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Rechtsmittel I: Abwesenheits-HV statt Verwerfung, oder: Beruhen und Besserstellung

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Und dann heute drei Entscheidungen zu Rechtsmitteln, und zwar dreimal OLG.

Ich starte mit dem OLG Köln, Urt. v. 08.11.2022 – 1 RVs 116/22. Da hatte das Berufungsgericht in Abwesenheit des Angeklagten zur Sache, anstatt die Berufung gemäß § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen. Das war mit der Revision gerügt worden. Das OLG sagt: Die erhobene Verfahrensrüge ist nicht ausreichend begründet:

„Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Die Verfahrensrüge des § 338 Ziff. 5 StPO ist bereits nicht in zulässiger Weise ausgeführt.

a) Ihr liegt das folgende Verfahrensgeschehen zugrunde:

Für den Angeklagten hatte sich im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom 29. Oktober 2021 Rechtsanwalt A als Verteidiger bestellt und angekündigt, in Kürze eine Vollmacht nachreichen zu wollen. Mit Beschluss vom 10. November 2021 ist er auf seinen Antrag zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt worden.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 2. März 2022 war der Angeklagte nicht anwesend. Die Berufungshauptverhandlung ist durchgeführt worden, nachdem der Verteidiger eine Vollmacht vom 27. Oktober 2021 vorgelegt hatte.

b) Die Rüge genügt nicht den aus § 344 Abs. 2 S. 2 StPO sich ergebenden Begründungsanforderungen.

aa) Richtig ist zwar, dass ohne den Angeklagten eine Sachverhandlung nicht durchgeführt werden durfte. Mit der Beiordnung des bisherigen Wahlverteidigers als Pflichtverteidiger endet nämlich – entsprechend § 168 BGB – das Mandat. Bei fortbestehendem Willen des Angeklagten, sich von dem nunmehrigen Pflichtverteidiger vertreten zu lassen, ist die Erteilung einer neuen, den Anforderungen des § 329 StPO genügenden Vollmacht vonnöten (SenE v. 15.04.2016 – III-1 RVs 55/16 -; SenE v. 08.07.2016 – III-1 RVs 129/16; SenE v. 27.08.2021 – III-1 RVs 124/21 -). An einer solchen, nach Pflichtverteidigerbestellung erfolgten Bevollmächtigung fehlt es hier. Der Pflichtverteidiger durfte daher den Angeklagten in der Berufungshauptverhandlung nicht vertreten; seine Anwesenheit war nicht deswegen entbehrlich, weil er wirksam vertreten war.

bb) Dieser Umstand für sich genommen begründet freilich die erfolgreiche Rüge des § 338 Ziff. 5 StPO noch nicht.

(1) § 338 Ziff. 5 StPO sichert die Einhaltung derjenigen Vorschriften ab, die das Anwesenheitsrecht des Angeklagten, seine Teilnahme an der (Berufungs)Hauptverhandlung garantieren – namentlich hier die Vorschrift des § 230 Abs. 1 StPO (MüKo-StPO-Knauer/Kudlich, § 338 Rz. 84 m. N.). Die Vorschriften über die Anwesenheit des Angeklagten ihrerseits dienen der Wahrung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör und gewährleisten seine allseitige und umfassende Verteidigung (Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 65. Auflage 2022, § 230 Rz. 3). Eine Verhandlung ohne den Angeklagten birgt die Gefahr eines sachlich unrichtigen Urteils (vgl. SenE v. 05.10.2010 – III-1 RVs 179/10 -; SenE v. 21.06.2011 – III-1 RVs 145/11 -; SenE v. 22.11.2011 – III-1 RVs 275/11 -; SenE v. 12.03.2013 – III-1 RVs 21/13; SenE v. 06.03.2020 – III-1 RVs 38/20 -).

