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Pflichti I: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: Kein eigenes Rechtsmittel

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Schon wieder Pflichtverteidigungsentscheidungen wird der ein oder andere sich fragen. Ja, ich habe derzeit aus dem bwereich immer eine ganze Menge Material. Zudem dürften dir Fragen nach den Änderungen in den §§ 140 ff. StPO besonders interessant sein.

Ich beginne heute mit dem BGH, Beschl. v. 18.08.2020 – StB 25/20. Ergangen ist der Beschluss im Lübcke-Verfahren. Der BGH beendet mit der Entscheidung das „Theater“ um die Entpflichtung der zweiten Pflichtverteidigers, den der eine Angeklagte nicht mehr wollte. Das ist ja ein paar Tage durch die Berichterstattzung gegangen. Dann war ein wenig Ruhe, bevor es dann gestern mit der Vernehmung des verbliebenen Pflichtverteidigers als Zeugen weiter gegangen ist. In meinen Augen ist vieles nicht nachvollziehbar, aber man muss ja auch nicht alles verstehen.

Der BGH hat jedenfals, was m.E. zu erwarten war, die Beschwerde des Pflichtverteidigers als unzulässig verworfen:

„Die sofortige Beschwerde ist unzulässig. Sie ist zwar nach § 304 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 Nr. 1 StPO statthaft, jedoch ist der Beschwerdeführer durch die angefochtene Entscheidung nicht im rechtlichen Sinne beschwert.

Einem Pflichtverteidiger steht gegen die Aufhebung seiner Bestellung kein eigenes Beschwerderecht zu (vgl. HansOLG Hamburg, Beschluss vom 17. November 1997 – 2 Ws 255/97, NJW 1998, 621; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 6. März 1996 – 3 Ws 191/96, NStZ-RR 1996, 272; OLG Hamm, Beschluss vom 1. Juni 1993 – 3 Ws 286/93, MDR 1993, 1226; KK-StPO/Willnow, 8. Aufl., § 143 Rn. 6; MüKoStPO/Thomas/Kämpfer, § 143 Rn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 143a Rn. 36; für ein Beschwerderecht im Falle einer willkürlichen Entscheidung vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Dezember 1985 – 2 Ws 652/85, NStZ 1986, 138; OLG Köln, Beschluss vom 24. Juli 1981 – 2 Ws 378/81, NStZ 1982, 129; Dölling/Duttge/König/Rössner/Weiler, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., § 143 StPO Rn. 7; LR/Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl., § 143 Rn. 16; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 143 Rn. 26; für ein generelles Beschwerderecht hingegen Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 6 f.; HK-StPO/Julius/Schiemann, 6. Aufl., § 143 Rn. 10; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl., § 143 Rn. 29 jeweils mwN). Nach der Regelung des § 304 Abs. 2 StPO können zwar andere Personen, zu denen auch Verteidiger zählen können (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 2020 – StB 6/20, NJW 2020, 1534 Rn. 3 mwN), (sofortige) Beschwerde einlegen, wenn sie in ihren Rechten betroffen sind. Anders als durch die Ablehnung der von einem Pflichtverteidiger beantragten Rücknahme seiner Beiordnung (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 2020 – StB 6/20, NJW 2020, 1534) ist eine die Beschwerdebefugnis begründende Rechtsbeeinträchtigung durch die gegen seinen Willen vorgenommene Entpflichtung jedoch nicht gegeben.

