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Entpflichtung I: Grenzüberschreitung des Mandanten, oder: Wie weit darf ein Angeklagter gehen?

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Heute mache ich dann mal wieder einen „Pflichti-Tag“, also Entscheidungen zu Pflichtverteidigungsfragen. Alle Entscheidungen, die ich vorstelle befassen sich mit der Entpflichtung des Pflichtverteidigers und /oder einem Pflichtverteidigerwechsel befassen.

Hier zunächst der BGH, Beschl. v. 29.12.2022 – 1 StR 284/22. 

Der BGH lehnt die beantragte Entpflichtung ab:

1. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vierzehn Jahren verurteilt. Erstinstanzlich waren Rechtsanwältin K. und Rechtsanwalt H. , kanzleiansässig jeweils in M. , zu Pflichtverteidigern des in dieser Sache in Untersuchungshaft genommenen Angeklagten bestellt worden. Mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2022 hat Rechtsanwältin K.   die Aufhebung ihrer Bestellung als Pflichtverteidigerin gemäß § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO beantragt.

2. Der Antrag bleibt ohne Erfolg. Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist nach § 143a Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 StPO aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet ist. Danach ist Voraussetzung für die Aufhebung einer Beiordnung, dass konkrete Umstände vorgetragen werden, aus denen sich der endgültige Fortfall der für ein Zusammenwirken zu Verteidigungszwecken notwendigen Grundlage ergibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 21. Dezember 2021 – 4 StR 295/21 Rn. 3 und vom 12. Februar 2008 – 1 StR 649/07 Rn. 16 f.).

a) Daran gemessen ergibt sich weder aus dem Vorbringen der Pflichtverteidigerin noch aus der hierzu erfolgten Stellungnahme des Angeklagten ein Grund für die Aufhebung der Bestellung. Das Vorbringen der Verteidigerin beschränkt sich im Wesentlichen auf die Behauptung, der Angeklagte überschreite seit geraumer Zeit die im Rahmen des Mandatsverhältnisses gebotene Distanz und phantasiere über eine persönliche Beziehung zu ihr, weshalb ihr eine angemessene professionelle Verteidigung nicht möglich sei. Ein solcher Rückschluss ist mangels hinreichenden Tatsachenvortrags nicht nachvollziehbar. Dies gilt auch unter Berücksichtigung des auszugsweise vorgelegten Anschreibens des Angeklagten an die Pflichtverteidigerin, seine Mutter „wäre fast deine Schwiegermutter geworden aber was nicht ist kann werden…“. Die hierin zweifellos zum Ausdruck gekommene Grenzüberschreitung des Angeklagten gefährdet den Zweck der Pflichtverteidigung, dem Beschuldigten einen geeigneten Beistand zu sichern und einen geordneten Verfahrensablauf zu gewährleisten, nicht und rechtfertigt damit keinen Eingriff in die Verteidigungsbelange des Angeklagten, der seiner Verteidigerin gegenüber sein Vertrauen ausgesprochen hat (vgl. BGH, Urteil vom 23. September 2015 – 2 StR 434/14 Rn. 23).

b) Ohnehin kann ein im Verhältnis des Angeklagten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund zur Entpflichtung eines bestellten Verteidigers regelmäßig nicht bejaht werden, wenn dieser Grund allein vom Angeklagten verschuldet ist. So steht zum Beispiel die Möglichkeit, den Verteidiger „aufs Übelste zu beschimpfen“ oder ihn mit „unhaltbaren Vorwürfen“ zu überziehen, jedem Angeklagten faktisch unbegrenzt zur Verfügung. Könnte er damit die Auswechslung eines Verteidigers erzwingen, könnte er ein Verfahren ohne sachlichen Grund nahezu beliebig verzögern und blockieren. Ob und unter welchen besonderen Umständen Ausnahmen von alledem in Betracht kommen können, kann dahinstehen, da Anhaltspunkte für derartige Besonderheiten nach dem Vorgesagten hier nicht dargetan sind.“

Pflichti III: Nochmals rückwirkende Bestellung, oder: Pro und Contra – pro hat Recht

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Und dann noch etwas zum Dauerbrenner im Bereich der §§ 140 ff. StPO, nämlich die Frage der Zulässigkeit der rückwirkenden Bestellung. Da gibt es zwei Lager, die sich gegenüber stehen. M.E. hat das Lager, das eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers, insbesondere in den Fällen der Einstellung des Verfahrens (meist nach § 154 StPO) bejaht, ein leichtes Übergewicht.

Die Argumente in dieser Streitfrage sind ausgetauscht, so dass ich hier nur – der Vollständigkeit halber – die neueren Entscheidung pro/contra vorstelle. Und zwar.

Für die Zulässigkeit einer rückwirkenden Bestellung haben sich ausgesprochen:

– LG Karlsruhe, Beschl. v. 14.11.2022 – 16 Qs 62/22

– LG Münster, Beschl. v. 4.11.2022 – 22 Qs 41/22 – für einen Nebenklagefall

– LG Neuruppin, Beschl. v. 01.12.2022 – 12 Qs 17/22 jug.

