen das Urheberrechtsgesetz — war die Pflichtverteidigerbestellung erforderlich. Dies gilt auch mit Blick auf eventuelle ausländerrechtliche Sanktionen oder Nachteile.

 Eines — grundsätzlich erforderlichen — Antrages der Staatsanwaltschaft nach § 141 Abs. 3 S. 2 StPO bedurfte es hier ausnahmsweise nicht, da das der Staatsanwaltschaft eingeräumte Ermessen „auf Null reduziert“ war. Der „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ ist hier zwar ein Ermessens- oder Beurteilungsspielraum eingeräumt. Jede andere Entscheidung als die Be­stellung eines Pflichtverteidigers (bzw. eines Antrages hierzu) wäre jedoch ermessensfehlerhaft (vgl. LG Cottbus, Beschluss vom 13.05.2005, Az.: 22 Qs 15/05, juris). Es wäre im Übri­gen eine bloße „Förmelei“, zunächst der Staatsanwaltschaft aufzugeben, einen Antrag auf Bestellung eines Pflichtverteidigers zu stellen, um dann jenem Antrag Folge zu leisten. An­gesichts der Ermessensreduzierung auf Null sah sich die Kammer in der Lage, im Zuge des Beschwerdeverfahrens ausnahmsweise selbst die Bestellung vorzunehmen.“

Interessant und für die Praxis verwendbar ist sicherlich die Begründung:

„Dabei war auch zu berücksichtigen, dass im Zuge des Ermittlungsverfahrens bereits Fehler unterlaufen sind, so dass die Mitwirkung eines Pflichtverteidigers zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten unerlässlich erscheint. So kann fortan ein konventions- und menschenrechtskonformes sowie faires Verfahren mit gewährleistet werden.

Danach wird in vielen Fällen ein Pflichtverteidiger beizuordnen sein.

LG Erfurt I – nicht nur vager Verdacht für eine Durchsuchungsanordnung

© froxx - Fotolia.com

Der mir von einem Kollegen zur Verfügung gestellte LG Erfurt, Beschl. v. 23.04.2012 – 7 Qs 101/12 – ist in doppelter Hinsicht interessant. Hier zunächst der erste Aspekt: Mal wieder nicht ausreichende Begründung einer amtsgerichtlichen Durchsuchungsanordnung.

Dazu das LG:

Der angefochtene Beschluss leidet im Lichte dieses Maßstabes unter mehreren Mängeln. So wird zwar ein Betrugsvorwurf erhoben, der dahingehende Verdacht — unberechtigter Bezug von Sozialleistungen — jedoch nicht einmal erwähnt. Weiter werden keinerlei Tatsachen an­geführt, die die vorgeworfenen Taten — immerhin Betrug, Hehlerei, Urkundenfälschung und Verstoß gegen das Urheberrechtsgesetz — belegen. Einleitend heißt es lediglich, der Be­schuldigte „soll gewerbsmäßig im Internetauktionshaus „ebay“ unter anderem raubkopierte PC-Programme und CD-Roms für Navigationssysteme vertreiben.“ Weiter habe er „nach eigenen Angaben gegenüber einem Zeugen“ einen PC erworben, der aus einer Diebstahlshandlung in einer Bank stamme. Zudem „soll (er) auch Unterlagen zur Vorlage bei Behörden verfälschen“. Diese allgemein gehaltenen Behauptungen ohne jede Angabe konkreter Be­weismittel sind nicht hinreichend, den schwerwiegenden Grundrechtseingriff der Wohnungsdurchsuchung zu rechtfertigen.

 Letztlich beruht der Durchsuchungsbeschluss einzig und allein auf den pauschalen und im Duktus des „Anschwärzens“ gehaltenen Behauptungen des Herrn X, der in XXXXXX geboren, offenbar aus einer Asylbewerberunterkunft in Deutschland wieder in sein Heimatland zurückgekehrt ist und somit nicht mehr „nachvernommen“ werden konnte. Seine im Beisein eines Dolmetschers getätigte Aussage wurde zudem nicht unmittelbar und als förmliche Zeugenvernehmung, sondern lediglich in einer polizeilichen „Kurzmitteilung“ wiedergegeben. Angesichts dieser Begleitumstände handelt es sich bei den Tatvorwürfen um nicht mehr als bloße Vermutungen, auf die ein Durchsuchungsbeschluss nach allgemeiner Auffassung nicht gestützt werden darf.

Zum anderen Aspekt nachher mehr.

Diebstahl/Unterschlagung: Spätere Realisierung der Zueignungsabsicht

© Dan Race - Fotolia.com

Das Urt. des BGH v. 01.03. 2012 – 3 StR 434/11 wird man sicherlich mal im Examen „besprechen“ können. Nicht wegen der Beweiswürdigungsfragen, sondern der vom BGH angesprochenen Problematik Diebstahl/Unterschlagung.

