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Pflichti I: Pflichtiwechsel trotz versäumter Auswahl, oder: Rückwirkende Bestellung (jetzt) unzulässig

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Und dann heute mal wieder eine Pflicht-Tag. Allerdings so ganz viel ist es nicht.

Ich stelle hier zunächst zwei AG-Entscheidungen zum Beiordnungsverfahren vor, und zwar:

Zunächst kommt hier der AG Hamburg, Beschl. v. 07.08.2023 – 166 Gs 1438/23 -, mit dem das AG einen Pflichtverteidigerwechsel vorgenommen hat:

„Auf Antrag des Beschuldigten war der Beschluss dieses Gerichts vom 02.08.2023, mit dem ihm in Vorbereitung des anzuberaumenden Haftbefehlverkündungstermins Herr Rechtsanwalt pp. gemäß § 140 Abs. 1 Ziffer 5 StPO zum Pflichtverteidiger bestellt worden ist, aufzuheben, da ein Fall des § 143a Abs. 2 Ziffer 1 StPO vorliegt.

Danach ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers unter anderem dann aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn einem Beschuldigten bei seiner vorangegangenen normativ erforderlichen Anhörung zur Auswahl des Verteidigers nur eine kurze Frist gesetzt worden ist. Dem Beschuldigten ist aktuell zumindest nicht zu widerlegen, dass diese Voraussetzungen in seinem Fall vorliegen. Zwar ist dem Beschuldigten mit Schriftsatz dieses Gerichts vom 21.07.2023 eine „an sich angemessene“ Frist von einer Woche gesetzt worden, um dem Gericht einen Rechtsanwalt zu benennen, von dem er als (Pflicht-)Verteidiger vertreten werden möchte. Erst nach dem Ausbleiben einer Stellungnahme innerhalb der gesetzten Frist ist ihm sodann mit Rechtsanwalt pp. ein Pflichtverteidiger aus dem Kreis der Hamburger Strafverteidiger von Amts wegen beigeordnet worden. In Anlehnung an den Inhalt des Schriftsatzes des von dem Beschuldigten erst danach beauftragten Rechtsanwalts pp2 vom 03.08.2023 wird ihm allerdings nicht zu widerlegen sein, dass es ihm aufgrund der mit seiner aktuellen Inhaftierung (in anderer Sache) einhergehenden Widrigkeiten und organisatorischen Schwierigkeiten kaum möglich gewesen ist, die gesetzte Frist einzuhalten. Zumindest in dieser Fallkonstellation muss die ihm gerichtlich gesetzte Frist als zu kurz bemessen angesehen werden, so dass der Rechtsgedanke des § 143a Abs. 2 Ziffer 1 StPO auch im Falle dieses Beschuldigten fruchtbar zu machen ist. Da die Antragstellung zur Umbeiordnung durch den „neuen“ Verteidiger des Beschuldigten bereits am 03.08.2023 und damit innerhalb der vom Gesetzgeber grundsätzlich dafür eingeräumten Dreiwochenfrist erfolgt ist und der Umbeiordnung keine wichtigen Gründe entgegen stehen, insbesondere keine nennenswerte Verfahrensverzögerung durch die Umbeiordnung zu erwarten ist, war dem Antrag des Beschuldigten  im Ergebnis stattzugeben. Der Beschuldigte befindet sich in anderer Sache weiterhin in staatlichem Gewahrsam (§ 140 Abs. 1 Ziffer 5 StPO). Die Anhörung aller beteiligten Personen ist erfolgt. Der Beschluss ergeht im Einverständnis aller Beteiligten.“

Und dann – nur zur Abrundung – noch der AG Zweibrücken, Beschl. v. 26.10.2023 – 1 Gs 1248/23 -, in dem das AG jetzt auch davon ausgeht, dass die nachträgliche Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht zulässig ist. Es hat damit seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben.

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, oder: Einigkeit in einem LG-Bezirk wäre schön

Im zweiten Posting dann zwei Entscheidungen zu rückwirkenden Beiordnung des Pflichtverteidigers, die ich schon ein wenig erstaunlich finde. Nicht wegen der entschiedenen Frage – die ist eben umstritten, sondern:

Dazu kommt ich noch einmal auf den AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 Gs 2469/23 jug – zurück, den ich ja heute morgen schon vorgestellt hatte. Darin hat das AG nämlich mit Blick auf die Neureglung des Rechts der Pflichtverteidigung im Anschluss an die RL 2016/1919/EU („PKH-Richtlinie“) die rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers als möglich angesehen, wenn dessen Bestellung eine wesentliche Verzögerung erfahren hat. Die entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO hat es abgelehnt. Wegen der Einzelheiten verweise ich auf den Volltext mit der m.E. zutreffenden Begründung.