Gegen die Zulässigkeit argumentieren:

– LG Braunschweig, Beschl. v. 23.11.2022 – 9 Qs 346/22

LG Oldenburg, Beschl. v. 06.12.2022 – 3 Qs 409/22

Ich meine, die Auffassung, die für die Zulässigkeit plädiert, ist zutreffend. Letztlich wird die Frage aber ggf. irgendwann mal der BGH entscheiden. Hoffentlich.

Pflichti II: Entpflichtung wegen endgültiger Zerrüttung? oder: Nein, denn es ist „sachgerecht“ weiter verteidigt

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Als zweite Entscheidung dann etwas zur Entpflichtung nach § 143a StPO, und zwar der OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 29.11.2022 – 3 Ws 420/44.

Der Pflichtverteidiger hatte seine Entpflichtung beantragt, das LG hat sie abgelehnt. Dagegen die sofortige Beschwerde, die beim OLG Frankfurt keinen Erfolg hatte:

„Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Landgericht hat den Antrag von Rechtsanwalt pp. auf seine Entpflichtung zu Recht abgelehnt.

Gemäß § 143a Abs. 2 Nr. 3 StPO ist die Bestellung eines Pflichtverteidigers aufzuheben, wenn das Vertrauensverhältnis endgültig zerstört (St oder aus einem sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung gewährleistet ist. Damit wurden die bislang in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannten Fälle des Rechts auf Verteidigerwechsel nunmehr kodifiziert. Auf die bisherige Rechtsprechung ist weiterhin zurückzugreifen (BT-Drs. 19/13829 S. 48). Eine ernsthafte Erschütterung des Vertrauensverhältnisses muss substantiiert dargelegt sein und ist nur dann anzunehmen, wenn zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht mehr sachgerecht geführt werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. § 143a Rn. 19 ff.).

Danach kommt eine Entpflichtung von Rechtsanwalt pp. nicht in Betracht. Zwar verkennt der Senat nicht, dass das bereits seit März 2020 bestehende Beiordnungsverhältnis zwischen dem Angeklagten und seinem Verteidiger durch Beschwerden des Angeklagten bei der Rechtsanwaltskammer, ein Zivilverfahren (Anwaltsregress) des Angeklagten gegen den Verteidiger und wiederholte Beleidigungen und Verunglimpfungen des Verteidigers durch den Angeklagten stark belastet ist, was mehrfach zu wechselseitigen Entpflichtungsanträgen geführt hat. Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses vermag der Senat dagegen nicht zu erkennen, zumal weder Beschimpfungen / haltlose Vorwürfe (BGH StV 2009, 5) noch die Erhebung einer zivilrechtlichen Klage gegen den Pflichtverteidiger (OLG Bremen BeckRS 2018, 46873) allein hierfür ausreichen, da der Angeklagte nicht durch eigenes Verhalten die Entpflichtung erzwingen und das Verfahren damit ohne sachlichen Grund nahezu beliebig verzögern können soll. Insofern ist dem Verteidiger grundsätzlich mehr zuzumuten als umgekehrt dem Beschuldigten (BeckOK StPO/Krawczyk, 45. Edition Stand 01.10.2022, § 143a Rn 24).

Schließlich wurde die Verteidigung trotz aller Widrigkeiten bis zuletzt sachgerecht geführt, wie die ausführliche Revisionsbegründung durch Rechtsanwalt pp. belegt.“

Das letzte Argument ist m.E. ein Scheinargument. Meint das OLG Frankfurt, dass der Pflichtverteidiger in solchen Fällen, ggf. die Verteidigung nicht „sachgerecht“ führen? Beim OLG Frankfurt wundert mich nichts mehr….

Pflichti I: Zunächst zu den Beiordnungsgründen, oder: Mehrere Beschuldigte, BVV, JGG-Verfahren

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Heute steht dann mal wieder ein „Pflichtverteidigungstag“ an. Ich denke, es wird der letzte in diesem Jahr sein. Bei der Gelegenheit danke ich allen Einsendern, die mir im Laufe des Jahres insbesondere (auch) Pflichtverteidigungsentscheidungen geschickt haben. So ist eine schöne Sammlung zustande gekommen.

Ich beginne heute die Berichterstattung hier mit drei LG-Entscheidungen zu den Beiordnungsgründen, und zwar:

Im Falle mehrerer Mitbeschuldigter kann, wenn ein Mitbeschuldigter einen Verteidiger hat, die Beiordnung eines Rechtsanwalts für die anderen Mitbeschuldigten in Betracht kommen, insbesondere wenn sich die Beschuldigten gegenseitig belasten.

Ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO liegt u.a. vor, wenn fraglich ist, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt oder wenn es sich um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt.

