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Verfahrensrüge I: Verwertung von EncroChat-Daten, oder: (Hohe) Anforderungen an die Begründung

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Heute dann ein Tag der Verfahrensrügen . Es ist/wird keine schöner Tag, weil ich nur Entscheidungen vorstellen kann, in denen die Angeklagten/Betroffenen mit ihren Verfahrensrügen keinen Erfolg hatten.

Hier zunächst der BGH, Beschl. v. 16.02.2023 – 4 StR 93/22 – zu Verfahrensrügen in Zusammenhang mit „Encro-Chat“. Wie gesagt: Ohne Erfolg:

1. Die Rüge des Angeklagten A., mit der er die Verwertung von Daten des Kommunikationsdienstes EncroChat beanstandet, ist unzulässig.

a) Gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO muss der Beschwerdeführer im Rahmen einer Verfahrensrüge die den geltend gemachten Verstoß enthaltenden Tatsachen grundsätzlich so vollständig und genau darlegen, dass das Revisionsgericht allein anhand der Revisionsbegründung in die Lage versetzt wird, über den geltend gemachten Mangel endgültig zu entscheiden. Dies gilt auch, wenn ein Verstoß gegen ein Beweisverwertungsverbot gerügt wird (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2018 – 4 StR 135/18 Rn. 15 f.; Urteil vom 8. August 2018 – 2 StR 131/18 Rn. 8 f.). Geht es um Beweismittel, die durch einen ausländischen Staat erhoben und im Wege der Rechtshilfe übermittelt worden sind, muss die Revisionsbegründung die Verfahrenstatsachen zur ausländischen Beweismittelgewinnung und zur Beweisübermittlung im Einzelnen vortragen, soweit sie – wie hier – rügt, dabei seien Verfahrensvorschriften verletzt worden. Denn ob sich daraus ausnahmsweise ein Verwertungsverbot ergibt, vermag das Revisionsgericht erst aufgrund einer Abwägung aller Umstände, die Art und Gewicht etwaiger Verfahrensverstöße einbezieht, zu entscheiden (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 43 mwN).

b) Diesen Anforderungen genügt das Revisionsvorbringen des Angeklagten A. nicht. Die Angaben zum Verfahrensgang in Frankreich, der zur Erlangung der verwerteten Beweismittel geführt hat, bleiben rudimentär und sind in ihrer Kürze nicht nachzuvollziehen. Auch die Behörden, die an dem Ermittlungskomplex EncroChat beteiligt waren, werden teilweise nicht bestimmt benannt (vgl. zu diesem Erfordernis allgemein Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 344 Rn. 24 mwN). Zudem teilt die Revision die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vom 2. Juni 2020, auf die sie sich bezieht, in wesentlichen Teilen nur in französischer Sprache mit (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2022 – 4 StR 380/22; Beschluss vom 19. August 2021 – 4 StR 410/20 Rn. 14; Beschluss vom 30. November 2017 – 5 StR 455/17 Rn. 3 ff.).

2. Die Verfahrensrügen der Angeklagten S. und D., mit denen sie beanstanden, dass sich ihre Verurteilung auf Daten des Kommunikationsdienstes EncroChat stützt, bleiben ebenfalls erfolglos.

a) Diese Verfahrensrügen sind bereits unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), soweit sie mit der Stoßrichtung erhoben sind, dass die durch französische Behörden durchgeführte Beweismittelgewinnung gegen wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze im Sinne des nationalen und internationalen ordre public verstoße und dass die Mitteilungspflicht nach Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (RL EEA) verletzt worden sei. Beide Aspekte zielen auf eine unzulässige Beweisverwertung (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 32, 34 ff.). Um die oben dargelegten Anforderungen an eine entsprechende Rüge zu erfüllen, sind die nach ihrer Angriffsrichtung wesentlichen Schriftstücke oder Aktenstellen im Einzelnen zu bezeichnen und – in der Regel durch wörtliche Zitate beziehungsweise eingefügte Abschriften oder Ablichtungen – zum Bestandteil der Revisionsbegründung zu machen (vgl. BGH, Urteil vom 8. August 2018 – 2 StR 131/18 Rn. 8 mwN; Urteil vom 10. Juli 2014 – 3 StR 140/14 Rn. 13).

