Archiv für den Monat: September 2009

Haftprüfung, Pflichtverteidiger und Akteneinsicht – wann kommt der EGMR bei den AG an?

Ein Kollege schildert mir gerade den Ablauf eines Haftprüfungstermins (ERi = Ermittlungsrichter; RA = Rechtanwalt

ERi in Urlaub, die Vertreterin – eine sehr toughe junge Richterin erscheint.

RA: Ich beantrage die Beiordnung als PflV

ERi: Rechtsgrundlage?

RA: § 140 I Nr. 4 StPO n.F. (nF ganz leise genuschelt…)

ERi: Der gilt aber erst ab 1.1.2010

RA: Aber der Rechtsgedanke findet bereits jetzt Anwendung. Schließlich handelt es sich ja nur um die Umsetzung der bereits bekannten höchstrichterlichen Rspr.

ERi: Ja schon, aber ich bin nicht zuständig.

Zur AE dann folgender Dialog:

RA: Ich wüsste gerne die wesentliche Grundlage der Haftentscheidung.

ERi: Ich gebe die Akte keinesfalls raus.

RA: Die Basis der Haftentscheidung muss aber dem Besch bzw. dem Verteidiger bekannt gemacht werden.

ERi: (wie vor)

RA: Können Sie mir nicht wenigstens den Inhalt sonst irgendwie bekannt machen?

ERi: (wie vor)

RA: Dann dürfen Sie den HB nicht erlassen, denn ich kenne die Basis der Entscheidung nicht. Das Verfahren ist nicht kontradiktorisch, Verstoß gegen Waffengelichheit, bla bla bla…

ERi: (wie vor)

RA: Sie wissen, dass die Invollzugsetzung dann rechtswidrig ist

ERi: (wie vor) Zusatz: Dafür ist die STA zuständig.

RA: Die ist aber nicht hier. Und wenn ich keine AE bekomme, dann beantrage ich sofort nach Erlass Haftprüfung und die muss gleich durchgeführt werden, da muss ich dann AE bekommen und (siehe oben) bla bla bla

ERi: Ja ich könnte ja mal anrufen

RA: Tun sie das.
ERi telefoniert, murmel murmel….

ERi: Kein Problem, hier ist die Akte…

Kurze Pause, während der RA Akte einsieht…

Zur „Strafe“ kommt Mandant in eine JVA, die über 1 Stunde Fahrtzeit von der Kanzlei einfache Strecke – wobei das nicht ERi verfügt hat, sondern die Geschäftsstelle vorher schon abgeklärt hat.

Schwank am Rande: Der Kollege nach mir meinte, dass er ja nur gekommen sei, weil § 140 I Nr. 4 StPO ja seit 1.9. gelte. Sonst wäre er gar nicht erschienen. Ohne Beiordnung gehe gar nix… Ich habe ihn in dem Glauben gelassen…“

Ein m.E. „schönes“ (?) Beispiel der „Rechtswirklichkeit. Natürlich gilt der der neue § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO noch nicht, aber man könnte ja schon mal an ihn denken. Natürlich ist der Ermittlungsrichter derzeit für die Beiordnung nicht zuständig. Demnächst ist er es (§ 141 Abs. 4 Hs. 2 StPO n.F.).

 „Schlimmer“ finde ich das Umgehen mit der AE. Die Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG scheint zunächst mal nicht zu interessieren (vgl. z.B. EGMR StRR 2008, 98 ff. und die gerade diese Entscheidung bestätigende Entscheidung der Kammer des EGMR. Man kann nur hoffen, dass das alles ab 01.01.2020 (upps, Anm. von mir: hier muss natürlich 2010 stehen, typischer Freudscher Versprecher :-)) anders wird. Bekanntlich stirbt die Hoffnung ja zuletzt.

Fernwirkung der Absprache im Strafverfahren

Des einen Freud, des anderen Leid. So oder so ähnlich könnte man formulieren, wenn man das Urteil des LAG Baden-Württemberg vom 01.07.2009, 2 Sa 39/08 liest (ist zwar Arbeitsrecht, hat aber strafrechtlichen Einschlag). In der Sache ging es um einen Schadensersatzprozess im arbeitsgerichtlichen Verfahren, in dem der AG vom AN Schadensersatz für einen Umsatzsteuerschaden verlangte. Der AG hatte sich zum Beweis des Schadens auf eine Absprache, oder wie es jetzt in § 257c StPO heißt, Verständigung berufen. Das AG hat das nicht ausreichend sein lassen. Ein von einem Verteidiger abgegebenes formelhaftes und dürres Teilgeständnis gegenüber dem Vorwurf der Untreue und Umsatzsteuerhinterziehung durch einen AN im Rahmen einer tatsächlichen Absprache zwischen Verteidigung, Staatsanwalt und Gericht müsse nicht zwingend einen gewichtigen Stellenwert für einen Schadensersatzprozess des AG gegen den AN haben. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der angeklagte AN keine Kenntnis von der Bedeutung dieses Geständnisses für einen späteren Zivilprozess habe.