(2) Hätte die Berufungsstrafkammer aus dem Umstand, dass die Pflichtverteidigerbestellung nach Erteilung der Vollmacht erfolgt war, die zutreffenden prozessualen Konsequenzen gezogen, hätte sie die Berufung des Angeklagten gemäß § 329 Abs. 1 StPO ohne weitere Sachprüfung als unbegründet verwerfen müssen.

(3) Der oben skizzierte Zweck des § 338 Ziff. 5 StPO würde in sein Gegenteil verkehrt, wollte man annehmen, dass die Voraussetzungen dieser Vorschrift durch die Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer erfüllt würden. Denn dadurch, dass die Berufungsstrafkammer in eine Sachverhandlung eingetreten ist, ist dem Angeklagten ein Mehr an rechtlichem Gehör zugewachsen, als dies im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO der Fall gewesen wäre. Der mit einer Vertretungsvollmacht ausgestattete Verteidiger gibt nämlich Erklärungen so ab, als rührten diese vom Angeklagten selbst her (s. nur OLG Hamm B. v. 24.11.2016 – 5 RVs 82/16 = BeckRS 2016, 111318 Tz. 19). Er kann damit – wie der Angeklagte selbst im Falle seiner Anwesenheit – Einfluss auf den Gang der Berufungshauptverhandlung und die Entscheidung des Gerichts nehmen.

Diese schon generell gegebene Möglichkeit der Einflussnahme aufgrund der Wahrnehmung des rechtlichen Gehörs durch den – so (also über die bloße Verteidigerstellung hinaus) hierzu freilich nicht ermächtigten – Verteidiger wird im vorliegenden Fall umso mehr sinnfällig, als die Berufungsstrafkammer eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorgenommen hat, die zugunsten des Angeklagten zu einer straffen Zusammenziehung der Einzelstrafen geführt hat und zu der es im Falle der Berufungsverwerfung gemäß § 329 Abs. 1 StPO nur im nachträglichen Beschlussverfahren gemäß § 460 StPO – mit ungewissem Ausgang – hätte kommen können.

Die prozessordnungswidrige Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer hat hier also im Ergebnis dazu geführt, dass der Angeklagte nicht nur potentiell, sondern auch tatsächlich bessergestellt worden ist, als er gestanden hätte, hätte die Berufungsstrafkammer aus der zwischenzeitlichen Pflichtverteidigerbestellung die zutreffenden Konsequenzen gezogen.

(4) In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die Reichweite der absoluten Revisionsgründe des § 338 StPO dann einzuschränken sein kann, wenn ein Beruhen des Urteils auf der Rechtsverletzung denkgesetzlich ausgeschlossen ist. Das wird für den Fall des § 338 Ziff. 5 StPO etwa dann angenommen, wenn die Abwesenheit einen nur unwesentlichen Teil der Hauptverhandlung betrifft (BGH NStZ 2011, 233).

Von einem im strengen Sinne denkgesetzlichen Ausschluss des Beruhens wird man im vorliegenden Fall nicht ausgehen können. Dass im Falle prozessordnungsgemäßen Vorgehens der Berufungsstrafkammer zu erlassende Verwerfungsurteil hätte nämlich dann nicht ergehen dürfen bzw. hätte mit der Revision oder dem Antrag auf Wiedereinsetzung dann erfolgreich angegriffen werden können, wenn – etwa – der Angeklagte genügend entschuldigt gewesen wäre. Das hätte ihm gegebenenfalls eine Sachverhandlung nunmehr in seiner Anwesenheit eröffnet. Wäre von einer solchen Sachlage auszugehen, würde das in Abwesenheit des Angeklagten ergangene Sachurteil auch zu seinem Nachteil auf dem Übergehen der nachträglichen Pflichtverteidigerbestellung beruhen können.