1. Der Zweck der Pflichtverteidigung, die ein Rechtsanwalt grundsätzlich übernehmen muss (§ 49 Abs. 1 BRAO), besteht – ausschließlich – darin, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass der Beschuldigte in schwerwiegenden Fällen (§ 140 StPO) rechtskundigen Beistand erhält und der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gewährleistet wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 242; OLG Hamm, Beschluss vom 1. Juni 1993 – 3 Ws 286/93, MDR 1993, 1226; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Dezember 1985 – 2 Ws 652/85, NStZ 1986, 138). Die Beiordnung eines Verteidigers erfolgt demzufolge nicht in dessen, sondern allein im öffentlichen Interesse zum Schutz des Beschuldigten. Ein Rechtsanwalt hat deshalb keinen aus eigenem Recht ableitbaren Anspruch darauf, in einer bestimmten Strafsache zum Verteidiger bestellt zu werden, eine ihm übertragene Pflichtverteidigung weiterzuführen und seiner – drohenden oder vollzogenen – Abberufung entgegenzutreten (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Dezember 1985 – 2 Ws 652/85, NStZ 1986, 138). Anders als die Ablehnung der von ihm nach § 49 Abs. 2 i.V.m. § 48 Abs. 2 BRAO beantragten Aufhebung seiner Beiordnung, die ihn mit Blick auf die ihm aus § 49 Abs. 1 BRAO erwachsende Berufspflicht in seinem Recht auf Berufsausübungsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG beeinträchtigen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 5. März 2020 – StB 6/20, NJW 2020, 1534 Rn. 3 ff.; s. auch BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 241 f.), ist die Rücknahme der Bestellung kein ihn beschwerender Eingriff in sein Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 241 f.; so auch BVerfG, Beschlüsse vom 14. Oktober 1997 – 2 BvQ 32/97, NJW 1998, 444; vom 11. März 1997 – 2 BvR 325/97, NStZ-RR 1997, 202, 203).

Aus der ihm durch die staatliche Indienstnahme zukommenden öffentlichen Funktion folgt nichts anderes (so aber Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 7; SSW-StPO/Beulke, 4. Aufl., § 143 Rn. 29), denn die Aufgabenerfüllung im öffentlichen Interesse endet mit der Aufhebung der Bestellung. Mit Blick auf seine öffentliche Funktion liegt auch keine vergleichbare Interessenlage zu einem Wahlverteidiger und dessen Beschwerderecht aus § 138d Abs. 6 Satz 1 StPO vor (anders Hilgendorf, NStZ 1996, 1, 6 f.). Zudem darf der ausgeschlossene Wahlverteidiger in dem betreffenden Verfahren für den Angeklagten in keiner Form mehr auftreten (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 138a Rn. 22), während der Pflichtverteidiger nach seiner Abberufung grundsätzlich weiterhin als Wahlverteidiger tätig werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. April 1975 – 2 BvR 207/75, BVerfGE 39, 238, 245 f.). Da dem Verteidiger kein Anspruch auf Fortführung des Pflichtverteidigermandats zusteht, vermögen – anders als der Beschwerdeführer meint – damit ggf. verbundene wirtschaftliche Interessen oder ein Rehabilitationsinteresse eine Rechtsbetroffenheit ebenfalls nicht auszulösen.

2. Diese Grundsätze entsprechen auch dem Willen des Gesetzgebers nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10. Dezember 2019 (BGBl. I, S. 2128 ff.). Insbesondere hat der Gesetzgeber in Kenntnis der bisherigen Rechtspraxis für die sofortige Beschwerde in § 143a Abs. 4 StPO nF an dem Erfordernis einer Beschwer festgehalten.

Das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung dient der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/1919 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Oktober 2016 über Prozesskostenhilfe für verdächtige und beschuldigte Personen in Strafverfahren sowie für gesuchte Personen in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (ABl. EU L 297 S. 1 ff.). In Beibehaltung des „bewährten Systems der notwendigen Verteidigung“ (BT-Drucks. 19/13829, S. 2) regeln §§ 143, 143a StPO nF nunmehr die nach bisheriger Rechtslage nur ansatzweise und fragmentarisch normierten Fragen der Dauer, Aufhebung und Zurücknahme der Pflichtverteidigerbestellung (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 20). Soweit Entscheidungen über einen Verteidigerwechsel, die nach bisheriger Gesetzeslage der (einfachen) Beschwerde unterlagen, nunmehr mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde angegriffen werden können (§ 143a Abs. 4 StPO), ergibt sich aus der Gesetzesbegründung, dass für die Zulässigkeit des Rechtsmittels an dem Erfordernis einer Beschwer festgehalten wird. Denn der Gesetzgeber hat ausdrücklich Bezug auf die bisherige Rechtsschutzmöglichkeit genommen und dargelegt, die Einführung einer sofortigen Beschwerde diene ausschließlich dazu, rasch Klarheit über die Frage zu schaffen, wer die Verteidigung übernimmt (vgl. BT-Drucks. 19/13829, S. 49 [„soweit eine Beschwer besteht“]).