Erstaunt ist man – zumindest ich – dann, wenn man dann den LG Amberg, Beschl. v. 18.10.2023 – 11 Qs 73/23 – liest. Denn in dem hat das LG die sofortige Beschwerde gegen einen die rückwirkende Pflichtverteidigerbestellung des AG Amberg (!!) zurück gewiesen. Entschieden hatte zwar eine andere Abteilung des AG – Aktenzeichen war: 6b Gs 1711/23 AG Amberg – aber: Man fragt sich, warum man sich nicht „einigen“ kann? Das würde es den Beschuldigten und Verteidigern sicherlich einfacher machen, wenn die wüssten, woran sie sind. So haben wir ein Hin und Her. Und das dann auch noch bei einem LG, dass nach Aufhebung der rückwirkenden Bestellung davon ausgeht – zumindest davon ausgegangen ist – das damit dann auch der Gebührenanspruch des Verteidigers nachträglich wegfällt, was das OLG Nürnberg zum Glück dann anders gesehen hat (vgl. hier).

„Schön“ übrigens auch die Ausführungen des LG zur „Unverzüglichkeit“:

„Der Antrag auf Bestellung als Pflichtverteidiger erfolgte am 22.06.2023, die Entscheidung über die Ablehnung der Beiordnung als Pflichtverteidiger erging am 21.07.2023. Selbst wenn danach entgegen § 142 Abs. 1 S. 2 StPO der Antrag nicht unverzüglich und auch erst auf Nachfrage dem Gericht vorgelegt worden sein sollte – worüber vorliegend nicht entschieden werden muss – kann von einer wesentlichen Verzögerung der Entscheidung über den Beiordnungsantrag (noch) keine Rede sein.“

Man fragt sich: Wann denn dann?

Pflichti II: Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung?, oder: LG Berlin bejaht mit sehr schöner Begründung

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Ich komme dann hier im zweiten Posting noch einmal auf den LG Berlin, Beschl. v. 21.09.2023 – 517 Qs 33/23 – zurück, den ich ja heute Morgen schon wegen des Beiordnungsgrundes vorgestellt hatte (Pflichti I: Beiordnung bei psychischer Beeinträchtigung, oder: Drohender Bewährungswiderruf/Gesamtstrafe).

Der Beschluss hat aber auch eine verfahrensrechtliche Problematik. Dabei geht es zwar „nur“ um die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung, zu der ich ja sonst nur noch die Entscheidungen en bloc erwähne. Die Begründung des LG Berlin ist es aber wert, dass man sie einmal vollständig einstellt. Sie ist nämlich sehr schön:

„2. Die Beiordnung kann auch seit Neureglung des Rechts der notwendigen Verteidigung rückwirkend nach Einstellung des Verfahrens erfolgen, und zwar jedenfalls dann, wenn der Beiordnungsantrag – wie hier – vor der Verfahrenseinstellung ordnungsgemäß gestellt und darüber allein aufgrund justizinterner Verzögerungen nicht entschieden worden ist. Denn es ist gerade der Wille des Gesetzgebers und der damit umgesetzten Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für Verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (sogenannte PKH-Richtlinie) gewesen, nicht nur eine ordnungsgemäße Verteidigung zu gewährleisten (vgl. insoweit bereits Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie [EU] 2013/48 u.a. über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren), sondern gerade auch mittellose Beschuldigte im Fall der notwendigen Verteidigung von den Kosten ihrer Verteidigung freizustellen (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 2, 36). Diese vom Gesetzgeber und der Richtlinie intendierte effektive Unterstützung und Absicherung der Verfahrensbeteiligten liefe jedoch ins Leere, wenn ein Beschuldigter, der sich auf sein Recht auf Pflichtverteidigerbestellung beruft und einen Verteidiger konsultiert, unter Umständen damit rechnen muss, – wie hier aufgrund justizinterner Verzögerung – unverschuldet mit den Kosten seines Rechtsbeistandes belastet zu werden (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 142 Rn. 20 m.w.N.; Krawczyk, in: BeckOK StPO, 47. Edition v. 1. April 2023, § 142 Rn. 30 m.w.N.; Kämpfer/Travers, in: MüKoStPO, 2. Auflage 2023, § 142 Rn. 14; OLG Stuttgart, Beschluss vom 15. Dezember 2022 – 4 Ws 529/22 -, juris Rn. 17 ff.; OLG Nürnberg Beschluss vorn 6. November 2020 – Ws962/20, Ws963/20 BeckRS 2020, 35193 Rn. 25ff; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 -, juris Rn. 14 ff.; LG Berlin, Beschluss vorn 6. Oktober 2022 – 511 Qs 79/22 -, BA S. 4 ff.; LG Hamburg, Beschluss vom 5. April 2022 – 612 Qs 6/22 -, juris Rn. 7 ff. rn.w.N.; LG Stade, Beschluss vom 30. September 2021 – 102 Qs 41/21 -, juris Rn. 9 ff.).

