Heute stelle ich dann drei Entscheidungen vor, die sich zu Bewährungsfragen verhalten.
Die mehrfach u. a. wegen Betrugsdelikten vorbestrafte Antragstellerin ist durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 u.a. wegen Betrugs in Tateinheit mit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Amtsgericht ordnete zudem ein Berufsverbot an. Der Antragstellerin wurde für die Dauer von drei Jahren verboten, den Beruf der Altenpflegerin oder einen Beruf, der die Alten- oder Seniorenpflege zum Gegenstand hat, auszuüben.
Die Antragstellerin hat dann zum 01.01.2020, etwa zweieinhalb Monate nach Rechtskraft der Anordnung des Berufsverbots durch das AG, eine Beschäftigung als Altenpflegerin aufgenommen. Wegen Verstoßes gegen das Berufsverbot wurde die Antragstellerin durch Urteil des AG Potdsam u einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten verurteilt, die nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Auf die dagegen eingelegte Berufung der Antragstellerin änderte das LG Potsdam das Urteil hingehend ab, dass die Vollstreckung der darin verhängten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Das AG Rathenow („Vollstreckungsgericht“) widerrief dann durch Beschluss vom 18.08.2022 die durch Urteil des AG Rathenow vom 25.06.2019 gewährte Strafaussetzung zur Bewährung. Dagegen die sofortige Beschwerde begründete die Antragstellerin, die beim LG Potsdam keinen Erfolg hatte. Dagegen dann die Verfassungsbeschwerde und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung. Das VerfG hat den Antrag zurückgewiesen:
„2. Eine einstweilige Anordnung kann danach nicht ergehen. Es ist schon jetzt absehbar, dass die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist.
Der Beschluss des Landgerichts Potsdam verletzt die Antragstellerin erkennbar nicht in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV.
Die Beschwerdekammer hat bei der Auslegung und Anwendung des § 56f StGB weder den Inhalt und die Tragweite des Freiheitsgrundrechts aus Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verkannt, noch ist sie objektiv unvertretbar oder willkürlich.
a) Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV und der Grundsatz des fairen, rechtsstaatlichen Verfahrens verlangen im Strafvollstreckungsverfahren ein Mindestmaß an zuverlässiger Wahrheitserforschung (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Zudem ist der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person durch erhöhte Anforderungen an die Begründungstiefe gerichtlicher Entscheidungen Rechnung zu tragen. Eine tragfähig begründete Entscheidung über einen Bewährungswiderruf setzt daher eine auf zureichender Sachaufklärung beruhende, in sich schlüssige und nachvollziehbare Feststellung der Widerrufsvoraussetzungen voraus; die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts genügt insoweit nicht (Beschluss vom 29. September 2021 – VfGBbg 19/21 EA -, Rn. 19, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).
b) Gemäß § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB widerruft das Gericht die Strafaussetzung, wenn die verurteilte Person in der Bewährungszeit eine Straftat begeht und dadurch zeigt, dass die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Gesetzesrechts obliegen bei der nach § 56f StGB zu treffenden Entscheidung den Strafgerichten, denen hierbei eine Einschätzungsprärogative zusteht (vgl. Beschlüsse vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., und vom 17. Dezember 2009 – VfGBbg 51/09 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de). Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich lediglich darauf, ob die gerichtliche Entscheidung objektiv unvertretbar ist oder die verfassungsrechtliche Bedeutung und Tragweite des durch Art. 2 Abs. 2 GG bzw. Art. 9 Abs. 1 Satz 1 LV verbürgten Freiheitsrechts verkennt (Beschluss vom 20. Mai 2021 – VfGBbg 3/21 -, Rn. 24 m. w. N., https://verfassungsgericht.brandenburg.de).
Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer neuen Straftat ist ein zur Überzeugungs-bildung des für § 56f StGB zuständigen Gerichts ausreichendes, aber nicht bindendes Indiz für das entsprechende Bewährungsversagen (Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).
Bei neuen Straftaten des Probanden ist die Reaktion anderer Gerichte hierauf, soweit es um Strafaussetzung geht, für das Vollstreckungsgericht nicht präjudiziell. Dieses ist also nicht daran gehindert, die Strafaussetzung zu widerrufen, obwohl das Gericht, das über die neue Straftat zu urteilen hat, von einer unbedingten Freiheitsstrafe abgesehen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 40).
Das Vollstreckungsgericht ist zwar grundsätzlich gehalten, sich bei seiner Prognoseentscheidung der sach- und zeitnäheren Prognose eines Tatgerichts anzuschließen, das über die letzte, während der Bewährungszeit begangene Straftat geurteilt hat (Groß/ Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Durchbrechungen dieses Grundsatzes sind allerdings möglich und jedenfalls nicht von Verfassungs wegen ausgeschlossen (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).