Auch das EU-Recht begründet keine Beschwerdebefugnis des Pflichtverteidigers in der hiesigen Konstellation. Art. 8 RL 2016/1919/EU verpflichtet die Mitgliedstaaten, verdächtigen, beschuldigten und gesuchten Personen einen wirksamen Rechtsbehelf für den Fall der Verletzung ihrer Rechte aus der Richtlinie zur Verfügung zu stellen; die Schaffung besonderer Rechtsschutzmöglichkeiten für Verteidiger intendiert die Richtlinie indes nicht.

3. Schließlich kann dahinstehen, ob ein Verstoß gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende objektive Willkürverbot (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 2 BvR 2054/19, juris Rn. 34 f.; Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl., Art. 3 Rn. 5) ein Beschwerderecht zu begründen vermag (so OLG Düsseldorf, Beschluss vom 2. Dezember 1985 – 2 Ws 652/85, NStZ 1986, 138; OLG Köln, Beschluss vom 24. Juli 1981 – 2 Ws 378/81, NStZ 1982, 129; Dölling/Duttge/König/Rössner/Weiler, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., § 143 StPO Rn. 7; LR/Lüderssen/Jahn, StPO, 26. Aufl., § 143 Rn. 16; SK-StPO/Wohlers, 5. Aufl., § 143 Rn. 26), denn die angefochtene Entscheidung ist auch mit Blick auf die von dem Vorsitzenden abgegebenen Erklärungen in der Hauptverhandlung jedenfalls in der Sache nicht offensichtlich unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich unvertretbar (zu den Voraussetzungen eines Verstoßes s. BVerfG, Beschluss vom 27. Mai 2020 – 2 BvR 2054/19, juris Rn. 35; BeckOK GG/Kischel, 43. Ed., Art. 3 Rn. 84, jeweils mwN).“

Nun ja, immerhin hat es der (ehemalige) zweite Pflichtverteidiger in BGHSt geschafft.

Pflichti II: Kein Sicherungsverteidiger wegen Corona-Pandemie, oder: Aber Rechtsmittel zulässig

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Bei der zweiten Entscheidung handelt es sich um den OLG Hamm, Beschl. v. 05.05.2020 – 4 Ws 94/20. Den hat der Kollege Urbanzyk aus Coesfeld erstritten.

In dem Verfahren, in dem der Kollege tätig war – Vorwur der sexuellen Nötigung – ist ein Sicherungsverteidiger beantragt worden (jetzt § 144 StPO). Begründet worden ist das mit der Corona-Pandemie und dem Risiko, dass ggf. Verfahrensbeteiligte, also auch der Verteidiger, nicht (weiter) an der Hauptverhandlung teilnehmen können. Das hat das LG abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die das OLG zurückgewiesen hat. Hier die Begründung, wobei es mir um die Ausführungen des OLG zur Zulässigkeit des Rechtsmittels geht:

„Der Senat nimmt gleichfalls Bezug auf die zutreffenden Erwägungen in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft. Ohne weitere Anhaltspunkte (etwa konkrete Krankheitsverdachtsfälle im näheren Umfeld des ersten Pflichtverteidigers o.ä.) ergibt sich derzeit aus der Ansteckungsgefahr mit der Covid-19-Erkrankung kein Risiko, welches nennenswert über das allgemeine Risiko, dass Verfahrensbeteiligte krankheitsbedingt an der Hauptverhandlung nicht teilnehmen können, hinausgeht. Die Zahl der Infektionen bzw. Neuinfektionen war und ist – bezogen auf die Gesamtbevölkerung – sehr gering. Zudem bestünde selbst im Falle einer Infektion angesichts des meist milden Krankheitsverlaufs und – nach derzeitigem Stand – nach dem Ablauf von zwei Wochen nach einer Infektion nicht mehr bestehender Ansteckungsgefahr eine erheblich überwiegende Wahrscheinlichkeit, dass die Hauptverhandlung bei krankheitsbedingtem Ausfall einzelner Hauptverhandlungstage immer noch innerhalb der Fristen des § 229 StPO fortgesetzt werden kann.