Fazit daraus: Für den Verteidiger ein Dilemma. Denn einerseits wird das formelhafte Geständnis ggf. für die Verständigung im Strafverfahren nicht ausreichen, andererseits entwickelt ein umfassenderes Geständnis ggf. eine „Fernwikrung“, die man bedenken muss. Über die muss der Verteidiger den Mandanten dann sicherheitshalber wohl belehren; man kann sich ja auch andere Konstellationen denken (Unterhaltsverfahren, allgemeiner Schadensersatzprozess usw.). Sonst kracht es möglicherweise an der Stelle.

Ohne Akte tue ich nichts – Richter arbeitet nicht ohne Akte

Da gibt es mal wieder eine Entscheidung, die sich mit der Frage des Richtervorbehalts bei § 81a StPO auseinandersetzt: LG Limburg, Beschl. v. 04.08.2009, 2 Qs 30/09. An sich nichts Besonderes. Denn man wird in der Tat trefflich darum streiten können, ob in Limburg ein nächtlicher richterlicher Eildienst erforderlich ist (vgl. dazu OLG Hamm, Urt. v. 18. 8. 2009, 3 Ss 293/08 für Bielefeld). „Interessanter“ finde ich dann schon die Ausführungen des LG zur Frage: Brauche ich eine Akte?. Dazu heißt es:

„Hinzu kommt, dass die Richterinnen und Richter des Amtsgerichts L. – jeder in einer eigenen richterlichen Entscheidung zur Verfahrensgestaltung – übereinstimmend mündliche Entscheidungen aufgrund mündlichen Sachvortrages ablehnen. Entgegen der Verteidigung liegt hierin keine Weigerung der Richter, eine Rechtsnorm anzuwenden. Eine mündliche Entscheidung ohne Akte wäre zwar auch prozessordnungsgemäß (vgl. BGHSt 51, 285 ) und begründet bei entsprechender amtsgerichtlicher Praxis (etwa AG Essen – Beschl.v. 11.10.2007 – 44 Gs 4577/07 – iuris) auch die Verpflichtung der Polizeibeamten zu versuchen, eine mündliche Anordnung einzuholen (vgl. OLG Hamm, Beschl.v. 25.8.2008 – 3 Ss 318/08 – iuris). Im Amtsgerichtsbezirk L. liegt der Fall aber anders. Die hier in richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) getroffene Entscheidung zur Verfahrensgestaltung ist, weil mit der Prozessordnung im Einklang stehend, zu respektieren. Eine Verpflichtung zur mündlichen Entscheidung besteht nicht. Im Übrigen ist eine Entscheidung auf der Grundlage eines schriftlich unterbreiteten Sachverhalts, einer Akte, auch sachgerecht. Die Durchsetzung der vorbeugenden Kontrolle und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes gebieten eine solche Verfahrensweise, soll der Richtervorbehalt seine Funktion einer verstärkten Sicherung der Grundrechte genügen. Anzunehmen, es könne „im Idealfall binnen einer Viertelstunde“ (so etwa OLG Stuttgart NStZ 2008, 238, Zopfs NJW 2009, 244) eine mündliche richterliche Anordnung eingeholt werden, wahrt den Richtervorbehalt nur formal.

Einer solchen Entwertung richterlicher Tätigkeit verbunden mit einem Vertrauensverlust die Seriosität richterlicher Arbeit betreffend ist entgegen zu treten. So hat auch das LG Hamburg (aaO) eine Anordnung ohne schriftliche Entscheidungsgrundlage schlicht als „unzumutbar“ angesehen. Zu Recht verweisen die Richter des Amtsgerichts L. darauf, dass bei einem mündlichen Sachvortrag die tatsächliche Entscheidungsgrundlage nicht nachvollzogen werden kann. Das gesprochene Wort ist flüchtig und birgt zudem die Gefahr, dass gerade in Grenzfällen, in denen sich die richterliche Kontrolle zu bewähren hat, entscheidungserhebliche Details nicht in gebotener Sorgfalt dargestellt und abgewogen werden können. Zudem verschieben sich Verantwortlichkeiten. Mit der von den Ermittlungsbehörden zu fordernden schriftlichen Dokumentation eines vorläufigen Ermittlungsergebnisses geht ein höheres Maß an Verantwortung einher als dies in einem mündlichen Vortrag der Fall ist. Dies gilt insbesondere, wenn im Anfangsstadium von Ermittlungen richterliche Entscheidungen beantragt werden. Bei schriftlicher Unterbreitung der Ermittlungsergebnisse ist auch ausgeschlossen, dass Ermittlungsrichter und Polizeibeamter sich unterschiedlich an Details der Entscheidungsgrundlage erinnern. Schon die Gefahr derartiger Missverständnisse ist angesichts des Gewichts der Entscheidung zu vermeiden, schwächen solche Missverständnisse auch das Vertrauen in die Zuverlässigkeit richterlicher Entscheidungen. Mit guten Gründen fordern daher die Amtsrichter in L., dass die richterliche Entscheidungsgrundlage – auch für den Beschuldigten – nachvollziehbar ist.“

