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U-Haft kann “bis zur Höhe der erkannten Freiheitsstrafe vollzogen” werden, -ist das noch verhältnismäßig?

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Der Kollege, der sich in einem Strafverfahren derzeit mit dem AG/LG Kleve um die Haftfortdauer bei seinem Mandaten streitet, hatte mir den LG Kleve, Beschl. v. 03.04.2014 – 120 Qs-402 Js 845/13-29/14 – übersandt, der den in meinen Augen „denkwürdigen“ Satz enthält: „Es gibt keinen Rechtssatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der erkannten Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn dies – wie hier – notwendig ist, um die Durchführung des vom Angeklagten gewünschten Berufungsverfahrens oder die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern.“, der dann Pate für die Überschrift zu diesem Posting gestanden hat. Ich habe mit dem Satz so meine Probleme, führt er doch ggf. zu einer Vollstreckung der noch nicht rechtskräftigen Strafe während es laufenden Verfahrens. Aber wie so häufig – solche Aussagen verselbständigen sich dann nicht selten.

Da der LG, Beschluss nicht so ganz viel Sachverhalt enthielt, habe ich den Kollegen um die „Eckdaten“ gebeten, die er mir dann geschickt hat. Es liegen dem Beschluss als folgende Verfahrensumstände zu Grunde, ich zitiere:

„Der Mandant saß – ebenso wie seine beiden Mittäter – seit dem 4. Oktober 2013 in Auslieferungshaft in den NL (Festnahme 2-. Oktober), ab dem 18. November dann in der JVA Kleve. Er war in der Hauptverhandlung beim Strafrichter des AG Geldern (wie auch seine Mittäter) geständig und wurde wegen Diebstahls und Sachbeschädigung zu einer FS iHv 9 Monaten ohne Bewährung verurteilt (seine Mittäter erhielten 7 Monate – der eine mit, der andere ohne Bewährung). Der Mandant ist bereits einschlägig, allerdings lediglich zu Geldstrafen verurteilt worden (03/2013 AG Hannover, Diebstahl, 30 Tagessätze; 07/2013 AG Wuppertal versuchter schwerer Diebstahl, 120 Tagessätze; 03/2012 in Rumänien, Diebstahl, Geldstrafe).

Die drei Herren sind hier in der Gegend in eine Firma eingebrochen und haben Werkzeuge zur Metallverarbeitung mit einem Anschaffungswert von 30000 Euro mitgenommen, die Dinge gelangten vollständig (aufgrund einer Grenzkontrolle und anschließender Festnahme) an den Eigentümer zurück. Beim Versuch, Innentüren mit einem Hammer zu „öffnen“, wurden diese beschädigt (so kommt es zu der Sachbeschädigung), während sich das Tor ins Innere der Halle aufgrund lediglich einer Notreparatur wegen eines früheren Einbruchs verhältnismäßig leicht hatte öffnen lassen. Strafe aus dem Strafrahmen des § 243 StGB.

Hinsichtlich desjenigen, der 7 Monate ohne Bewährung bekommen hat, hat bereits der Strafrichter – wegen Erreichens des 2/3-Zeitpunkts – den Haftbefehl gemäß meiner Terminsmitschrift aufgehoben. Bei meinem Mandanten wurde der 2/3-Zeitpunkt, wenn ich richtig gerechnet habe, am 4. April erreicht. Da – so weit ich informiert bin – die StA nicht in Berufung gegangen ist, geht m.E. das Zitat von KK-Schultheis § 120 Rn. 7 im Beschluss der Kammer fehl (s. KK aaO am Ende). Die Entscheidung des KG habe ich noch nicht nachgeschlagen, komme aber hoffentlich morgen dazu.

Die Haftbeschwerde habe ich am 21. Februar ans AG Geldern gefaxt. Die Akte wurde am 25. Februar an die StA Kleve weitergeleitet. Aus Gründen, die sich wohl nicht mehr recht nachvollziehen lassen, wurde die Akte mit meiner Haftbeschwerde dem StA erst nach ca. 3 Wochen vorgelegt – die Geschäftsstellendame war krank, die Vertretung hat wohl nicht vernünftig funktioniert. Als die Sache schließlich der Kammer vorgelget wurde, wartete der Bearbeiter (hier war es laut Auskunft der Geschäftsstelle VRiLG ppp. höchstpersönlich) noch auf die schriftlichen Urteilsgründe aus Geldern (und ich dachte, er wartet auch auf den 2/3-Zeitpunkt…). In meiner Haftbeschwerde hatte ich natürlich nicht den dringenden Tatverdacht, wohl aber den Haftgrund angegriffen und ebenso in Abrede gestellt, dass U-Haft – insbesondere wegen der zwischenzeitlich erfolgten Verbüßung – noch verhältnismäßig sei (unter Hinweis insb. auf SSW-Herrmann, § 112 Rn. 125, 126, 127; Schlothauer/Weider, Untersuchungshaft, Rn. 682).“