Ergänzend bemerkt der Senat, dass das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nach § 144 Abs. 2 S. 2 StPO i.V.m. § 142 Abs. 7 StPO auch in den Fällen statthaft ist, in denen die erstmalige Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers (Sicherungsverteidigers) abgelehnt wurde. Zwar spricht die Einordnung der Regelung über die Geltung des § 142 Abs. 7 StPO als S. 2 von § 144 Abs. 2 StPO zunächst einmal dafür, dass sich der Verweis auch nur auf Rechtsmittel gegen Entscheidungen nach § 144 Abs. 2 S. 1 StPO (also die Aufhebung der Bestellung eines zusätzlichen Verteidigers) bezieht. Abgesehen davon, dass kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum die Bestellung oder Nichtbestellung eines (ersten) Pflichtverteidigers nach § 142 Abs. 7 StPO sowie die Aufhebung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers, nicht aber die Bestellung oder Ablehnung der Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde anfechtbar sein soll, geht der Gesetzgeber selbst von einer entsprechenden Anfechtbarkeit aller dieser Fälle aus (BT-Drs. 19/13829 S, 50; vgl. auch: Beck-OK-StPO-Krawczyk, 36. Ed., § 144 Rdn. 12).

Der Angeklagte hat auch ein Rechtsschutzinteresse bzgl. eines Rechtsmittels gegen die Nichtbestellung eines Sicherungsverteidigers. § 144 Abs. 1 StPO dient nicht nur dem öffentlichen Interesse der Verfahrenssicherung im Sinne einer effektiven Strafrechtspflege, sondern auch dem Interesse des Angeklagten an der Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes (vgl. BT-Drs. 19/13829 S, 49 f.).“

Pflichti III: Nachträgliche Bestellung, oder: Ja, das ergibt sich auch aus der Intention der Neuregelung

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So, und dann hier die dritte Entscheidung aus dem Themenkreis: Nachträgliche/rückwirkende Bestellung. Der vorzustellende LG Mannheim, Beschl. v. 26.03.2020 – 7 Qs 11/20 – besten Dank an den Kollegen Becker aus Heidelberg für die Übersendung – ist „besonders schön“. Denn der Beschluss argumentiert ausdrücklich mit der gesetzlichen Neuregelung der §3 140 ff. StPO.

Das AG Mannheim hatte mit dem AG Mannheim, Beschl. v. 27.02.2020 – 41 Gs 555/20 – die Bestellung des Kollegen abgelehnt. Begründung: Die Voraussetzungen für eine Bestellung liegen nicht mehr vor.

Das hat das LG anders gesehen und beigeordnet:

„Der am 27.12.2019 bei der Staatsanwaltschaft Mannheim eingegangene Antrag ist erst nach der mit Verfügung vom 30.01.2020 erfolgten Einstellung des Verfahrens nach§ 154 Abs. 2 StPO sowie nach der mit Schreiben des Verteidigers vom 06.02.2020 erfolgten Erinnerung an seinen Antrag dem Amtsgericht zur Entscheidung zugeleitet worden.. Dis Amtsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 27.02.2020 abgelehnt. Dagegen hat. der Beschuldigte mit Schreiben seines Verteidigers vom 10.03.2020 form- und fristgerecht sofortige Beschwerde eingelegt, die begründet ist.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung lag ein Fall der notwendigen Verteidigung nach §§ 109 Abs. 1.Satz 1,.68 Abs. 1 Nr. 1 JGG., 140•Abs. 1 Nr. 5 StPO vor, in welchem Verfahren die Untersuchungshaft vollzogen wird, ist – was durch die Neuregelung in § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO ausdrücklich klargestellt worden ist, ohne Belang (Beck0K-Graf, StPO, § 140 Rn 12 m.w.N. zum Streitstand bzgl. § 140 Abs. 1 Nr. 4 a.F.). Die Ausnahmeregelung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO greift nicht, da ein zulässiger Antrag nach § 141 Abs. 1 StPO vorlag und die Ausnahmeregelung in § 141 Abs. 2 S. 3 .StPO nur für die in §:141 Abs. 2  S. 1 Nr. 2 und 3 StPO genannten Fällen greift (BeckOK-Graf, StPO, :§.141 Rn. 22). Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass sich nach der Intention des Gesetzgebers die Unanwendbarkeit des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO in Verfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende bereits aus § 68a Abs. 1 JGG 2 Abs. 2 JGG ergibt und es deshalb einer Aufnahme in § 68a Abs. 2 JGG nicht bedurfte .(BT-Drs. 19/15162 S. 7 a.E.).