Dem genügt das Revisionsvorbringen nicht. Die Beschwerdeführer machen mit Blick auf fehlende Angaben zum Geltungszeitraum der Ermittlungsmaßnahme auch die „Nichtigkeit“ eines Beschlusses des Strafgerichts Lille vom 31. März 2020 geltend, die Folgebeschlüsse ebenso erfasse. Die Revisionen legen jedoch weder diesen Beschluss (übersetzt) vor noch teilen sie – wie es gerade bei einer richterlichen Entscheidung erforderlich gewesen wäre – zumindest den wesentlichen Wortlaut durch Zitate mit. Unklar und lückenhaft ist zudem das Revisionsvorbringen zu einer Mitteilung Frankreichs über die gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006, die dem Erlass der EEA vom 2. Juni 2020 durch die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main vorangegangen sei. Insoweit werden Absender und Adressat der Mitteilung nicht konkret benannt und Zeitpunkt sowie Inhalt dieser Mitteilung „über die Erkenntnisse“ (nicht: der Erkenntnisse) bleiben offen. Diese Umstände wären jedoch für die Prüfung, welches Gewicht die behaupteten Rechtsverstöße haben und ob sie zu einem Beweisverwertungsverbot führen könnten, relevant gewesen.

b) Soweit die Revisionen mit anderer Stoßrichtung die unzulässige zweckändernde Verwendung der EncroChat-Daten beanstanden, sind die Verfahrensrügen jedenfalls unbegründet. Die Beschwerdeführer sehen in § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO die einzig in Betracht kommende Befugnisnorm, auf die sich eine Verwendung der Daten stützen könnte, deren Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt seien. Der Senat hält demgegenüber daran fest, dass die Wertungen des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO i.V.m. § 100b StPO eine im Rahmen der Anwendung von § 261 StPO zu beachtende Verwendungsbeschränkung bilden (vgl. Böse, JZ 2022, 1048, 1049), die bei der Beweisrechtshilfe dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung trägt (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 4 StR 63/22; Beschluss vom 5. Juli 2022 – 4 StR 61/22 Rn. 16; Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 68). Im vorliegenden Fall steht diese Beschränkung der Verwendung der Daten nicht entgegen. Insbesondere lag der Verdacht einer Katalogtat gemäß § 100b Abs. 2 Nr. 5b StPO vor. Dabei kommt es – entgegen der Auffassung der Revisionen – nicht auf die Rekonstruktion der Verdachtslage bei Anordnung der französischen Ermittlungsmaßnahmen an, sondern auf die Informationslage im Verwendungszeitpunkt unter Einschluss der Erkenntnisse aus den von den französischen Behörden übermittelten Daten (vgl. BGH, Beschluss vom 6. Juli 2022 – 4 StR 63/22; Beschluss vom 5. Juli 2022 – 4 StR 61/22 Rn. 17; Beschluss vom 2. März 2022 – 5 StR 457/21, BGHSt 67, 29 Rn. 70).“

Nochmals zur Unverwertbarkeit von EncroChatdaten, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

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Und als zweite Entscheidung dann noch ein (kleiner/kurzer) Beschluss des BGH, und zwar der BGH, Beschl. v. 20.12.2022 – 4 StR 380/22. Ergangen ist die Entscheidung in einem Verfahren wegen bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge u.a.

Der Angeklagte hatte gegen das ihn verurteilende Urteil des LG Revision eingelegt und mit der mit der Verfahrensrüge offenbar die Unverwertbarkeit von „EncroChat-Erkenntnissen“ geltend gemacht. Ohne Erfolg. Die Verfahrensrüge war nach Auffassung des BGH (bereits) unzulässig:

„Ergänzend zur Antragsschrift des Generalbundesanwalts bemerkt der Senat:

Die Verfahrensrüge, mit der die Verwertung von Daten des Kommunikationsdienstes „EncroChat“ beanstandet wird, ist auch deshalb bereits unzulässig, weil die Revision entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO Verfahrenstatsachen wie etwa die Ende März 2020 in verschiedenen Staaten mit dem Ermittlungskomplex befassten Behörden nicht bestimmt benennt (vgl. zu diesem Erfordernis allgemein MeyerGoßner/Schmitt, 65. Aufl., § 344 Rn. 24 mwN) und zudem den Inhalt einer „an die deutschen Behörden“ versandten Nachricht nur in englischer Sprache, nicht aber übersetzt in die deutsche Sprache vorträgt (vgl. BGH, Beschluss vom 19. August 2021 4 StR 410/20 Rn. 14; Beschluss vom 30. November 2017 5 StR 455/17 Rn. 3 ff.; jew. mwN).“