Zu der danach inmitten stehenden Frage, was geschehen wäre, hätte die Berufungsstrafkammer auf die zwischenzeitliche Pflichtverteidigerbestellung und die sich aus ihr ergebenden Konsequenzen hingewiesen, schweigt die Revisionsbegründung indessen. Grundsätzlich ist der Revisionsführer zwar zu Ausführungen zur Beruhensfrage nicht gehalten (BGH NStZ 2013, 536). Hier verhält es sich jedoch anders: So wie sich das Verfahrensgeschehen nach dem Vortrag in der Revisionsbegründung darstellt, gelten die vorstehend dargestellten Überlegungen uneingeschränkt. Wollte man zu einer abweichenden Sichtweise gelangen, bedürfte es Vortrag, der nach Lage der Dinge ausschließlich aus der Sphäre des Angeklagten stammen könnte und dann eben – ausnahmsweise – die Frage beträfe, ob das angefochtene Urteil auf der prozessordnungswidrigen Verfahrensweise der Berufungsstrafkammer beruht.

 

OWi I: OLG Köln hebt AG Schleiden (leider) auf, oder: Kein „fair-trial-Verstoß“ bei fehlenden Rohmessdaten

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Ich hatte am Nikolaustag über das dem AG Schleiden, Urt. v, 02.09.2022 – 13 OWi-304 Js 802/22-179/22 berichtet (vgl. AG I: Geschwindigkeitsmessung mit ESO ES 8.0, oder: Nichtspeicherung von Daten verstößt gegen “fair trail”).

Am Ende des Beitrags hieß es: „Ich bin gespannt, was das OLG Köln, bei dem die Rechtsbeschwerde anhängig ist, macht.“. Inzwischen hat das OLG Köln „gemacht“ – und: Mich überrascht es nicht, was das OLG Köln „gemacht“ hat. Denn es wäre zu schön gewesen, wenn sich das OLG der Auffassung des AG angeschlossen und die Rechtsbeschwerde verworfen hätte. Das hat das OLG nicht „gemacht“, sondern es hat im OLG Köln, Beschl. v. 16.12.2022 – 1 RBs 371/22 -, den mir der 1. Bußgeldsenat des OLG Köln gestern übersandt hat, ein AG-Urteil, das eine ähnliche Problematik hatte, aufgehoben. Schade, aber man hat zumindest ein paar Tage träumen dürfen.

Was das OLG – nach Zulassung der Rechtsbeschwerde – ausführt, überrascht (auch) nicht und setzt sich m.E. nicht wirklich nicht mit den Argumenten des AG auseinander. Vorgetragen wird im Grunde das Argument: Das macnehn alle so:

„Das gemäß § 79 Abs. 1 Nr. 3 OWiG als Rechtsbeschwerde statthafte und zulässige Rechtsmittel hat Erfolg.

Die Urteilsgründe tragen den Freispruch nicht. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts liegt kein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens vor. Auch Messungen mit Geräten, bei denen Messdaten nicht gespeichert werden, sind verwertbar. Das verwendete Messgerät ESO ES 8.0 ist ein von der Physikalisch Technischen Bundesanstalt zugelassenes Lichtschrankenmessgerät und als standardisiertes Messverfahren anerkannt. Die Bauartzulassung durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt indiziert bei Einhaltung der Vorgaben der Bedienungsanleitung und Vorliegen eines geeichten Gerätes die Richtigkeit des gemessenen Geschwindigkeitswertes. Ob dabei sogenannte Rohmessdaten gespeichert werden oder nicht, ist irrelevant. Dieser Auffassung des OLG Oldenburg (Beschluss vom 09.09.2019, 2 Ss (OWi) 233/19, juris) haben sich nahzu alle Obergerichte einschließlich des Senats angeschlossen (Bayerisches Oberstes Landesgericht, Beschluss vom 09.12.2019, 202 ObOWi 1955/19, juris; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.02.2020, 1 OWi 2 SsBs 122/19, juris und Beschluss vom 01.12.2021, 1 OWi 2 SsBs 100/21; OLG Hamm, Beschluss vom 25.11.2019, 3 RBs 307/19, juris; Hanseatisches OLG in Bremen, Beschluss vom 06.04.2020, 1 SsRs 10/20, juris; Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 23.09.2020, 1 OLG 171 SsRs 195/19; Senat, Beschluss vom 27.09.2019, III-1 RBs 339/19).“

