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Pflichti I: Wieder etwas zu den Beiordnungsgründen, oder: Schwere Folgen, schwierige Sache, Betreuung

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Und heute dann ein Tag mit Pflichtverteidigungsentscheidungen.

Zunächst hier einige Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, wie immer „nur“ die Leitsätze. Es handelt sich um folgende Entscheidungen:

Bereits die Anordnung der Betreuung allein kann einen Fall einer notwendigen Verteidigung begründen. Jedenfalls liegt aber im Falle eines geistigen Gebrechens dann ein Fall notwendiger Verteidigung vor, wenn auf Grund des Grades der Behinderung die Möglichkeit eines Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen, gerade nicht vorliegt.

1. Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung unter anderem dann vor, wenn wegen der Schwere der drohenden Rechtsfolgen die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint. Dies bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen.
2. § 141 StPO setzt nicht voraus, dass der Beschuldigte förmlich durch Eröffnung des Tatvorwurfs gemäß § 136 Abs. 1 Satz 1 StPO Kenntnis von einem gegen ihn laufenden Ermittlungsverfahren erlangt hat.

Die Rechtslage ist nicht schwierig im Sinn von § 140 Abs. 2 StPO, wenn einem nicht deutschsprachigen Betroffenen ein Bußgeldbescheid zwar zur wirksamen Verteidigung und im Hinblick auf ein faires Verfahren zu übersetzen gewesen und damit ggf. mit Übersetzung zuzustellen gewesen wäre, die Frage der Wirksamkeit der Zustellung des Bußgeldbescheids und dem damit verbundenen Lauf der Einspruchsfrist jedoch keine Rolle (mehr) spielt.

1. Die Ablehnung der Verteidigerbestellung im Ermittlungsverfahren erstreckt sich grundsätzlich auch auf das Hauptverfahren. Eine Ausnahme kann etwa dann anzunehmen sein, wenn zwischenzeitlich andere Tatsachen bekannt geworden sind.
2. Eine zur Bewährung ausgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe, die für sich genommen allein bereits die – ohnehin nicht starr zu betrachtende – Grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe überschreitet, führt nicht dazu führen, dass jedes weitere Verfahren ohne jegliche Prüfung einen Fall notwendiger Verteidigung auslöst, vor allem dann nicht, wenn der Verurteilte im Strafverfahren der in Rede stehenden Bewährungssache anwaltlich vertreten und damit ausreichend verteidigt ist.

Angesichts des Umstandes, dass eine vorliegende, nicht einschlägige und geringfügige, Tat bereits mehr als 15 Monate zurück liegt und nach Aktenlage keine anderweitigen Bewährungsverstöße bekannt geworden sind, ist ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung knapp vor Ablauf der Bewährungszeit bereits aus Verhältnismäßigkeitsgründen ausgeschlossen und daher eine Pflichtverteidigerbestellung nicht erforderlich.

Pflichti I: Zeitpunkt der Verteidigerbestellung, oder: Woher hat der Beschuldigte Kenntnis vom Tatvorwurf?

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Es ist heute mal wieder Zeit für einen „Pflichti“-Tag, den ich mit zwei Entscheidungen zum Verfahren, und zwar zur Frage des Zeitpunkts der Bstellung eröffne. Es geht um den Begriff der „Eröffnung des Tatvorwurfs“ im Sinn von § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO.

Das AG Hamburg hatte mit dem AG Hamburg, Beschl. v. 22.02.2022 – 163 Gs 259/22 – also shcon etwas älter, aber erst vor kurzem übersandt bekommen – die Bestellung eines Pflichtvertedigers abgelehnt. Begründung: Für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist sowohl nach § 141 Abs. 1 Satz 1 StPO bei Anträgen des Beschuldigten als auch in den Konstellationen, in denen kein Antrag gestellt wurde, nach § 141 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO Voraussetzung, dass dem Beschuldigten der Tatvorwurf eröffnet worden ist. Die Kenntniserlangung vom Tatvorwurf auf anderem Weg – wie in dem Vrefahren – sei nicht ausreichend.

Dagegen hat der Kollege Penneke, der mir die Beschlüsse geschickt hat, sofortige Beschwerde eingelegt. Das LG Hamburg richtet es dann im LG Hamburg, Beschl. v. 11.03.2022 – 613 Qs 7/22 – und ordnet bei, was zutreffend ist:

„b) Dem Beschuldigten war zu, diesem Zeitpunkt der Tatvorwurf auch bereits im Sinne des § 141 Abs. 1 S. 1 StPO eröffnet.

Der Begriff der Eröffnung des Tatvorwurfs ist nicht so eng auszulegen, dass nur förmliche Mitteilungen über die Bekanntgabe eines Ermittlungsverfahrens im Sinne von §§ 136, 163a StPO hinreichend sind (so aber Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Auflage 2021, § 141 Rn. 3, nach dem unter der Eröffnung des Tatvorwurfs die förmliche Bekanntgabe des Ermittlungsverfahrens zu verstehen ist). Vielmehr genügt es für die Eröffnung des Tatvorwurfs, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf andere Weise als durch amtliche Mitteilung von dem Tatvorwurf gegen ihn in Kenntnis gesetzt worden ist (BeckOK StPO/Krawczyk, 42. Edition Stand 01.01.2022, § 141 Rn. 4).