Die Mitwirkung eines Verteidigers ist geboten, wenn die Beschuldigte zur mutmaßlichen Tatzeit erst 14 Jahre und drei Monate alt war und zudem an einer sonstigen kombinierten Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (ICD-10 F92.8), einer Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2) und einer ernsthaften sozialen Beeinträchtigung leidet und zudem nur eine unterdurchschnittliche Intelligenz hat.

Pflichti III. Bestellungsantrag in der Hauptverhandlung, oder: Wer muss/darf/soll entscheiden?

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Im dritteN Posting des Tages stelle ich dann noch den OLG Hamm, Beschl. v. 11.10.2022 – 5 Ws 270/22 – vor. Es geht um die funktionelle Zuständigkeit für einen in laufender Hauptverhandlung gestellten Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Wer muss entscheiden?

Das AG hatte den Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. In der Hauptverhandlung vor der Berufungskammer des LG hat der Verteidiger dann für die Berufungsverhandlung die Beiordnung als Pflichtverteidiger beantragt. Diesen Antrag hat das LG in der Hauptverhandlung per Kammerbeschluss mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Voraussetzungen des § 140 StPO nicht vorlägen. Dagegen sofortige Beschwerde, die im Ergebnis keinen Erfolg hatte:

„2. Das Rechtsmittel führt zwar zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses, da dieser unter Verletzung verfahrensrechtlicher Vorschriften ergangen ist, hat im Ergebnis aber keinen Erfolg.

a) Ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls der Berufungsinstanz vom 28. Juni 2022 hat das Landgericht über den Beiordnungsantrag als Kammer unter Mitwirkung der Schöffen entschieden. Funktionell zuständig war gemäß § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO jedoch alleine die Vorsitzende. Dies gilt – über den Wortlaut der Vorschrift hinausgehend – nicht nur für die Bestellung, sondern auch für die Ablehnung eines Antrags auf Beiordnung als Pflichtverteidiger (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 142 Rn. 18).

Der Verstoß gegen die funktionelle Zuständigkeit führt aufgrund der eingelegten Beschwerde zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und eigenen Sachentscheidung des Senats.

Soweit teilweise vertreten wird, eine Entscheidung des Kollegialgerichts sei unschädlich, weil sich der Vorsitzende seiner Entscheidungsmöglichkeit nicht begebe (Schmitt in Meyer-Goßner/Schmitt, ebenda, § 142 Rn. 18, unter Bezugnahme auf BGH, Beschluss vom 18. November 2003 – 1 StR 481/03 – juris und BVerwG, Beschluss vom 14. Juli 1969 – II WDB 3/69 – juris), teilt der Senat diese Rechtsauffassung nicht (ebenso OLG Bamberg, Beschluss vom 29. April 2021 – 1 Ws 260/21 – juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 22. November 2021 – 1 Ws 278/21 – juris). Dagegen spricht bereits der eindeutige Wortlaut des § 142 Abs. 3 Nr. 3 StPO, der Ausnahmen nicht vorsieht. Auch handelt es sich bei der Ablehnung eines Antrags auf Pflichtverteidigerbestellung nicht um eine auf die Sachleitung bezügliche Anordnung, gegen die nach § 238 Abs. 2 StPO eine Entscheidung des Gerichts herbeigeführt werden kann (Senatsbeschluss vom 21. Juni 2022 – 5 Ws 118/22 – juris m.w.N.). Anders als bei § 238 Abs. 2 StPO ist es bei Einhaltung der Zuständigkeitsvoraussetzungen daher nicht möglich, dass es im Ergebnis zu einer von der Entscheidung des Vorsitzenden abweichenden Beschlussfassung kommt.

Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die in Bezug genommene höchstrichterliche Rechtsprechung nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen. Gegenstand der Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Jahr 2003 war nicht – wie hier – die Ablehnung der Bestellung eines Pflichtverteidigers, sondern dessen Bestellung. Hier sei der Verstoß – so der Bundesgerichtshof – angesichts der „Bedeutung einer ordnungsgemäßen Verteidigung“ unschädlich. Das Bundesverwaltungsgericht ging in seiner Entscheidung im Jahr 1969 bei der Bestellung eines Pflichtverteidigers von einer Auffangzuständigkeit des Gerichts nach § 238 Abs. 2 StPO im Rahmen der Hauptverhandlung aus.

b) Eine von dem Grundsatz des § 309 Abs. 2 StPO abweichende Zurückverweisung an die Vorsitzende der kleinen Strafkammer ist nicht geboten. Nachdem die zuständige Vorsitzende an der Entscheidung mitgewirkt hat, ist willkürliches Verhalten des Gerichts nicht erkennbar. Bei einer alleinigen Entscheidung durch die Vorsitzende wäre der Senat gleichermaßen für die Entscheidung über die Beschwerde zuständig gewesen. Damit wird dem Beschwerdeführer auch keine weitere Instanz genommen.

c) In der Sache war der Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers unbegründet. Ein Fall der notwendigen Verteidigung war nicht gegeben. …..