Angesichts der gesetzgeberischen Intention und der nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten effet utile-Grundsatz zwingend zu berücksichtigenden europäischen Vorgaben überzeugt die Gegenansicht (vgl. Willnow, in: KK-StPO, 9. Auflage 2023, § 142 Rn. 16; OLG Hamburg, Beschluss vom 16. September 2020 – 2 Ws 112/20 -, juris Rn. 15 f.; KG, Beschlüsse vom 6. Februar 2023 – 6 Ws 169/22 – 121 AR 275/22 -, BA S. 5 ff.; vorn 9. April 2020 – 2 Ws 30 ¬31/20 -, juris Rn. 15; vom 30. Dezember 2019 – 4 Ws 115/19 -, BA S. 3 f.; vom 20. August 2019 -4 Ws 81/19 -, BA S. 3 f.; LG Berlin, Beschluss vorn 21. Dezember 2022 – 534 Qs 97/22 -, BA S. 2 ff.; zur alten Rechtslage nur BGH, Beschluss vom 20. Juli 2009 – 1 StR 344/08 -, juris Rn. 4) nicht. Danach sei die Beiordnung zum Pflichtverteidiger nach Abschluss des Verfahrens nicht möglich, weil die Beiordnung im Strafprozess nicht im Kosteninteresse des Beschuldigten, sondern – wie nach alter Rechtslage – allein dem Zweck diene, die ordnungsgemäße Verteidigung in einem noch ausstehenden Verfahren zu gewährleisten. Dies stünde auch im Einklang mit der PKH-Richtlinie, die in Art. 4 Abs. 1 den „Anspruch auf Prozesskostenhilfe“ nur dann von den Mitgliedstaaten sichergestellt wissen will, „wenn es im Interesse der Rechtspflege erforderlich“ sei (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 15). Dieses Interesse sei jedoch mit dem Abschluss des Verfahrens entfallen (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 5). Einen „Systemwechsel“ von der Prüfung des Rechtspflegeinteresses hin zu einer Bedürftigkeitsprüfung habe der hiesige Gesetzgeber nicht beabsichtigt (vgl. OLG Hamburg, a.a.O., Rn. 16).

Die Gegenansicht verkennt, dass „das Interesse der Rechtspflege“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der PKH-Richtlinie nicht allein auf ein objektiv-organisatorisches Erfordernis reduziert werden darf, sondern im Lichte des – im Erwägungsgrund 3 der PKH-Richtlinie ausdrücklich in Bezug genommenen – Art. 6 Abs. 3 lit. c EMRK (dort „Interesse der Rechtspflege“) weit im Sinne von Verfahrensgerechtigkeit gegenüber dem Beschuldigten bzw. Angeklagten zu verstehen ist (vgl. OLG Stuttgart, a.a.O., Rn. 20 m.w.N.; zu Art. 6 EMRK: Gaede,         MüKoStPO, 1. Auflage 2018, Art. 6 EMRK Rn. 209). Folgerichtig stellt der Gesetzgeber in der Gesetzesbegründung auch klar, dass kein Raum für eine über das Vorliegen eines Falles der notwendigen Verteidigung hinausgehende weitere Prüfung des Rechtspflegeinteresses besteht, wenn im Zeitpunkt der Antragstellung bereits ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt und die übrigen Antragsvoraussetzungen des § 141 StPO gegeben sind. In einem solchen Fall muss die Bestellung unverzüglich, das heißt nicht sofort, aber so rechtzeitig erfolgen, dass die Verteidigungsrechte gewahrt werden (vgl. BT-Drs. 19/13829, S. 37).