Soweit in der Rspr. der Oberlandesgerichte die Ansicht vertreten wird, dass  in einem bereits abgeschlossenen Verfahren eine rückwirkende Beiordnung nicht zulässig ist (vgl. zum Streitstand BeckOK-Graf, StPO § 142 RN 29), kann dieser Ansicht in dieser Allgemeinheit im Hinblick auf die Intention des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung -(Vgl. BT-Drs. 19/13829 sowie BT-Drs. 19/15151) nicht gefolgt werden, wenn wie im vorliegenden Fall der Antrag rechtzeitig gestellt und dem Erfordernis der Unverzüglichkeit der Beiordnung nicht genügt worden ist.“

Pflichti II: Nachträgliche Bestellung?, oder: Ja, denn an sich muss „zeitnah“ entschieden werden

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Die zweite Pflichtverteidigungsentscheidung aus dem Themenkreis: Nachträgliche Bestellung, kommt mit dem LG Wiesbaden, Beschl. v. 04.03.2020 – 1 Qs 8/20 u. 1 Qs 10/20 – vom LG Wiesbaden. Auch hier hatte das AG den Antrag des Verteidigers abgelehnt, weil die Voraussetzungen des § 140 StPO nach Auffassung des AG nicht vorlagen. Anders das LG, das auch „rückwirkend bestellt“:

„Eine rückwirkende Bestellung, um welche es sich für das Ursprungsverfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 19804/19 handelt, ist zwar nach der weit überwiegenden Rechtsprechung der Oberlandesgerichte unzulässig und unwirksam (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt, 62. Aufl., § 141 StPO Rn. 8 m. w. N.), da die Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht dem Kosteninteresse des Angeklagten oder seines Verteidigers dient. Die Beiordnung verfolgt allein den Zweck, im öffentlichen Interesse dafür zu sorgen, dass ein Angeklagter in entsprechenden Fällen rechtskundigen Beistand erhält und der Verfahrensablauf gewährleistet wird (Meyer-Goßner/Schmitt — Schmitt a.a.O.).

Die angenommene Unzulässigkeit einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung darf jedoch nicht ausnahmslos gelten. Der Gesetzgeber sieht gegen die Versagung einer Beiordnung ein Rechtsmittel vor. Die dem Beschuldigten hierdurch kraft Gesetzes gewährte Überprüfungsmöglichkeit darf ihm nicht dadurch entzogen werden, dass das Gericht schlicht untätig bleibt und der Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung durch Abtrennung des Verfahrens oder Einstellung des Verfahrens überholt wird Der verfassungsrechtlich garantierte Grundsatz des fairen Verfahrens gemäß Artikel 20 Absatz 3 GG gebietet es. dass der Antrag des Verteidigers auf Beiordnung zeitnah entschieden wird (LG Dresden. Beschluss vom 06. Januar 2011 — 3 Qs 174/10 —, Rn. 31 – 6, im Ergebnis ebenso OLG Stuttgart. Justiz 2010, 378 f; Landgericht München Beschluss vom 21.01. 2014. Az. 22 Qs 5/14. Landgericht Halle Beschluss vom 28.12.2009, Az. 6 Qs 68109).