StPO III: Verfahrensrüge nicht ausreichend begründet, oder: Unterlagen zur früheren Vernehmung fehlen

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Und zum Tagesschluss gibt es dann noch den BGH, Beschl. v. 03.01.2023 – 5 StR 298/22. Gegenstand der Entscheidung ist eine Verfahrensrüge, die nach Auffassung des BGH nicht ausreichend begründet war bzw. konnte der BGH – mal wieder – das Beruhen verneinen:

„Zum Gegenstand einer Verfahrensrüge hat die Revision die Ablehnung eines Beweisantrags gemacht, mit dem die Verlesung eines von der Verteidigung erstellten Zeugenfragebogens begehrt wurde, den der – zuvor in der Hauptverhandlung bereits vernommene und in allseitigem Einverständnis entlassene (§ 248 StPO) – Zeuge G. schriftlich beantwortet hatte. Die Revision sieht § 244 Abs. 3 StPO sowie die gerichtliche Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) verletzt. Die Rüge erweist sich unter beiden Aspekten bereits als unzulässig, weil die Revision entgegen § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO weder das Protokoll der im Zeugenfragebogen in Bezug genommenen staatsanwaltschaftlichen Vernehmung des Zeugen vorgelegt noch dazu vorgetragen hat, was der Zeuge G. bei seiner Vernehmung in der Hauptverhandlung ausgesagt hatte. Dass zu Letzterem an anderer Stelle der Revisionsbegründung Ausführungen zu finden sind, entlastet den Revisionsführer nicht (vgl. BGH, Urteil vom 4. September 2014 – 1 StR 75/14).

Soweit die Revision die Nichtbescheidung eines Eventualbeweisantrags auf Verlesung einer Beschuldigtenvernehmung des Zeugen Y. rügt, ist die Verfahrensrüge jedenfalls unbegründet. Unbeschadet der Frage, ob überhaupt ein Beweisantrag im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO vorlag, beruht das Urteil nicht auf der unterbliebenen Verbescheidung, weil die Strafkammer den Antrag wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache hätte ablehnen können. Sie ist im Urteil aufgrund eines anderen Beweismittels, der Aussage eines Vernehmungsbeamten, ohnehin von dem Sachverhalt ausgegangen, den der Zeuge Y. laut dem Revisionsvortrag in seiner Beschuldigtenvernehmung bekundet hatte. Die beantragte Verlesung des zugehörigen Protokolls wäre daher ohne Einfluss auf die Überzeugungsbildung des Gerichts geblieben.“

Revision I: Reicht die Begründung der Verfahrensrüge?, oder: Selbstleseverfahren, Observation, Protokoll

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Heute stelle ich dann ein paar Revisionsentscheidungen vor. Zunächst einige Entscheidungen des BGH zum erforderlichen Revisionsvortrag bei (verschiedenen) Verfahrensrügen:

„Die von beiden Angeklagten erhobene Rüge der Verletzung des § 261 StPO infolge nicht ordnungsgemäßen Abschlusses des am 12. Mai 2021 begonnenen („dritten“) Selbstleseverfahrens erweist sich als unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO), da nicht dargelegt wird, inwieweit welche Urkundeninhalte aus dem beanstandeten Selbstleseverfahren (Chats) anderweitig zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden sind (vgl. zu den Anforderungen BGH, Urteil vom 11. April 2001 – 3 StR 503/00, NStZ 2001, 425; BVerfG, Beschluss vom 25. Januar 2005 – 2 BvR 656/99, 657/99 und 683/99). Hier wäre insbesondere Vortrag dazu erforderlich gewesen, ob die Chats im Rahmen weiterer Selbstleseverfahren oder durch Verlesung nach § 249 Abs. 1 Satz 1 StPO ordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind. Dieses Erfordernis erhellt dadurch, dass die Staatsanwaltschaft in ihrer Gegenerklärung detailliert unter Angabe der einzelnen Fundstellen dargelegt hat, welche Urkunden verlesen worden sind, wie etwa die am 3. April 2020 von „napprobra“ und „putinbra“ zwischen 13.53 Uhr bis 14.42 Uhr ausgetauschten Chats.“