Na ja, das kann man auch anders sehen. Und: Wird mit einer vorab abgegebenen Erklärung, nicht auf „mündlichen Zurif“ tätig werden zu wollen, nicht vorab für jeden Fall nächtlichen Tätigwerdens „Gefahr im Verzug“ en bloc bejaht. Das BVerfG verlangt aber eine Einzelentscheidung und eine eigenverantwortliche Prüfung des Einzelfalls. So brauchen die Polizeibeamten doch gar nicht erst zu versuchen, einen Richter zu erreichen. Oder?

Hat der Betroffene überhaupt noch Rechte im OWi-Verfahren?

Messverfahren immer wieder Messverfahren, stöhnen sicherlich viele Verteidiger, und es werden sicherlich noch mehr werden, wenn das Schule macht, was die Stadt Bielefeld im Moment versucht. Da gibt es zum Messverfahren mit der stationären Geschwindigkeitsanlage Traffistar, die auf der BAB A2 beim km 329,415 steht (also da Vorsicht!!!) ein „Merkblatt für Rechtsanwälte/Rechtsanwältinnen“, das man im Grunde genommen dahin zusammenfassen kann: Wir machen alles richtig, Fehler gibt es bei diesem Gerät nicht und, wenn du meinst, die Messung überprüfen zu müssen/zu wollen: Akteneinsicht gibt es nicht und ich bestimme was in die Akten kommt. Denn „Zulassungsschein und die Betriebsanleitung eines Messgerätes gehören nicht zu den Einzelvorgängen, sie werden daher nicht zu den Akten genommen und unterliegen somti nicht der Akteneinsicht im Verfahren…“. Ist das denn richtig? Wie soll denn der RA die Richtigkeit der Messung prüfen? Und: Die Kopie der Betriebsanleitung bekommst du nicht, da steht das Urheberrecht des Herstellers entgegen. Wirklich? Oder geht das Recht auf rechtliches Gehör vielleicht vor? Und wieso muss die Verwaltungsbehörde das Urheberrecht des Herstellers schützen? Wieso ist das eigentlich durch Akteneinsicht verletzt: Im Übrigen: Es gibt auch andere, für den Betroffenen günstige Rechtsprechung, die man aber lieber gar nicht erst erwähnt. Am besten: „Zwischen der letzten Eichung und dem Tag des Vorfalls sind weder Schäden am Gerät entstanden noch wurden Reparaturen vorgenommen….“. Wie kann man das vorab in einem Merkblatt schon feststellen? Wer will das prüfen und wie soll man es prüfen.

Kurzum:  Der Betroffene hat keinerlei Rechte. Wenn das abgesegnt wird (zuständig für Bielefeld ist das OLG Hamm), wird es in den Bußgeldverfahren lustig :-).

Verteidiger bleib lieber stumm, ich weiß alles! (?)

Mich weist gerade ein Kollege auf den Blog des Kollegen Siebers und einen dort geposteten Beitrag hin. Der lautete:
„Schade für die Kollegen im Bezirk des Amtsgerichts Augsburg, denn dort ist Verteidigung überflüssig, Strafrechtler müssen umschulen oder wegziehen, denn das Gericht macht immer alles richtig, natürlich von Amts wegen schon!
Eine Richterin dieses Gerichts teilt mir nämlich mit:
Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass das Gericht die Vorschriften der StPO von Amts wegen beachtet. Entsprechende Hinweise Ihrerseits (in der Funktion als Verteidiger) sind also entbehrlich.

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass dasselbe Gericht einen Haftbefehl wegen eines angeblichen Betrugsschadens von unter 100,00 € erlassen hat.“

Mich ärgert nicht nur, dass es das AG Augsburg ist – schließlich bin ich da zugelassen -, mich ärgert vielmehr die Arroganz, die m.E. in der Nachricht der Amtsrichterin steckt. Die vielen Aufhebungen amtsrichterlicher Urteile beweisen doch gerade, dass die StPO eben nicht immer beachtet wird. Sonst müssten die OLGs ja nicht eingreifen und das ein oder andere wieder gerade rücken.

Und: Was ist denn gegen einen Hinweis auf die StPO einzuwenden, wenn man dadurch vielleicht einen Fehler vermeidet. Oder macht man in Bayern keine Fehler? Tja, anderer Rechtskreis.