Die Anwendung dieser Grundsätze führt vorliegend zur Aufhebung des Ablehnungsbeschlusses. Der Antrag auf Beiordnung war rechtzeitig angebracht und auch entscheidungsreif. Rechtsanwalt pp. hat erstmals mit Schriftsatz vom 21.11.2019 seine Bestellung als Pflichtverteidiger des Angeklagten beantragt; einen gleichlautenden Antrag stellte die Staatsanwaltschaft Wiesbaden zudem in ihrer Begleitverfügung zur Anklage vom 22.07.2019. Auf die Beschwerde des Angeklagten gegen die unterbliebene Pflichtverteidigerbestellung vom 27.11.2019 reagierte das Amtsgericht Wiesbaden, indem es das Verfahren gegen den Angeklagten von dem Verfahren gegen den Mitangeklagten pp. mit Beschluss vom 28.11.2019 abtrennte und mit Beschluss vom gleichen Tag den Antrag von Rechtsanwalt pp. auf Bestellung als notwendiger Verteidiger zurückwies. Wenn über die Beschwerde, sei es durch eine Abhilfeentscheidung oder nach der Vorlage an das Beschwerdegericht, unverzüglich entschieden worden wäre. hätte die letztlich durch Untätigkeit des Gerichts erfolgte Ablehnung der Pflichtverteidigerbestellung zumindest durch das Beschwerdegericht korrigiert werden können. bevor das Verfahren abgetrennt wurde.

Entscheidend für eine zulässige Ausnahme einer rückwirkenden Pflichtverteidigerbestellung ist demnach, dass zum Zeitpunkt des rechtzeitig gestellten und entscheidungsreifen Antrages auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers die Voraussetzungen des § 140 StPO vorlagen.

Diese Voraussetzungen waren vorliegend gegeben.

Zum Zeitpunkt der Antragstellung war dem Angeklagten pp. ein Verteidiger bereits aus dem Gesichtspunkt der Schwere der Tat gemäß § 140 Abs. 2 S. 1 StPO beizuordnen. Eine Tat ist in der Regel dann als “schwer“ gem. § 140 Abs. 2 StPO anzusehen, wenn eine Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 14. November 2000 – 2 Ss 1013/2000). Der Angeklagte ist des gemeinschaftlichen Diebstahls, wobei einer der Beteiligten ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führte. angeklagt. Ausweislich der Anklageschrift weist der Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 18.6.2019 für den Angeklagten bereits 4 Eintragungen auf. Angesichts des Anklagevorwurfes und der Vorstrafen ist eine Strafe von einem Jahr oder mehr zu erwarten. Ferner besteht eine die Beiordnung rechtfertigende schwierige Sachlage, weil es vorliegend zur sachdienlichen Verteidigung gehört, dass der Akteninhalt bekannt ist. Dieser ist aber nur dem Verteidiger zugänglich, so dass in diesem Falle die Bestellung des Pflichtverteidigers unumgänglich ist (OLG Frankfurt. Beschluss vom 31. März 2009 — 3 Ws 271/09 —, Rn. 4). In den Akten befindet sich die CD mit der Videoaufzeichnung der Tat. die für die Frage der Täterschaft ein wesentliches Beweismittel darstellt. Ferner befinden sich in der Akte die Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und die ärztlichen Berichte über die Entnahme der Blutprobe, die für die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten Bedeutung erlangen können.

Aufgrund dieser Umstände, die nach wie vor gegeben sind, ist auch für das abgetrennte Verfahren mit dem Aktenzeichen 2250 Js 10360/20, welches in der Beschwerde vorgelegt wurde, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers notwendig.“

Pflichti I: Nachträgliche Bestellung, oder: Auch noch Einstellung nach § 154 Abs. 2 StPO

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Heute lege ich dann noch einmal mit drei Entscheidungen zur Pflichtverteidigung nach. Und man wird es nicht glauben, alle drei positiv zur Problematik nachträgliche Beiordnung.

Und: Es gibt keinen „Aprilscherz“. Irgendwie ist mir nicht danach :-).

Die erste Entscheidung hat mir der Kollege Siebers aus Braunschweig geschickt. Mal wieder etwas vom LG Magdeburg, und zwar der LG Magdeburg, Beschl. v. 20.02.2020 – 29 Qs 2/20. Das AG hatte die Bestellung des Kollegen als Pflichtverteidiger abgelehnt. Anders das LG:

„Die (sofortige) Beschwerde ist gemäß § 142 Absatz 7 StPO zulässig und auch begründet.