Dem stimmt der Senat zu und schließt sich im Übrigen den Gründen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken vom 01.12.2021, Az. 1 OWi 2 SsBs 100/21, zitiert nach juris, Rn. 14 ff., an. Soweit der vorbezeichneten Entscheidung eine Geschwindigkeitsmessung mit dem Messgerät Poliscan FM1, Softwareversion 4.4.9. zugrunde liegt, sind die dortigen Erwägungen, insbesondere Rn. 17 ff., auf die vorliegend verfahrensgegenständliche Messung mit der mobilen Geschwindigkeitsmessanlage des Typs ESO ES 8.0. übertragbar. Nach den Feststellungen des Amtsgerichts war das vorliegend zum Tatzeitpunkt am 27.05.2021 verwendete Messgerät mit der Softwareversion 1.1.0.2. ausgestattet, deren „Rohmessdaten“ seit der 3. Revision (28.02.2020) der von der Konformitätsbewertungsstelle der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) ausgestellten Baumusterprüfbescheinigung nicht mehr gespeichert werden. Indes kommt dem Umstand, dass das vorbezeichnete Messgerät – anders als bei früheren Softwareversionen – keine sog. „Rohmessdaten“ mehr speichert, aus den Gründen der Entscheidung des Oberlandesgerichts Zweibrücken, a.a.O., keine rechtliche Relevanz zu. Da die in Rede stehenden Messdaten der verfahrensgegenständlichen Messung zu keinem Zeitpunkt gespeichert und demgemäß auch weder der Bußgeldbehörde noch dem Gericht zur Verfügung standen, beanspruchen die Gründe der Senatsentscheidung vom 27.09.2019 (Az. III-1 RBs 339/19, DAR 2019, 695), an denen der Senat festhält, auch in dieser Konstellation Geltung. Davon ausgehend ist auch die Annahme des Tatgerichts, Daten seien „mutwillig unterdrückt“ worden, nicht gerechtfertigt.“

Pflichti II: Entpflichtung des Pflichtverteidigers, oder: häufige Verhinderung, gestörtes Vertrauen, Ermessen

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Im zweiten Posting stelle ich drei Entscheidungen zur Entpflichtung vor, und zwar einmal BGH, einmal OLG Köln und einmal LG Hamburg. Ich stelle hier aber nur die Leitsätze der Entscheidungen ein. Die genauen Einzelhieten dann bitte ggf. in den verlinkten Volltexten nachlesen. Hier kommen dann.

Es ist aus einem „sonstigen Grund keine angemessene Verteidigung des Beschuldigten gewährleistet, wenn der Pflichtverteidiger an acht von 16 Hauptverhandlungstagen verhindert ist. Bei der Prüfung der insoweit maßgeblichen Grundsätze ist das Interesse des Angeklagten an der Beibehaltung des bisherigen, terminlich verhinderten Pflichtverteidigers gegenüber der insbesondere in Haftsachen gebotenen Verfahrensbeschleunigung abzuwägen.

    1. Das Strafverfahren im Sinne von § 143 Abs. 1 StPO umfasst auch dem Urteil nachfolgende Entscheidungen, die den Inhalt des rechtskräftigen Urteils zu ändern oder zu ergänzen vermögen. Hierzu gehören auch Entscheidungen nach § 57 JGG.
    2. Liegen die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Bestellung eines Pflichtverteidigers vor, ist diese grundsätzlich gemäß § 143 a Abs: 1 Satz 1 StPO vorzunehmen. Ein Ermessen des Vorsitzenden des Gerichts, die Bestellung eines Verteidigers gleichwohl fortdauern zu lassen, besteht schon nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht.
    1. Der Beschuldigte muss die für eine etwaige Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses sprechenden Umstände, die zu einer Entpflichtung des Pflichtverteidigers führen soll,  hinreichend konkret vorbringen. Pauschale, nicht näher belegte Vorwürfe rechtfertigen, eine Entpflichtung nicht.
    2. Hinsichtlich des Entpflichtungsantrag eines Verteidigers gilt, dass die Frage, ob das Vertrauensverhältnis endgültig gestört ist, vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten aus zu beurteilen ist. Der Beschuldigte soll die Entpflichtung nicht durch eigenes Verhalten erzwingen können. Ein im Verhältnis des Beschuldigten zum Verteidiger wurzelnder wichtiger Grund ist deshalb regelmäßig nicht anzuerkennen, wenn dieser Grund allein vom Beschuldigten verschuldet ist.