Die Antwort des LG:

Es ist der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) gegeben. Trotz der familiären Bindungen und der relativ milden Strafe besteht die überwiegende und sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass er sich dem weiteren Strafverfahren bzw. der Strafvollstreckung durch Untertauchen oder Flucht entziehen würde. Die Meldeanschrift bei den Eltern in Duisburg ist nicht mit der Bindung durch ein Eigenheim vergleichbar (vgl. auch BI. 26 und 552: „für Zustellungen nicht tauglich“). Der Angeklagte ist arbeitslos und spricht kaum Deutsch. Auch nach einem früheren Deutschlandaufenthalt hat er sich wieder „nach Hause“ nach Rumänien begeben (BI. 517). Für die Strafverfolgungsbehörden in Niedersachsen war er zeitweise nicht erreichbar (BI. 81: „unbekannter Aufenthalt“). Nach der Tat flüchtete er mit der Beute in die Niederlande. Es bestehen scheinbar auch Verbindungen nach Belgien, wo man die Beute verkaufen wollte (BI. 519). Ob angesichts früherer Diebstahlstaten in Deutschland und Rumänien zusätzlich der subsidiäre Haftgrund der Wiederholungsgefahr besteht (nach den Urteilsfeststellungen wollte er sich durch weitere Einbrüche eine Einnahmequelle von einigem Umfang und gewisser Dauer verschaffen), kann hier dahingestellt bleiben.

 Schließlich ist die Haftfortdauer auch verhältnismäßig. Das Amtsgericht hat den Angeklagten – insoweit in Übereinstimmung mit dem Antrag des Verteidigers (BI. 520) – zu 9 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Diese – offenbar allseits für dem Grunde nach zutreffend und schuldangemessen gehaltene – Zeitspanne ist – auch unter Einrechnung von Auslieferungs- und Untersuchungshaft – noch nicht verstrichen. Es gibt keinen Rechtssatz, dass die Untersuchungshaft nicht bis zur Höhe der erkannten Freiheitsstrafe vollzogen werden darf, wenn dies – wie hier – notwendig ist, um die Durchführung des vom Angeklagten gewünschten Berufungsverfahrens oder die drohende Vollstreckung der Strafe zu sichern (KG, NStZ-RR 2008, 157; OLG Hamm MDR 1993, 673; Schultheis in Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 2013 § 120 Rn. 7). Maßnahmen nach § 116 StPO – etwa die von der Verteidigung angeführten Meldeauflagen – reichen angesichts des hohen Grades der Fluchtgefahr nicht aus. Die vom Amtsgericht festgestellte besondere Haftempfindlichkeit des Angeklagten stellt einen zusätzlichen Fluchtanreiz dar. Angesichts der für den Strafrichter recht umfangreichen Sache (drei – zunächst bestreitende – Angeklagte) und der erforderlichen Rechtshilfeersuchen wurde das erstinstanzliche Verfahren in angemessener Zeit abgeschlossen. Durch die Flucht des Angeklagten ins Ausland bedingte Verzögerungen muss sich der Staat nicht zurechnen lassen.

Sorry, aber für mich kaum noch nachvollziehbar… Die Sache ist natürlich nicht zu Ende. Der Kollege verfolgt sie weiter – entweder mit der weiteren Beschwerde oder bei der Berufungskammer.

Strafzumessungsfehler zugunsten des Angeklagten – U-Haft als Strafmilderung

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In der letzten Zeit hat der BGH mehrfach landgerichtliche Urteile wegen eines bei der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten gemachten Fehlers aufgehoben. So auch noch einmal im BGH, ?Beschl. v. 19?.?12?.?2013?, 4 StR ?302?/?13?. Es geht um die Frage, ob erlittene U-Haft bei der Strafzumessung strafmildernd zu Gunsten des Angeklagten berücksichtigt werden darf. Der BGH verneint das bzw. lässt es nur zu, wenn über die üblichen/normalen „Beschwernisse“ – das Wort kannte ich bislang nicht – hinausgehende Erschwernisse vorliegen und festgestellt sind (vgl. dazu auch schon: Strafzumessung: U-Haft nein danke?):

„Hinzu kommt ein weiterer Fehler zugunsten des Angeklagten bei der Bemessung aller Einzelstrafen. Das Landgericht hat im Rahmen der konkreten Strafzumessung die erlittene Untersuchungshaft strafmildernd berücksichtigt. Untersuchungshaft ist indes, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse verbunden (BGH, Urteile vom 28. März 2013 – 4 StR 467/12 Rn. 25 und vom 10. Oktober 2013 – 4 StR 258/13, Rn. 18, jeweils mwN). Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Unter-suchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden (BGH, Urteil vom 14. Juni 2006 – 2 StR 34/06, NJW 2006, 2645). Daran fehlt es hier.“

Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass erlittene U-Haft nach § 51 Abs. 1 StGB angerechnet wird.