Zudem dient die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers nicht nur dazu, einen Vergütungsanspruch gegen die Staatskasse für einen bereits abgeschlossenen Verfahrensabschnitt zu schaffen, sondern mittelbar auch den Interessen des Beschuldigten, Angeklagten oder Verurteilten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung. Denn auch wenn es die Pflicht eines Verteidigers ist, ab dem Moment der Mandatsübernahme bestmöglich im Sinne des Mandanten tätig zu werden, liegt die Befürchtung nicht fern, dass ein Verteidiger trotz Vorliegens der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung und rechtzeitiger Bestellung im Wissen um die – andernfalls bestehende – Möglichkeit, letztlich keine Vergütung zu erhalten, nicht im gleichen Maße für seinen Mandanten tätig wird, wie dies bei einer Wahlverteidigung mit einem solventen Mandanten der Fall wäre (vgl. zu alldem OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021, a.a.O., Rn. 15 f.; a.A. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Diesen Gedanken, dass dem Beschuldigten ab Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen schnellstmöglich anwaltlicher Rat zur bestmöglichen Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung stehen muss, hat der Gesetzgeber durch die Schaffung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO deutlich gemacht (vgl. OLG Bamberg, a.a.O., Rn. 16).

Die (ausnahmsweise) Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung zum Pflichtverteidiger steht darüber hinaus auch im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur rückwirkenden Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Diese kommt nach § 397a Abs. 2 StPO bzw. § 404 Abs. 5 Satz 1 StPO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO nämlich grundsätzlich bei bereits abgeschlossenen Verfahren nicht in Betracht. Denn Aufgabe der Prozesskostenhilfe sei es nach Ansicht des BGH nicht, finanziell bedürftige Personen für prozessbedingte Kosten oder dafür eingegangene Verpflichtungen nachträglich zu entschädigen. Etwas anderes gelte aber ausnahmsweise dann, wenn ein vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens mit den erforderlichen Unterlagen gestellter Bewilligungsantrag nicht bzw. nicht vorab beschieden worden sei und der Antragsteller mit seinem Antrag bereits alles für die Bewilligung der Prozesskostenhilfe Erforderliche getan habe (vgl. BGH, Beschluss vom 18. März 2021 – 5 StR 222/20 -, juris Rn. 4, st. Rspr). Sachliche Gründe, die die unterschiedliche Behandlung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und eines Antrags auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtfertigen könnten, sind nicht ersichtlich. Zwar ist es richtig, dass die Pflichtverteidigerbestellung anders als die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht an die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse knüpft, also nicht allein den mittellosen Beschuldigten bzw. Angeklagten im Blick hat (vgl. KG, Beschluss vom 6. Februar 2023, a.a.O., BA S. 6). Entscheidend ist aber, dass beide Instrumente dem Betroffenen bei Vorliegen der Antragsvoraussetzungen effektiven Zugang zu anwaltlichem Rat verschaffen sollen (vgl. OLG Bamberg, a.a.O. Rn. 18 f.).“

Ein bisschen Fortbidlung für das ein oder andere OLG oder LG 🙂 .

Pflichti II: Schon wieder rückwirkende Bestellung, oder: Manchen lernen es nie

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Und dann einige Entscheidungen zur rückwirkenden Bestellung, leider dieses Mal mit einem Schwergewicht bei den Entscheidungen, die die rückwirkende Bestellung als unzulässig ansehen.

Darunter befindet sich dann auch ein Beschluss des OLG Dresden, den das OLG nicht veröffentlicht hat. Man fragt sich, warum? Wir finden in der Zusammenstellung dann auch ein Beschluss des LG Leipzig, in dem man eben mal die Rechtsprechung, die man bisher vertreten hat, aufgibt. Und einen des LG Zweibrücken, die die andere Auffassung als „Mindermeinung“ abtut, na ja.

Und ich bleibe dabei. Das Ablehnen der rückwirkenden Bestellung ist falsch. Es ist ein Freibrief für die StA, die letztlich tun und lassen kann, was und wann sie will.

Gegen eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

Für eine rückwirkende Bestellung haben sich ausgesprochen:

 

Nochmals: Verwertung einer Dashcam-Aufzeichnung, oder: Unfallaufklärung mit Dashcam bei Beweisnot

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Im „Kessel Buntes“ am Samstag dann heute zwei Entscheidungen aus dem Verkehrszivilrecht.