Der Terminus „Eröffnung des Tatvorwurfs“ in § 141 StPO lässt eine solche Auslegung zu. Auf einen entsprechenden Willen des Gesetzgebers kann geschlossen werden, da in den Gesetzgebungsmaterialien (BT-Drucks. 19/13829, Seite 36) ausdrücklich auf die Richtlinie 2013/48/EU vom 22.10.2013 (Richtlinie über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls Bezug genommen wird. Nach Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie ist ihr Anwendungsbereich. erst ab demjenigen Zeitpunkt eröffnet, zu dem Verdächtige oder beschuldigte Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedsstaates „durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise davon in Kenntnis gesetzt wurden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig sind oder beschuldigt werden“. Ausreichend ist daher, dass der Beschuldigte in irgendeiner Form von amtlicher Seite mit dem Tatvorwurf konfrontiert worden ist (vgl. Landgericht Neubrandenburg, Beschluss vom 30.07.2021, BeckRS 2021, 28689; noch weitergehend auf die bloße tatsächliche Kenntnis des Beschuldigten abstellend: Landgericht Magdeburg, Beschluss vom 24.07.2020, BeckRS 2020, 21147).

Dies war hier der Fall. Unabhängig vom konkreten Wortlaut der Äußerungen des Sitzungsvertreters der Generalstaatsanwaltschaft stand in der Hauptverhandlung vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht Hamburg der hiesige Tatvorwurf jedenfalls im Raum. Nachdem die Vorsitzende im Rahmen dieser Hauptverhandlung mitgeteilt hatte, dass der dortige Zeuge pp. – gegen den sich die hiesige Straftat richten soll – nicht erscheinen wolle und auch den Inhalt seiner Angaben bei der Polizei mitgeteilt hatte, erkundigte sich der Sitzungsvertreter ausweislich seines Vermerks vom 07.03.2022 im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung, ob sich der Beschuldigte auch in dieser Sache von Rechtsanwalt pp. vertreten lassen werde. Dies ist bereits als hinreichende Konfrontation mit dem etwaigen Tatvorwurf anzusehen, sodass dahinstehen kann, ob die weitergehende Äußerung des Sitzungsvertreters, dass ein Verfahren gegen den Beschuldigten „in richtiger Weise“ eingeleitet worden sei, tatsächlich gefallen ist oder nicht.“

Pflichti I: Zeitpunkt der Bestellung, oder: Wer schweigt, braucht keinen Pflichtverteidiger

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Heute dann seit längerem mal wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen. Da hat sich in der letzten Zeit einiges angesammelt.

Zunächst der AG Detmold, Beschl. v. 06.03.2020 – 2 Gs 514/20. Den bringe ich zuerst, dann haben wir es hinter uns – der Beschluss ist nämlich falsch:

Das AG hat in einem Ermittlungsverfahren wegen sexueller Nötigung u.a. die Bestellung eines Pflichtverteidigers abgelehnt, und zwar mit folgender Begründung:

„Aktuell besteht für das Gericht zum aktuellen Zeitpunkt keinen Grund dem Beiordnungsantrag zu entsprechen. Denn die Voraussetzungen des § 141 StPO für die Beiordnung bereits zu diesem Zeitpunkt liegen nicht vor,

Zwar besteht aktuell gegen den Beschuldigten der Verdacht der Begehung eines Verbrechens, mithin im Fall der Anklageerhebung ein Beiordnungsgrund nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 und auch nach Abs. 1 Nr. 1 StPO.

Derzeit ist aber der Beschuldigte bereits anwaltlich vertreten und es steht aktuell keine Vernehmung oder Gegenüberstellung oder weitere Untersuchungshandlung an — dass der Beschuldigte an einer Vernehmung nicht teilnimmt, wurde bereits mitgeteilt, BL 108 d.A. — so dass die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO aktuell nicht vorliegen.

Nach der bisher zu dieser Neufassung vorliegenden Rechtsprechung, der sich das Gericht vorliegend anschließt, ist eine Beiordnung grundsätzlich dann nicht (mehr) veranlasst, wenn eine erste Beschuldigtenvernehmung nicht mehr zu erwarten ist (vgl.AG Freiburg, Beschl. v. 05.08.2019 – JSch 19 Ge 64/19 jug – zwar zu einem jugendlichen Beschuldigten, aber übertragbar.)

Ferner liegt — jedenfalls derzeit — auch keine der in § 141 Abs. 2 StPO aufgeführten Voraussetzungen vor.

Mithin kommt zum jetzigen Zeitpunkt die Beiordnung nicht in Betracht. Sollte sich der Verdacht gegen den Beschuldigten aber erhärten bzw. Haft in Betracht kommen, wäre ab diesem Zeitpunkt die Beiordnung zu beschließen, die Beiordnung hätte zudem spätestens im Fall der Anklageerhebung zu erfolgen.2

Falsch, denn:

1. Das AG missachtet schon den m.E. eindeutigen Willen des Gesetzgebers, mit der am 13.12.2019 in Kraft getretenen Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung den Beiordnungszeitpunkt nach vorne zu verlegen. Dementsprechend liegt ein Beiordnungsgrund nach § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO n.F. nunmehr nicht mehr erst dann vor, wenn Anklage erhoben wird, sondern bereits dann, wenn die Anklageerhebung mindestens zum Schöffengericht zu erwarten ist.

2. Falsch ist es auch, wenn das AG darauf abstellt, dass der Beschuldigte bereits anwaltlich vertreten sei. Der Antrag des Wahlverteidigers, ihn zum Pflichtverteidiger zu bestellen, enthält die Erklärung, die (Wahl-)Verteidigung solle mit der Beiordnung enden. Das ist uralte Rechtsprechung der Obergerichte.

3. Doch es geht noch schlimmer, wenn das AG die gebotene Beiordnung unter Hinweis darauf verweigerr, dass der Beschuldigte mitgeteilt habe, für eine Vernehmung nicht zur Verfügung zu stehen. Damit wird letztlich die Inanspruchnahme eines der zentralsten und selbstverständlichsten Beschuldigtenrechte mit einem „Pflichtverteidigerentzug“ sanktioniert.