Strafzumessung: U-Haft nein danke?

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Der BGH, Beschl. v. 20.08.2013 – 5 StR 248/13 – ruft noch einmal in Erinnerung, wie mit U-Haft, die gegen den Angeklagten im Verfahren vollstreckt worden ist, im Verfahren umzugehen ist. Das LG hatte in einem Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das BtM-Gesetz vom Angeklagten erlittene U-Haft strafmildernd berücksichtigt. Das sieht der BGH anders:

„In gleicher Weise hat das Landgericht die erlittene Untersuchungshaft für sich genommen strafmildernd berücksichtigt. Eine solche ist jedoch regelmäßig für die Strafzumessung ohne Bedeutung, denn sie wird nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet (vgl. BGH, Urteil vom 19. Mai 2010 – 2 StR 102/10, NStZ 2011, 100). Aber auch wenn – wie hier – eine Freiheitsstrafe deshalb zur Bewährung ausgesetzt wird, weil der Angeklagte durch den Vollzug der Untersuchungshaft hinreichend beeindruckt ist und besondere Umstände im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB bejaht werden, verbietet sich eine zusätzliche mildernde Berücksichtigung bei der Bemessung der Strafhöhe (vgl. BGH, Urteil vom 14. Juni 2006 – 2 StR 34/06, NJW 2006, 2645; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 5. Aufl., Rn. 742 Fn. 475). Zusätzliche, den Angeklagten besonders beschwerende Umstände des Haftvollzuges, die zu dessen Gunsten hätten gewertet werden dürfen, lassen sich dem Urteil nicht entnehmen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 29. Oktober 2008 – 5 StR 456/08, StV 2009, 80).“

„Normale U-Haft“ bleibt also grds. unberücksichtigt, wenn es „mehr war“, kann sie strafmildernd berücksichtigt werden.

Der unzulässige Deal: Geständnis gegen „Absehen von U-Haft“

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Im U-Haftrecht kennen wir die Diskussion um die sog. apokryphen Haftgründe, also andere als in § 112 StP0 im Gesetz normierte Gründe für die Anordnung der U-Haft, die im Verborgenen schlummern. Wir kennen auch die Diskussion und den plakativen Satz: U-Haft schafft Rechtskraft. Mit einer Fallkonstellation, die darüber noch hinausging, hatte sich vor einiger Zeit das OLG Köln im OLG Köln, Beschl. v. 24.06.2013 – 2 Ws 264/13 – zu befassen.

Dort hatte der Beschuldigte ein Geständnis abgelegt. Das hatte das LG aber wegen eines Verstoßes gegen § 136a Abs. 1 Satz 3 StPO als unverwertbar angesehen und deshalb die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den Beschuldigten abgelehnt. Das LG ist davon ausgegangen, dass dem Angeschuldigten, gegen den der Haftgrund der Fluchtgefahr  zum Zeitpunkt dessen Festnahme vorgelegen habe, ein i.S. des § 136a StPO unzulässiger Vorteil versprochen worden sei, und zwar: „Der Angeschuldigte habe gegenüber dem ihn vernehmenden Polizeibeamten seine Aussagebereitschaft von dem Nichtergehen eines Untersuchungshaftbefehls abhängig gemacht.  Der Vernehmungsbeamte habe daraufhin mit der Staatsanwaltschaft Rücksprache gehalten und ihm anschließend erklärt, dass kein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls gestellt werde. Diese Vorgehensweise habe das Versprechen eines nicht vorgesehenen Vorteils beinhaltet“.