Ich beginne mit dem LG Aachen, Urt. v. 15.06.2023 – 12 O 398/22 -, das sich noch einmal zur Verwertung von Dashcam-Aufzeichnungen äußert. Das LG hatte über Schadensersatzansprüche bei einem Kollisionsunfall nach einer Kurvendurchfahrt mit dem Vorwurf des beiderseitigen Fahrstreifenwechsel zu entscheiden. Das LG hat Zeugen vernommen, was aber kein Ergebnis gebracht hat. Das LG hat dann eine vorliegende Dashcam-Aufzeichung verwertet. Zur Zulässigkeit führt es aus:

„(bb) Die Verwertung des Dashcam-Videos war als Beweismittel auch zulässig.

(1) Keine Partei – insbesondere nicht der Kläger – hat der Verwertung der Dashcam-Videos widersprochen.

(2) Es kann auch dahinstehen, ob die streitgegenständliche Videoaufzeichnungen nach den geltenden datenschutzrechtlichen Bestimmungen unzulässig sind. Selbst wenn dies der Fall wäre, wäre ihre Verwertung als Beweismittel dennoch zulässig. Das ergibt sich aus einer vorzunehmenden Güterabwägung (ausführlich BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 39, juris).

(a) Auf der einen Seite stehen das Interesse des (Gegen-)Beweisführers – hier des Beklagten zu 1) – an der Durchsetzung seiner zivilrechtlichen Ansprüche und seines im Grundgesetz verankerten Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Interesse an einer funktionierenden Zivilrechtspflege und an einer materiell richtigen Entscheidung nach freier Beweiswürdigung. Auf der anderen Seite steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348¬377, Rn. 40 m.w.N., juris).

(b)  Zwar begründet die Dashcam-Aufnahme, durch die das Fahrzeug des Klägers mit dessen Kraftfahrzeugkennzeichen in und kurz nach der Unfallsituation aufgenommen und diese Sequenz abgespeichert worden ist, einen Eingriff in das Recht des Klägers, der durch die Nutzung als Beweismittel fortgesetzt wird (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 41 f., juris).

(c) Der Eingriff ist allerdings nicht rechtswidrig, da die schutzwürdigen Belange des Beklagten zu 1) das Schutzinteresse des Klägers überwiegen. In der Rechtsprechung sind wegen der Eigenart des allgemeinen Persönlichkeitsrechts als eines Rahmenrechts, dessen Reichweite nicht absolut feststeht, Abwägungskriterien u.a. nach Maßgabe einer abgestuften Schutzwürdigkeit bestimmter Sphären, in denen sich die Persönlichkeit verwirklicht, herausgearbeitet worden. Danach genießen besonders hohen Schutz die sogenannten sensitiven Daten, die der Intim-und Geheimsphäre zuzuordnen sind. Geschützt ist aber auch das Recht auf Selbstbestimmung bei der Offenbarung von persönlichen Lebenssachverhalten, die lediglich zur Sozial- und Privatsphäre gehören. Allerdings hat der Einzelne keine absolute, uneingeschränkte Herrschaft über „seine“ Daten; denn er entfaltet seine Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft. In dieser stellt die Information, auch soweit sie personenbezogen ist, einen Teil der sozialen Realität dar, der nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Vielmehr ist über die Spannungslage zwischen Individuum und Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und -gebundenheit der Person zu entscheiden (BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 – VI ZR 233/17 –, BGHZ 218, 348-377, Rn. 44 m.w.N.).

(d) Bei der gebotenen Abwägung ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Kläger lediglich in seiner Sozialsphäre betroffen ist. Aufgezeichnet wurde ein Unfallgeschehen unter Beteiligung seines Kraftfahrzeugs. Das Geschehen ereignete sich im öffentlichen Straßenraum, in den er sich freiwillig begeben hat. Er hat sich durch seine Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer ausgesetzt. Rechnung zu tragen ist zudem der häufigen besonderen Beweisnot, die der Schnelligkeit des Verkehrsgeschehens geschuldet ist. Wenn überhaupt Zeugen vorhanden sind, ist der Beweiswert ihrer Aussagen angesichts der Flüchtigkeit des Unfallgeschehens und der Gefahr von Rekonstruktions- und Solidarisierungstendenzen regelmäßig gering; unfallanalytische Gutachten setzen verlässliche Anknüpfungstatsachen voraus, an denen es häufig fehlt. Zu berücksichtigen ist weiter, dass die Aufnahmen auch Feststellungen zum Fahrverhalten des Aufzeichnenden erlauben und grundsätzlich auch zu Gunsten des Beweisgegners sprechen und verwertet werden können.