Auf die Beschwerde des Beschuldigten war die angegriffene Entscheidung des Amtsgerichts Magdeburg aufzuheben und Rechtsanwalt pp. als Pflichtverteidiger beizuordnen.

Aufgrund der bei Antragstellung bestehenden Haftunterbringung des Beschuldigten lag jedenfalls zu jenem Zeitpunkt der Beiordnungsgrund des § 140 Absatz 1 Nummer 5 StPO vor.

Der im Auftrag des Beschuldigten gestellte Antrag des – früheren – Wahlverteidigers, ihn als Pflichtverteidiger beizuordnen, beinhaltet wie im Grundsatz jeder entsprechende Antrag stets auch ohne ausdrückliche Nennung die Erklärung, die Wahlverteidigung solle mit der Beiordnung enden (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt. StPO. 62. Auflage 2019. § 142 Rn. 7 m. w. N.).

Dass das Ermittlungsverfahren zwischenzeitlich eingestellt worden ist, steht der nachträglichen – Beiordnung nicht entgegen.

Das Landgericht Magdeburg hat, etwa mit Beschluss in anderer Sache vom 26. März 2019 ¬22 Qs 467 Js 21065/18 (16/19) -. zu derartigen Konstellationen bereits ausgeführt:

„Zwar folgt die Kammer der überwiegenden Ansicht (vgl. hierzu Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt. 61. Aufl.. StPO. § 141, Rn. 8). dass nach dem endgültigen Abschluss eines Strafverfahrens die nachträgliche Beiordnung eines Verteidigers nicht mehr in Betracht kommt und ein darauf gerichteter Antrag unzulässig ist. Dies gilt auch für den Fall der Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 2 StPO, die der Sache nach mit einer endgültigen Einstellung verbunden ist, die die gerichtliche Anhängigkeit beendet. Allerdings hält die Kammer in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung vieler Landgerichte eine rückwirkende Bestellung für zulässig. wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig vor Abschluss des Verfahrens gestellt wurde. die Voraussetzungen für eine Beiordnung gem. § 140 Abs. 1. 2 StPO vorlagen und die Entscheidung durch gerichtsinterne Vorgänge unterblieben ist, auf die ein Außenstehender keinen Einfluss hatte (vgl. Landgericht Magdeburg, Beschluss vom 11. Oktober 2016. 23 Qs 18/16: Landgericht Hamburg. StV 2005. 207: Landgericht Saarbrücken, StV 2005, 82; Landgericht Itzehoe StV 2010, 562: Landgericht Neubrandenburg StV 2017, 724 mit zahlreichen Rechtsprechungsnachweisen).“

Diesen Ausführungen schließt sich die Kammer an. Zum Zeitpunkt der Verfahrenseinstellung am 10. Februar 2020 lag nicht nur der bereits positiv entscheidungsreife Beiordnungsantrag beim Amtsgericht vor. Es war darüber auch schon – ablehnend – entschieden worden. Bei der bei dem Amtsgericht Magdeburg am 24. Januar 2020 eingegangenen „Beschwerde“ handelte es sich zudem um eine sofortige Beschwerde gemäß § 142 Absatz 7 StPO, bei der es keiner weiteren Prüfung einer Abhilfe durch das Amtsgericht bedurfte. § 311 Absatz 3 Satz 1 StPO. Für ein Zuwarten mit der Aktenvorlage an das Beschwerdegericht bestand daher kein Grund. Wären die Akten dem Beschwerdegericht sogleich zur Entscheidung vorgelegt worden. wäre bis zur Einstellung des Verfahrens am 10, Februar 2020 bereits mit einer die amtsgerichtliche Entscheidung abändernden Entscheidung des Beschwerdegerichts zu rechnen gewesen.“

Es empfiehlt sich immer, mal ins Gesetz zu schauen. Dann hätte das AG wahrscheinlich/hoffentlich bemerkt, dass das zulässige Rechtsmittel gegen Pflichtverteidigungsentscheidungen inzwischen die sofortige Beschwerde ist.