Das hat die Staatsanwaltschaft natürlich nicht hingenommen und ist in die Beschwerde gegangen. Damit hatte sie aber beim OLG keinen Erfolg:

Nach dem Inhalt der vorbezeichneten Vermerke ist der in Aussicht gestellte Vorteil (der „Nichtinhaftierung“) mit dem Erfordernis eines Geständnisses verknüpft worden, indem seitens der Ermittlungsbehörden eine nach Maßgabe des § 136a Abs. 1 Satz 3  Alt. 2 StPO unzulässige enge Verbindung zwischen einem Geständnis und einer Entlassung gezogen worden ist. Dies ergibt sich schon aus der Formulierung unter Ziffer 04 des polizeilichen Abschlussvermerks vom 02.01.2013, nach dem auf den Antrag auf Untersuchungshaft „insbesondere“ verzichtet worden sei, „da der Tatverdächtige im Rahmen des Vorgesprächs bereits signalisiert hatte, nur ein Geständnis abzulegen, wenn er nicht in Untersuchungshaft ginge“. Dafür spricht auch die Formulierung in dem nach Anklageerhebung auf Veranlassung der Strafkammer gefertigten dritten Vermerk vom 28.01.2013, wonach die geständige Einlassung des Beschuldigten die Begründung „untermauert“, dass er sich dem Verfahren stellt und sich nicht durch Flucht entziehen will. Bereits diese Formulierungen stehen im Widerspruch zu den Ausführungen in der Beschwerdebegründung, nach der die Auskunft, es werde von der Beantragung eines Haftbefehls abgesehen werden, nicht mit der geständigen Einlassung verknüpft, sondern ausschließlich aufgrund der Prüfung und Verneinung der Haftgründe durch den zuständigen Staatsanwalt erfolgt sei.

Die Darstellung der Beschwerdebegründung überzeugt aus weiteren Gründen nicht. Aus den von der Strafkammer zutreffend aufgeführten Gründen hat der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO – auch bereits zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme und der Beschuldigtenvernehmung durch die Polizei – objektiv vorgelegen; auf die diesbezüglichen Ausführungen der Kammer, die neben der konkreten Straferwartung auf die laufenden Bewährungen verwiesen hat, mit deren Widerruf der Angeschuldigte rechnen musste, nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug. Von Fluchtgefahr ist offenbar auch die Polizei selbst ausgegangen, die den Beschuldigten im Anschluss an die Wohnungsdurchsuchung am 19.12.2012 vorläufig festgenommen hat. Zum Zeitpunkt der vorläufigen Festnahme war der Angeschuldigte nicht auf frischer Tat betroffen oder verfolgt worden, so dass für die vorläufige Festnahme allein der Festnahmegrund des § 127 Abs. 2 StPO in Betracht kam. Der Hinweis der Staatsanwaltschaft Köln, für die vorläufige Festnahme gemäß § 127 StPO genüge ein Fluchtverdacht, geht insoweit fehl, als dass das Vorliegen eines Fluchtverdachts nur für den Fall einer vorläufigen Festnahme nach § 127 Abs. 1 StPO, nicht aber für den hier einschlägigen Festnahmegrund des § 127 Abs. 2 StPO genügt (vgl. Karlsruher Kommentar-Schultheiß, a.a.O., § 127 Rn. 16, 36 Meyer-Goßner, a.a.O., § 127 Rn. 9 f, 18). Für eine Festnahme auf Grundlage der letztgenannten Vorschrift ist das Vorliegen der Voraussetzungen der §§ 112 f., 126 a StPO erforderlich.“

„Allein eine Ehefrau aus Kroatien begründet keine Fluchtgefahr“, oder: Schöner Beschluss des AG Backnang zur Fluchtgefahr

Nachdem ich gestern – zumindest inzidenter – AG und LG München wegen eine Durchsuchungsbeschlusses kritisiert habe (vgl. hier:Abenteuerlicher geht es kaum bei der Anordnung einer Durchsuchung), kommt mir der AG Backnang Beschl. v. 19.03.2013 – 2 Ls 222 Js 113636/12 – gerade Recht, um zu sagen: Es geht auch anders. Der Beschluss betrifft zwar nicht eine Durchsuchungsmaßnahme, aber den mindestens ebenso sensiblen Bereich der Anordnung/Aufrechterhaltung von U-Haft.

Die OLG werden nicht müde in Haftsachen immer wieder – gebetsmühlenartig – zu formulieren: Eine hohe Straferwartung allein vermag Fluchtgefahr nicht zu begründen, die Straferwartung ist vielmehr lediglich Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt, ist der Beschuldigte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden . Die Annahme, dass Fluchtgefahr besteht, muss aus bestimmten Tatsachen hergeleitet werden, allgemeine Befürchtungen genügen nicht. woran sie sich dann allerdings auch nicht immer halten. Häufig halten sich die Instanzgerichte nicht an diese „Vorgaben“ bzw. argumentieren damit, dass dem sich aus der hohen Straferwartung ergebenden Fluchtanreiz nicht ausreichende soziale Bindungen gegenüberstehen, was dann zur Anordnung/Fortdauer der U-Haft führt. Dabei wird dann aber häufig übersehen, dass die vorhandenen sozialen Bindungen doch ausreichend wären, den Beschuldigten von einer Fluch abzuhalten bzw. einen Fluchtanreiz zu mindern und somit mindestens eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls rechtfertigen würden. Anders der AG Backnang Beschl. v. 19.03.2013 – 2 Ls 222 Js 113636/12, in dem das AG m.E. wohl abgewogen mit den dem Fluchtanreiz entgegenstehenden Umständen umgeht.