 

OWi II: Feststellungen zur Bemessung der Geldbuße, oder: Wenn der Betroffene nicht anwesend ist

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Im zweiten Posting des Tages stelle ich den OLG Köln, Beschl. v. 15.07.2022 – 1 RBs 198/22 – vor. Der nimmt noch einmal zu den Anforderungen an die Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen bie höheren Geldbußen Stellung. Das AG hatte die Regelbuße von 160 EUR wegen Vorbelastungen des Betroffenen auf 320 EUR erhöht, ohne nähere Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen zu treffen. Das hat das OLG nicht beanstandet:

„Den Bestand des Urteils gefährdet namentlich nicht der Umstand, dass das Tatgericht hier, ohne Feststellungen zu den wirtschaftlichen Verhältnissen des Betroffenen getroffen zu haben, eine – vom Regelsatz nach oben abweichende – Geldbuße in Höhe von 320,- EUR verhängt hat. Maßgeblich ist insoweit, dass das Amtsgericht die Bemessung der Geldbuße nicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse, sondern, insoweit rechtsfehlerfrei, auf die in den Urteilsgründen dargestellten Vorbelastungen des Betroffenen gestützt hat und eine Pflicht zur Aufklärung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen nicht – auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit – bestand. Im Einzelnen:

Bei höheren Geldbußen (vgl. dazu unten näher) sind die wirtschaftlichen Verhältnisse grundsätzlich ein Bemessungsfaktor. Hierunter fallen Umstände, die geeignet sind, die Fähigkeit des Betroffenen zu beeinflussen, eine bestimmte Geldbuße zu erbringen. Maßgeblich ist, ob die sich nach Bedeutung der Tat und Schwere des Vorwurfs ergebende Geldbuße auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entspricht, mithin im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Betroffenen nicht übermäßig hoch, aber auch nicht unangemessen niedrig ist (vgl. dazu nur SenE v. 13.11.2003 – Ss 447/03). Von der Leistungsfähigkeit hängt es ab, wie empfindlich und damit nachhaltig die Geldbuße den Täter trifft (vgl. Göhler, OWiG, 18. Auflage, § 17 Rn. 21 ff.).