Durch die protokollierte Formulierung „Die Vorschrift des § 257 StPO wurde stets beachtet“ ist die Einhaltung der Vorschrift des § 257 Abs. 1 StPO belegt und bewiesen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl., § 257 Rn. 2, 4 und § 273 Rn. 7). Der entgegenstehende Vortrag der Beschwerdeführerin verfängt daher nicht.“

„Die Rügen betreffend die Verwertung von Observationsergebnissen scheitern zwar nicht daran, dass die Angeklagten in der Hauptverhandlung der Verwertung nicht rechtzeitig widersprochen hätten. Denn dies haben sie mehrfach ausdrücklich getan. Der Senat teilt jedoch die Zulässigkeitsbedenken des Generalbundesanwalts insoweit, als die Beschwerdeführer die näheren Umstände der im März 2019 durchgeführten Observation nicht ausreichend vorgetragen haben, aus deren Rechtsfehlerhaftigkeit sich nach Auffassung der Revisionen auch die Unverwertbarkeit der Anfang April 2019 richterlich genehmigten Observationsmaßnahmen ergeben soll. Für die Frage, ob die Angeklagten T., B. und K.  als mitbetroffene Dritte im Sinne von § 163f Abs. 2 Satz 1 StPO anzusehen sein könnten und ob der als „Zielfahrzeug“ benannte PKW Renault Clio auch in Beziehung zu den Zielpersonen der Ende Februar 2019 richterlich angeordneten Observationen (M.T. und H. E.) stand, wäre nicht nur Vortrag zu den Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auch zu den weiteren Umständen der ursprünglich richterlich angeordneten Observation erforderlich gewesen (vgl. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die jeweiligen Rügen wären aus den in den Antragsschriften des Generalbundesanwalts genannten Erwägungen aber auch unbegründet.“

Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, das Landgericht habe § 261 StPO verletzt, weil es im Urteil betreffend die Tat 1 der Urteilsgründe eine von ihm stammende schriftliche Erklärung gegenüber dem Handelsregister verwertet habe, die nicht prozessordnungsgemäß in die Hauptverhandlung eingeführt worden sei, ist die Verfahrensrüge bereits unzulässig. Denn der Revisionsvortrag ist unvollständig und entspricht damit nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO.

Der Beschwerdeführer trägt vor, dass der Vorsitzende entgegen § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO nicht festgestellt habe, dass die Richter und Schöffen der Strafkammer von der betreffenden Urkunde Kenntnis genommen haben und die übrigen Verfahrensbeteiligten hierzu Gelegenheit hatten. Er teilt zudem mit, dass die dritte Seite des Protokolls vom vierten Hauptverhandlungstag wie folgt ende: „Vom Vorsitzenden wird bekannt gegeben, dass die Kammermitglieder vom Wortlaut der Ur-“. Welches Verfahrensgeschehen diesem im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkten unvollständigen Satz zugrunde liegt, teilt der Beschwerdeführer nicht mit, obgleich der Instanzverteidiger das Prozessgeschehen dem Revisionsverteidiger berichtet habe. Dies wäre aber notwendig gewesen, um dem Senat die Prüfung zu ermöglichen, ob der Vorsitzende den auf die Feststellungen im Sinn des § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO hindeutenden Satz abgebrochen hat oder ob es sich lediglich – wie nach dem ordnungsgemäß durchgeführten Protokollberichtigungsverfahren feststeht – um einen Protokollierungsfehler gehandelt hat. Ergeben sich – wie hier – aus dem von der Revision selbst vorgetragenen Protokoll zum Verfahrensablauf konkrete Anhaltspunkte für einen Sachverhalt, welcher der erhobenen Rüge die Grundlage entziehen kann, ist der Beschwerdeführer nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO verpflichtet, sich dazu zu verhalten (vgl. BGH, Beschluss vom 5. August 2021 ? 4 StR 143/21, NStZ 2022, 126 mwN).