„Für diese Konstellation musste sich das Landgericht indessen mit der Frage befassen, ob sich nicht jedenfalls mit dem Verlassen des Marktes ein Zueignungswille der Angeklagten realisierte und damit deren Strafbarkeit wegen (versuchten) Diebstahls oder zumindest wegen (versuchter) Unterschlagung (§ 246 Abs. 1 und 3 StGB) begründet wurde. Denn es kam durchaus in Betracht, dass die Angeklagte aufgrund ihrer Erkrankung die Waren zunächst zwar in dem vorrangigen Bestreben an sich genommen haben mochte, sich durch das Entdecktwerden seelische Entspannung zu verschaffen, und damit zu diesem Zeitpunkt ohne die erforderliche Absicht der Zueignung handelte, indessen im Falle der Nichtentdeckung die Waren für sich behalten wollte und auch behielt. Hierfür spricht insbesondere, dass die Angeklagte jedenfalls keine augenfälligen Bemühungen unternahm, ihre Entdeckung durch das Ladenpersonal zu bewirken, und auch keine Umstände festgestellt sind, die darauf hin-deuten, die Angeklagte habe nach Verlassen der Märkte die Waren außerhalb zurücklassen wollen, damit sie wieder zurückgeführt werden konnten.

Die im Ausgangspunkt zutreffende Erwägung des Landgerichts, der Täter, der fremde bewegliche Sachen wegnehme, um sodann gestellt zu werden und sie sogleich wieder an den Eigentümer zurückgelangen zu lassen, handele ohne die für einen vollendeten oder versuchten Diebstahl erforderliche Zueignungsabsicht (vgl. BGH, Urteil vom 25. Oktober 1968 – 4 StR 398/68, GA 1969, 306, 307; Fischer, StGB, 59. Aufl., § 242 Rn. 41 a.E.), greift daher zu kurz. Es hätte sich vielmehr auch mit der Möglichkeit einer späteren Realisierung der Zueignungsabsicht der Angeklagten auseinandersetzen müssen. Diese konnte im Falle noch nicht vollendeter Wegnahme der Waren im Zeitpunkt des Verlassens des jeweiligen Marktes (vgl. dazu BGH, Urteil vom 26. Juni 2008 – 3 StR 182/08, BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 12) zur Strafbarkeit der Angeklagten wegen (versuchten) Diebstahls führen. War die Wegnahme bereits vollendet, so konnte sich durch das Verlassen des Marktes mit den unbezahlten Waren der Zueignungswille der Angeklagten manifestieren, womit eine Strafbarkeit wegen (versuchter) Unterschlagung in Betracht kam.“

„… bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen…“

© Dan Race - Fotolia.com

Wenn einem Angeklagten vom Tatgericht erst mal Bewährung (§ 56 StGB) gewährt worden ist, dann ist zwar noch nicht der Krieg, aber doch eine wesentliche Schlacht gewonnen. Denn, wenn dann die StA gegen die Bewährungsentscheidung in die Revision geht, wird es für sie nicht so einfach. Hat das Tatgericht keine (wesentlichen) Fehler gemacht, hat die Bewährungsentscheidung nicht immer, aber meist Bestand.

Das zeigt noch einmal das BGH, Urt. v.25.04.2012 – 5 StR 17/12:

Das Tatgericht hat dem Angeklagten anders als den beiden Mitangeklagten, die ihre Taten während laufender Bewährung begangen haben, ungeachtet seiner Vorstrafen eine günstige Kriminalprognose zugebilligt. Diese Entscheidung, die auf den derzeitigen Lebensumständen des Angeklagten und maßgeblich auf dem von ihm in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck beruht, hat das Revisionsgericht bis zur Grenze des Vertretbaren hinzunehmen (vgl. BGH, Urteile vom 14. Mai 2002 – 1 StR 48/02, insoweit in StV 2003, 81 nicht abgedruckt; 10. Juni 2010 – 4 StR 474/09, Rn. 34; 22. Juli 2010 – 5 StR 204/10, NStZ-RR 2010, 306, 307; 10. November 2010 – 5 StR 424/10). Diese Grenze ist gewahrt. Wesentliche Lücken oder Widersprüche im Zusammenhang mit der Strafaussetzungsfrage lässt das angefochtene Urteil nicht erkennen.

An den persönlichen Eindruck kommt das Revisionsgericht natürlich nicht ran – wenn er ausreichend belegt ist.

Ach so: Warum ein Urteil des BGH? Es handelte sich um eine zu Lasten eingelegte Revision der StA.