Nach Maßgabe dessen hat das Tatgericht im Hinblick auf § 17 Abs. 3 OWiG grundsätzlich Feststellungen zu treffen, die dem Rechtsbeschwerdegericht die Überprüfung ermöglichen, ob es von rechtlich zutreffenden Erwägungen ausgegangen ist und von seinem Ermessen rechtsfehlerfrei Gebrauch gemacht hat. Die obergerichtliche Rechtsprechung lässt jedoch einige Einschränkungen dieses Grundsatzes zu. So ist zwischenzeitlich anerkannt, dass im Hinblick auf den in § 79 Abs. 1 Nr. 1 normierten Schwellenwert von 250,- EUR – zu dem vorliegend offen bleiben kann, ob er im Lichte der seit seiner Festschreibung gewachsenen Kaufkraft noch angemessen ist – eine Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse entbehrlich ist, wenn das Bußgeld diesen Betrag nicht übersteigt und keine Besonderheiten vorliegen (vgl. dazu SenE v. 09.11.2012 – III-1 RBs 276/12 -; SenE v. 08.04.2014 – III-1 RBs 73/14 -; SenE v. 22.05.2020 – III-1 RBs 144/20 -; SenE v. 13.11.2020 – III-1 RBs 322/20 –; sowie etwa OLG Braunschweig, Beschluss vom 8.12.2015, 1 Ss (OWi) 163/15, m.w.N., juris; OLG Hamm, Beschluss v. 08.01.2015, III-3 RBs 354/14, juris). Nichts anderes gilt nach Auffassung des Senats bei Geldbußen über 250,- EUR, solange die im Bußgeldkatalog vorgesehene Regelgeldbuße verhängt wird und sich keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen außergewöhnlich gut oder schlecht sind (vgl. nur SenE v. 25.06.1999 – Ss 264/99 B – m. w. Nachw. = VRS 97, 381 [383]; SenE v. 21.10.2011 – III-1 RBs 298/11 -; SenE v. 13.11.2020 – III-1 RBs 322/20) und zwar auch dann, wenn auf den für eine vorsätzliche Begehungsweise nach § 3 Abs. 4a BKatV vorgesehenen Regelsatz erkannt wird (vgl. dazu jüngst SenE v. 06.07.2021, III-1RBs 169/21).

Aber auch in dem vorliegenden Fall der Erhöhung der Regelgeldbuße auf Grund von Eintragungen über den Betrag von 250,- EUR hinaus war das Amtsgericht nicht zu Feststellungen hinsichtlich der wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen gehalten, denn dieser hat, von der Pflicht zum persönlichen Erscheinen entbunden, ausweislich der Urteilsgründe – auch über seinen Verteidiger – zu seinen diesbezüglichen Verhältnissen keine Angaben gemacht. Dabei ist maßgeblich in den Blick zu nehmen, dass sich der Betroffene in Kenntnis des Vorwurfes und der im Bußgeldbescheid vorgesehenen (hier nicht unerheblichen) Rechtsfolgen mit seinem Antrag nach § 73 Abs. 2 OWiG bewusst die Möglichkeit genommen hat, Umstände vorzutragen, die eine abweichende Beurteilung hätten begründen können und sei es nur deshalb, weil der Verteidiger nicht entsprechend instruiert worden ist.

Soweit der Senat wiederholt entschieden hat, das Tatgericht müsse in dem Zusammenhang bereits den Entbindungsantrag gemäß § 73 Abs. 2 OWiG unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit der Anwesenheit des Betroffenen zur Aufklärung wesentlicher Gesichtspunkte des Sachverhalts (und insoweit der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse) näher überprüfen (vgl. etwa SenE v. 1.12.2020, III-1 RBs 341/20; SenE v. 13.11.2020, III-1 RBs 322/20), ist zu differenzieren: Eine entsprechende Prüfung dürfte regelmäßig nur (noch) bei höheren Geldbußen, namentlich solchen im vierstelligen Bereich, veranlasst sein.

Im Übrigen geht der Senat – für die hier vorliegende Konstellation der Entbindung des Betroffenen und des Fehlens von Anzeichen hinsichtlich seines sozialen Status – davon aus, dass die Amtsaufklärungspflicht des Tatrichters bezüglich der wirtschaftlichen Verhältnisse regelmäßig erst durch eigenen Sachvortrag des Betroffenen ausgelöst wird (vgl. dazu auch – weitergehend – KG Berlin, Beschluss vom 27. 04.2020 – 3 Ws (B) 49/20 m.w.N., juris; OLG Bremen, Beschluss v. 27.10.2020, 1 SsBs 43/20, juris).“

Fazit: Als Verteidiger muss man diese Fragen im Blick haben und dem Mandanten ggf. von einem Entbindungsantrag abraten bzw. darauf achten, dass man selbst vom Mandanten genügend Informationen erhält, um in der Hauptverhandlung in Abwesenheit des Mandanten zu dessen wirtschaftlichen Verhältnissen vortragen zu können.