Die befassten Vollstreckungsgerichte können auf der Grundlage der ihnen vorliegenden Urteile und Bewährungshefte auf ausreichender Tatsachenbasis eine eigene Sachentscheidung treffen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris). Ein Vollstreckungsgericht kann insbesondere von der Entscheidung eines Tatgerichts dann abweichen, wenn diese Entscheidung selbst an Mängeln leidet, wenn etwa das Tatgericht hinsichtlich seiner Prognose selbst erhebliche Bedenken geäußert, diese aber zurückgestellt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris) oder wesentliche Gesichtspunkte nicht oder unzureichend bewertet hat, was insbesondere dann der Fall ist, wenn das Gericht sich mit den Vorstrafen und den der älteren Aussetzungsentscheidung zugrundeliegenden Erwägungen nicht auseinandergesetzt hat (vgl. Beschluss vom 25. Mai 2012 – VfGBbg 20/12 -, https://verfassungsgericht.brandenburg.de).
Gleiches gilt auch, wenn das Tatgericht offensichtlich unzutreffende oder nicht nachvollziehbare Erwägungen zugrunde gelegt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2007 – 2 BvR 1092/07 -, Rn. 4, juris; vgl. ThürVerfGH, Beschluss vom 3. Mai 2017 – 52/16 -, Rn. 64, juris; Groß/Kett-Straub, in: MüKoStGB, 4. Aufl. 2020, StGB § 56f Rn. 30). Hat das Gericht mit der Aussetzung zur Bewährung besondere Erwartungen verbunden, die es später als enttäuscht ansieht, ist von Verfassungs wegen nichts dagegen zu erinnern, dass unter den Voraussetzungen des § 56f StGB der Widerruf ausgesprochen wird (BVerfG, Beschluss vom 19. April 1985 – 2 BvR 1269/84, NStZ 1985, 357).
c) Daran gemessen ist die Entscheidung des Landgerichts Potsdam in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht zu beanstanden.
Die Beschwerdekammer des Landgerichts Potsdam hat sich im Beschluss vom 23. September 2022 (21 Qs 52/22) die Begründung des Widerrufsbeschlusses durch das Vollstreckungsgericht zu eigen gemacht, indem es auf dessen als zutreffend befundene Gründe Bezug genommen hat. Das Vollstreckungsgericht hat sich erkennbar auf die enttäuschte Erwartung des Amtsgerichts Rathenow gestützt, welche das Amtsgericht im Urteil vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) mit der angeordneten Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung verbunden hatte. Das Vollstreckungsgericht hat nachvollziehbar aufgezeigt, dass der amtsgerichtlichen Aussetzungsentscheidung vom 25. Juni 2019 (2 Ls 490 Js 22005/17 (1/18)) ein Gesamtkonzept (Strafzumessung, Berufsverbot, Bewährungskonzept) zugrunde lag, das auf der Beachtung des Berufsverbots durch die Antragstellerin aufbaute. Dass das Vollstreckungsgericht diese Erwartungshaltung als enttäuscht betrachtete, nachdem die Antragstellerin nur wenige Monate nach der Urteilsverkündung gegen das Berufsverbot verstieß, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Seine den Widerruf bestätigende Entscheidung hat das Landgericht zusätzlich zu den Gründen des Vollstreckungsgerichts darauf gestützt, dass die vom Berufungsgericht eingestellten Erwägungen kaum nachvollziehbar seien; sie setzten sich nicht hinlänglich mit dem Rückfall auseinander. Dabei hat die Beschwerdekammer des Landgerichts die für sie ausschlaggebenden Tatsachen angeführt – die Vielzahl an Vorstrafen, das frühere Bewährungsverhalten, die hohe progrediente Rückfallgeschwindigkeit und die berufsbezogene Straftat. Mildere Mittel als der Widerruf seien eingedenk dessen unzulänglich, zumal die Bewährungszeit bereits auf fünf Jahre festgesetzt worden und die Antragstellerin einem Bewährungshelfer unterstellt worden sei, ohne dass diese Mittel sie beeindruckt und von einer neuerlichen berufsbezogenen Straftat abgehalten hätten.
Auch diese nachvollziehbaren zusätzlichen Feststellungen tragen die der Antragstellerin vom Landgericht Potsdam attestierte negative Sozialprognose. Das Landgericht hat auch mildere Mittel in den Blick genommen und im Ergebnis verworfen, indem es festgestellt hat, dass sich die in § 56 Abs. 2 StGB vorgesehene Bewährungshilfe und verlängerte Bewährungszeit bereits als unzulänglich erwiesen hätten. Es ist gemäß dem aufgezeigten Maßstab verfassungsgerichtlich nicht zu beanstanden, dass die mit den Bewährungsurteilen und -unterlagen vertrauten Vollstreckungsgerichte mit einer plausiblen Begründung zu einem vom Tatgericht abweichenden Ergebnis kommen. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot liegt darin nicht.“