Das AG stellt ab bzw. würdigt:

„Neben der Straferwartung sind vorliegend keine Gründe ersichtlich, die den Angeschuldigten zur Flucht veranlassen könnten. Insbesondere sind starke familiäre Bindungen vorhanden. Der Angeklagte, der über einen festen Wohnsitz verfügt, ist verheiratet und hat zwei Kinder im Alter von drei und neun Jahren. Diese festen familiären Bindungen sprechen erheblich gegen die Annahme, der Angeschuldigte werde alleine oder werde mit seiner Familie untertauchen.

Soweit in dem nunmehr aufgehobenen Haftbefehl darauf abgestellt wird, die kroatischen Wurzeln der Ehefrau des Angeschuldigten ließen befürchten, der Beschuldigte werde im In- oder Ausland untertauchen, teilt das Gericht die dieser Annahme zugrunde liegende Auffassung nicht. Der Umstand alleine, dass die Ehefrau der Ehefrau des Angeschuldigten aus Kroatien stammt und über die kroatische Staatsangehörigkeit verfügt, rechtfertigt die Annahme einer Fluchtgefahr nicht. Der Angeschuldigte selbst ist deutscher Staatsangehöriger, seine beiden Kinder sind in Deutschland geboren, und seine Frau lebt seit über zwölf Jahren ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland. Ein Absetzen nach Kroatien wäre daher für den Angeschuldigten nicht nur die bloße Rückkehr in die alte Heimat, sondern würde eine vollständige Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten. Dies wäre nur möglich, wenn entweder erhebliche finanzielle Mittel vorhanden wären oder die Möglichkeit bestünde, über Freunde oder Verwandte der Ehefrau des Angeschuldigten Unterschlupf zu erhalten. Über eigene finanzielle Mittel verfügt der Angeschuldigte nicht, die Familie ist mit 80.000,00 € verschuldet. Sie lebte zuletzt von Sozialleistungen. Auch ist nicht ersichtlich, dass er sich illegale Einnahmen, etwa aus den ihm vorgeworfenen Betäubungsmittelgeschäften, in einem Umfang verschafft hat, die ihm und seiner Familie einen kompletten Neuanfang im Ausland ermöglichen würden. Die von der Kriminalpolizei durchgeführten Finanzermittlungen haben ergeben, dass auf das Konto des Angeschuldigten und seiner Ehefrau Bareinzahlungen in Höhe von 2.755,00 € geleistet wurden. Hierbei handelt es sich zwar um einen nicht unerheblichen Betrag, für eine komplette Verlagerung des Lebensmittelpunktes genügt er jedoch nicht. Dass die Kontakte der Ehefrau des Angeschuldigten nach Kroatien so gut sind, dass dort ein untertauchen des Angeschuldigten und seiner Familie einschließlich der beiden Kinder möglich wäre, ist dem Akteninhalt nicht zu entnehmen. Der Schwiegervater des Angeklagten ist verstorben, und die Mutter seiner Ehefrau lebt in Kroatien von ihrer Rente, so dass sie nicht in der Lage sein dürfte, den Angeklagten und seine Familie bei sich aufzunehmen und zu unterhalten.

Darüber hinaus fehlt es auch an hinreichend konkreten Anhaltspunkten dafür, dass der Angeschuldigte in der Betäubungsmittelszene untertauchen könnte. Soweit ersichtlich handelte der Angeschuldigte zwar durchaus professionell, jedoch sind die ihm zu Last gelegten Taten allesamt im Internet unter Gewährleistung der Anonymität aller Beteiligter begangen worden, so dass sich die Annahme der Fluchtgefahr auf die professionelle Tatbegehungsweise alleine nicht stützen lässt. Es handelt sich bei dem Angeschuldigten nicht um einen sogenannten „Straßendealer“, der aufgrund seiner Drogengeschäfte über zahlreiche persönliche Kontakte in der BtM-Szene verfügt, die es ihm ermöglichen, seinen Aufenthaltsort häufig zu wechseln, in dem er bei anderen Szeneangehörigen untertaucht.“

Wie gesagt: Schöner Beschluss