Von seinen Vortragspflichten wird der Revisionsverteidiger auch nicht dadurch befreit, dass er selbst nicht in der Hauptverhandlung anwesend war. Denn er wäre angesichts der oben genannten Stelle des (fehlerhaften) Protokolls verpflichtet gewesen, konkrete Erkundigungen über den diesbezüglichen Ablauf der Hauptverhandlung einzuholen (vgl. etwa zum Instanzverteidiger BGH, Urteil vom 10. Juli 2013 – 2 StR 47/13, BGHSt 58, 315, 318).

Die Rüge wäre aber – worauf der Generalbundesanwalt zutreffend hingewiesen hat – auch unbegründet, weil das Protokoll nach den daran zu stellenden Anforderungen berichtigt wurde (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 23. April 2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298, 316 ff.) und damit feststeht, dass die betreffende Urkunde prozessordnungsgemäß nach § 249 Abs. 2 StGB zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden war.“

Dass alle Entscheidungen vom 5. Strafsenat des BGH stammen, ist Zufall 🙂 .

Rechtsmittel I: Abwesenheits-HV statt Verwerfung, oder: Beruhen und Besserstellung

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Und dann heute drei Entscheidungen zu Rechtsmitteln, und zwar dreimal OLG.

Ich starte mit dem OLG Köln, Urt. v. 08.11.2022 – 1 RVs 116/22. Da hatte das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten zur Sache, anstatt die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen. Das war mit der Revision gerügt worden. Das OLG sagt: Die erhobene Verfahrensrüge ist nicht ausreichend begründet:

„Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge des § 338 Ziff. 5 StPO ist bereits nicht in zulässiger Weise ausgeführt.

a) Ihr liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:

Für den Angeklagten hatte sich im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 Rechtsanwalt A als Verteidiger bestellt und angekündigt, in Kürze eine Vollmacht nachreichen zu wollen. Mit Beschluss vom 10. November 2021 ist er auf seinen Antrag zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 2. März 2022 war der Angeklagte nicht anwesend. Die Berufungshauptverhandlung ist durchgeführt worden, nachdem der Verteidiger eine Vollmacht vom 27. Oktober 2021 vorgelegt hatte.

b) Die Rüge genügt nicht den aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sich ergebenden Begründungsanforderungen.

aa) Richtig ist zwar, dass ohne den Angeklagten eine Sachverhandlung nicht durchgeführt werden durfte. Mit der Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger endet nämlich – entsprechend § 168 BGB – das Mandat. Bei fortbestehendem Willen des Angeklagten, sich von dem nunmehrigen Pflichtverteidiger vertreten zu lassen, ist die Erteilung einer neuen, den Anforderungen des § 329 StPO genügenden Vollmacht vonnöten (SenE v. 15.04.2016 – III-1 RVs 55/16 -; SenE v. 08.07.2016 – III-1 RVs 129/16; SenE v. 27.08.2021 – III-1 RVs 124/21 -). An einer solchen, nach Pflichtverteidigerbestellung erfolgten Bevollmächtigung fehlt es hier. Der Pflichtverteidiger durfte daher den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nicht vertreten; seine Anwesenheit war nicht deswegen entbehrlich, weil er wirksam vertreten war.

bb) Dieser Umstand für sich genommen begründet freilich die erfolgreiche Rüge des § 338 Ziff. 5 StPO noch nicht.

(1) § 338 Ziff. 5 StPO sichert die Einhaltung derjenigen Vorschriften ab, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten, seine Teilnahme an der (Berufungs)Hauptverhandlung garantieren – namentlich hier die Vorschrift des § 230 Abs. 1 StPO (MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 338 Rz. 84 m. N.). Die Vorschriften über die Anwesenheit des Angeklagten ihrerseits dienen der Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und gewährleisten seine allseitige und umfassende Verteidigung (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 230 Rz. 3). Eine Verhandlung ohne den Angeklagten birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils (vgl. SenE v. 05.10.2010 – III-1 RVs 179/10 -; SenE v. 21.06.2011 – III-1 RVs 145/11 -; SenE v. 22.11.2011 – III-1 RVs 275/11 -; SenE v. 12.03.2013 – III-1 RVs 21/13; SenE v. 06.03.2020 – III-1 RVs 38/20 -).