Der mögliche Eingriff in die allgemeinen Persönlichkeitsrechte anderer Verkehrsteilnehmer, Fußgänger, Radfahrer oder anderer Kraftfahrer bzw. Insassen führt nicht zu einer anderen Gewichtung. Zwar besteht durch permanent und anlasslos aufzeichnende Videokameras in zahlreichen Privatfahrzeugen für das informationelle Selbstbestimmungsrecht der übrigen Verkehrsteilnehmer ein Gefährdungspotential, da durch die bestehenden Möglichkeiten von Gesichtserkennungssoftware, Weiterleitung und Zusammenführung der Daten zahlreicher Aufzeichnungsgeräte nicht auszuschließen ist, dass letztlich Bewegungsprofile individueller Personen erstellt werden könnten. Dem ist jedoch nicht durch Beweisverwertungsverbote im Zivilprozess zu begegnen. Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Möglichkeit einer Beweisverwertung Anreize für die Nutzung von Dashcams setzen kann, doch ist ihr Gefahrenpotential nicht im Zivilprozess einzugrenzen oder (zusätzlich) zu sanktionieren. Deshalb ist es für die Frage der Verwertbarkeit des Beweismittels nicht von Bedeutung, dass der Teil der Aufzeichnung, der nicht im Prozess vorgelegt worden oder für die Unfallrekonstruktion nicht erheblich ist, möglicherweise zu Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht dritter Personen führt.

Dem danach nicht so schwerwiegenden Eingriff in das Recht des Klägers steht nicht nur ein „schlichtes“ Beweisinteresse gegenüber. Denn jedes Beweisverwertungsverbot beeinträchtigt nicht nur die im Rahmen der Zivilprozessordnung grundsätzlich eröffnete Möglichkeit der Wahrheitserforschung und damit die Durchsetzung der Gerechtigkeit und die Gewährleistung einer funktionstüchtigen Zivilrechtspflege, sondern auch durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechte der auf Durchsetzung ihres Anspruchs klagenden Parteien. Es besteht auch ein individuelles Interesse der Partei eines Zivilprozesses an der Findung der materiellen Wahrheit bis hin zur Abwehr eines möglichen Prozessbetruges (zum Ganzen: BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 — VI ZR 233/17 —, BGHZ 218, 348-377, Rn. 43 ff. m.w.N., juris).

(e) In der Konsequenz war die Verwertung der Dashcam-Aufzeichnungen hier zulässig. Dabei war im konkreten Einzelfall zusätzlich zu berücksichtigen, dass dem Beklagten zu 1) hier insbesondere auch keine anderen Beweismittel zur Verfügung standen, um den Gegenbeweis zu führen und seine (vollständige oder quotale) Haftung zu widerlegen, wohingegen der Kläger mit dem Zeugen II» über ein Beweismittel verfügte.

(cc) Nach allem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger zu 1) im Zuge des Abbiegevorgangs einen (teilweisen) Fahrspurwechsel durch Überfahren der Trennlinie vorgenommen hat und es hierdurch zum Unfall gekommen ist. Damit hat der Kläger gegen § 7 Abs. 5 StVO verstoßen. Dass er einen Abbiegevorang beabsichtigt und angekündigt hätte, hat er bereits nicht vorgetragen, sondern bestritten, einen Wechsel überhaupt vorgenommen zu haben. Ohnehin konnte ein Wechsel der Fahrspur zum fraglichen Zeitpunkt nicht ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vonstattengehen, wie es § 7 Abs. 5 StVO allerdings voraussetzt, weil sich der Beklagte zu 1) mit seinem Fahrzeug praktisch neben dem klägerischen Fahrzeug befand und insofern kein Einscheren an der fraglichen Stelle möglich war.“

Und das war es dann für die Klage. Die hat das LG abgewiesen.

Anzumerken ist, dass das LG die Vorgaben aus der genannten Entscheidung des BGH umsetzt werden, ohne dass allerdings den gestiegenen Bedeutungsgehalt des Datenschutzes in Form der DSGVO näher zu erörtern. Andererseits frage ich mich, warum das LG die Verwertbarkeit des  Videos überhaupt erörtert, denn es hatte keine Partei der Verwertung widersprochen.