Rechtsbeschwerde II: Wenn Messunterlagen fehlen, oder: Anforderungen an die Verfahrensrüge

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In der zweiten Entscheidung, dem OLG Köln, Beschl. v. 29.04.2022 – III-1 RBs 97/22 – nimmt das OLG Köln noch einmal Stellung zur Begründung der Rechtsbeschwerde, mit der geltend gemacht wird, dass vom AG Messunterlagen nicht beigezogen worden sind. Das OLG führt aus – was nicht überrascht:

„1. Die Rüge der Beschränkung der Verteidigung in einem wesentlichen Punkt durch Gerichtsbeschluss (§§ 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 338 Ziff. 8 StPO) ist bereits nicht in einer § 344 Abs. 2 S. 2 StPO genügenden Weise ausgeführt.

Mit ihr wird beanstandet, dass der Verteidigung „Messunterlagen“ nicht zur Verfügung gestellt worden seien und namentlich ein auf Vervollständigung der Akte mit weiteren „Messunterlagen“ abzielender Antrag der Verteidigung auf Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu Unrecht abgelehnt worden sei.

a) Bedenken gegen die Zulässigkeit der Rüge erweckt bereits der Umstand, dass die Rechtsbeschwerde einen Beschluss des Amtsgerichts Kerpen vom 13. Juli 2021 Bedeutung bemisst (S. 3 Mitte der Rechtsbeschwerdebegründung), ohne dessen Inhalt mitzuteilen.

b) Dem in offener Begründungsfrist zur Akte gelangten Vorbringen mangelt es aber jedenfalls an einer ausreichenden Klarstellung der Angriffsrichtung der Rechtsbeschwerde (dazu allg. Meyer-Goßner/Schmitt-Schmitt, StPO, 64. Auflage 2020, § 344 Rz. 20).

Nach diesem hatte der Verteidiger bereits gegenüber der Verwaltungsbehörde die streitgegenständliche Messung betreffende Unterlagen (s. insbesondere S. 2 unten der Rechtsbeschwerdebegründung) angefordert. Weiter ergibt sich, dass dem Verteidiger bzw. dem von diesem beauftragten Sachverständigen Messunterlagen – namentlich die die Messung der Betroffenen betreffenden so genannten „Rohmessdaten“ – zur Verfügung gestellt worden sind. Vor diesem Hintergrund wäre die Rechtsbeschwerde gehalten gewesen, im Einzelnen darzulegen, welche Unterlagen zur Verfügung gestellt worden sind und welche Unterlagen noch vermisst wurden und werden. Daran fehlt es. Vielmehr spricht die Rechtsbeschwerdebegründung nahezu durchgängig allgemein von „Unterlagen“, „Messunterlagen“, „Daten“ und „Auskünften“. Von den nunmehr – mit Schriftsatz vom 21. April 2022 – in den Fokus gerückten Rohmessdaten der gesamten Messreihe ist lediglich an einer Stelle der Rechtsbeschwerdebegründung, nämlich auf S. 7 2. Abs. und lediglich im Kontext mit angeblich nicht bestehenden datenschutzrechtlichen Bedenken im Falle von deren Herausgabe die Rede. Dass speziell die Vorlage dieser Daten vermisst wird, ergibt sich hieraus nicht.

Der Verteidiger hat auch die Auseinandersetzung mit dem Beschluss des Amtsgerichts Kerpen vom 24. August 2021 nicht zum Anlass genommen, im vorbezeichneten Sinne klarzustellen, welche Unterlagen im Zeitpunkt des Aussetzungsantrags noch vermisst wurden. Auch in diesem Zusammenhang ist wiederum lediglich allgemein von „Messunterlagen“ bzw. „amtlichen Unterlagen“ die Rede. Ob die Verwendung des Begriffs „Einzelmesswerte“ (S. 12, 3. Abs.) sich auf die Herausgabe der gesamten Messreihe beziehen soll, bleibt angesichts des Kontextes mit einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Blutalkoholkonzentration unklar….“