(2) Hätte die Berufungsstrafkammer aus dem Umstand, dass die Pflichtverteidigerbestellung nach Erteilung der Vollmacht erfolgt war, die zutreffenden prozessualen Konsequenzen gezogen, hätte sie die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne weitere Sachprüfung als unbegründet verwerfen müssen.

(3) Der oben skizzierte Zweck des § 338 Ziff. 5 StPO würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man annehmen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift durch die Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer erfüllt würden. Denn dadurch, dass die Berufungsstrafkammer in eine Sachverhandlung eingetreten ist, ist dem Angeklagten ein Mehr an rechtlichem Gehör zugewachsen, als dies im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO der Fall gewesen wäre. Der mit einer Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger gibt nämlich Erklärungen so ab, als rührten diese vom Angeklagten selbst her (s. nur OLG Hamm B. v. 24.11.2016 – 5 RVs 82/16 = BeckRS 2016, 111318 Tz. 19). Er kann damit – wie der Angeklagte selbst im Falle seiner Anwesenheit – Einfluss auf den Gang der Berufungshauptverhandlung und die Entscheidung des Gerichts nehmen.

Diese schon generell gegebene Möglichkeit der Einflussnahme aufgrund der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs durch den – so (also über die bloße Verteidigerstellung hinaus) hierzu freilich nicht ermächtigten – Verteidiger wird im vorliegenden Fall umso mehr sinnfällig, als die Berufungsstrafkammer eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorgenommen hat, die zugunsten des Angeklagten zu einer straffen Zusammenziehung der Einzelstrafen geführt hat und zu der es im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO nur im nachträglichen Beschlussverfahren gemäß § 460 StPO – mit ungewissem Ausgang – hätte kommen können.

Die prozessordnungswidrige Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer hat hier also im Ergebnis dazu geführt, dass der Angeklagte nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich bessergestellt worden ist, als er gestanden hätte, hätte die Berufungsstrafkammer aus der zwischenzeitlichen Pflichtverteidigerbestellung die zutreffenden Konsequenzen gezogen.

(4) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die Reichweite der absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO dann einzuschränken sein kann, wenn ein Beruhen des Urteils auf der Rechtsverletzung denkgesetzlich ausgeschlossen ist. Das wird für den Fall des § 338 Ziff. 5 StPO etwa dann angenommen, wenn die Abwesenheit einen nur unwesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft (BGH NStZ 2011, 233).

Von einem im strengen Sinne denkgesetzlichen Ausschluss des Beruhens wird man im vorliegenden Fall nicht ausgehen können. Dass im Falle prozessordnungsgemäßen Vorgehens der Berufungsstrafkammer zu erlassende Verwerfungsurteil hätte nämlich dann nicht ergehen dürfen bzw. hätte mit der Revision oder dem Antrag auf Wiedereinsetzung dann erfolgreich angegriffen werden können, wenn – etwa – der Angeklagte genügend entschuldigt gewesen wäre. Das hätte ihm gegebenenfalls eine Sachverhandlung nunmehr in seiner Anwesenheit eröffnet. Wäre von einer solchen Sachlage auszugehen, würde das in Abwesenheit des Angeklagten ergangene Sachurteil auch zu seinem Nachteil auf dem Übergehen der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung beruhen können.

Zu der danach inmitten stehenden Frage, was geschehen wäre, hätte die Berufungsstrafkammer auf die zwischenzeitliche Pflichtverteidigerbestellung und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen hingewiesen, schweigt die Revisionsbegründung indessen. Grundsätzlich ist der Revisionsführer zwar zu Ausführungen zur Beruhensfrage nicht gehalten (BGH NStZ 2013, 536). Hier verhält es sich jedoch anders: So wie sich das Verfahrensgeschehen nach dem Vortrag in der Revisionsbegründung darstellt, gelten die vorstehend dargestellten Überlegungen uneingeschränkt. Wollte man zu einer abweichenden Sichtweise gelangen, bedürfte es Vortrag, der nach Lage der Dinge ausschließlich aus der Sphäre des Angeklagten stammen könnte und dann eben – ausnahmsweise – die Frage beträfe, ob das angefochtene Urteil auf der prozessordnungswidrigen Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer beruht.