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Kollision falscher Linksabbieger/Überholer: 100 % beim Linksabbieger

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Hat ein Linksabbieger sich nicht ordnungsgemäß zum Linksabbiegen eingeordnet, sondern befand er sich zu dem Zeitpunkt, als er zum Linksabbiegen ansetzte, noch am rechten Fahrbahnrand, so haftet er im Falle einer Kollision mit einem überholenden Fahrzeug allein. So hat das OLG Frankfurt im OLG Frankfurt, Urt v. 26.01.2016 – 7 U 189/13 – entschieden. Begründung:

„Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten kein Schadensersatzanspruch zu. Die vom Landgericht vorgenommene Haftungsverteilung von 100 : 0 ist angesichts der feststehenden groben Fahrverstöße seitens der Klägerin sachgerecht. Allein die höhere Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs rechtfertigt keine andere Beurteilung; sie tritt vielmehr zurück.

Nach den Feststellungen des Landgerichts, an deren Richtigkeit und Vollständigkeit keine Zweifel bestehen, so dass der Senat hieran gebunden ist, hat die Klägerin gegen die ihr obliegenden erhöhten Sorgfaltsanforderungen gemäß § 9 StVO verstoßen. Die Klägerin hat sich entgegen § 9 Abs. 1 StVO nicht ordnungsgemäß zum Linksabbiegen eingeordnet. Das klägerische Fahrzeug befand sich vielmehr am rechten Fahrbahnrand, als es plötzlich zum Linksabbiegen ansetzte. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Beklagten zu 3) bereits zum Überholen angesetzt. Letzteres wäre ihm auch gefahrlos aufgrund der sich verbreiternden Fahrbahn möglich gewesen. Bei Beachtung der erforderlichen Rückschaupflicht hätte die Klägerin den Unfall durch Abbrechen des Abbiegevorgangs vermeiden können. Dass die Klägerin – zudem rechtzeitig – den linken Fahrtrichtungsanzeiger betätigt hat, hat sie nicht beweisen können. Angesichts dessen hat das Landgericht auch zu recht einen eigenen haftungsbegründenden Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 3) verneint. Die Ausführungen in der Berufung rechtfertigen keine andere Beurteilung. Es lag keine unklare Verkehrslage im Sinne des § 5 StVO vor. Zwar hat die Klägerin nach den Feststellungen des Sachverständigen ihre Geschwindigkeit von ca. 35 km/h auf ca. 10 km/h kurz vor der Kollision herabgesetzt. Dies allein begründet jedoch für den Beklagten zu 3) nicht die Annahme einer unklaren Verkehrslage.

Eine unklare Verkehrslage liegt vor, wenn der Überholende nach den gegebenen Umständen mit einem ungefährlichen Überholvorgang nicht rechnen darf, d.h. wenn die Verkehrslage unübersichtlich ist. Bei einer Verlangsamung des Vorausfahrenden kommt es insoweit auf die konkrete Verkehrssituation und die Örtlichkeit an. Nur wenn diese geeignet sind, Zweifel über die beabsichtigte Fahrweise des Vorausfahrenden aufkommen zu lassen, kommt eine unklare Verkehrslage in Betracht (vgl. OLG München, Urteil vom 9.11.2012, Az.: 10 U 1860/12; KGR Berlin 2003, 169). Vorliegend fuhr die Klägerin jedoch am äußersten rechten Fahrbahnrand, an dem sich ausweislich der seitens des Sachverständigen gefertigten Lichtbilder Parkbuchten befanden. Des Weiteren verbreitert sich die Straße in jenem Bereich bereits dergestalt, dass – auch wenn noch nicht durch Markierung getrennt – bereits zwei Fahrspuren für den gleichgerichteten Verkehr zur Verfügung stehen. Wie der Sachverständige bei seiner Anhörung vor dem Landgericht ausgeführt hat, kann man ab ca. 20 Meter bezogen auf den roten PKW – so wie in der Skizze Blatt 16 seines Gutachtens eingezeichnet – gefahrlos den Einordnungsvorgang für den späteren Spurverlauf, der in eine Links- und eine Rechtsabbiegerspur mündet, vornehmen und auch gefahrlos in dieser Konstellation aneinander vorbeifahren. Dem entsprechend hatte sich der Beklagte zu 3) auch nach links eingeordnet. Damit, dass die Klägerin entgegen ihrer eindeutigen Einordnung zum rechten Fahrbahnrand plötzlich nach links abbiegen würde, musste er nicht rechnen. Die Klägerin kann sich insoweit nicht darauf berufen, der Beklagte zu 3) – der vermutet habe, die Klägerin suche rechts neben der Fahrbahn einen Parkplatz – habe zu keinem Zeitpunkt bekundet, dass diese nach rechts geblinkt habe. Abzustellen ist allein auf die objektiven Umstände, nicht auf das Gefühl des Überholwilligen.

Der Beklagte zu 3) ist auch nicht mit unangepasster, überhöhter Geschwindigkeit gefahren. Nach den Feststellungen des Sachverständigen betrug die Geschwindigkeit ca. 40 bis 45 km/h.“

Auch die StA „kann nicht immer Aufklärungs- = Verfahrenrüge“

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Auch die Staatsanwaltschaft „kann nicht immer Aufklärungs = Verfahrensrüge“. Das ist das Fazit aus dem OLG Frankfurt, Beschl. v. 18.03.2016 – 1 Ss 356/15. In der Revision hatte die Staatsanwaltsschaft die Aufklärungsrüge erhoben und beanstandet, dass im Verfahren – es ging um einen Verstoß gegen das WaffG – die Schusswaffe, die Verfahrensgegenstand war, hätte in Augenschein genommen werden müssen. Nicht ordnungsgemäß erhoben, aber auch unbegründet, sagt das OLG:

„2. Die Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft ist sowohl unzulässig als auch unbegründet.

Die Beanstandung gründet sich darauf, dass das Gericht die besagte Schusswaffe hätte in Augenschein nehmen müssen und ein Gutachten zur Frage hätte erstellen lassen müssen, ob die Identifizierung der Waffe als Schusswaffe durch den Angeklagten möglich gewesen wäre. Das Landgericht hätte damit seine Pflicht aus § 244 Abs. 2 StPO verletzt.

a) Zur wirksamen Erhebung der Verfahrensrüge bedarf es der eindeutigen Bezeichnung des Antrages, sei es als Beweisantrag oder als Beweisermittlungsantrag. Diese Frage lässt die Revisionsführerin ausdrücklich offen. Zur den Förmlichkeiten des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entsprechenden Anbringung einer Verfahrensrüge gehört aber auch, dass sich der Revisionsführer festlegt, welche Art von Antrag in der Tatsacheninstanz gestellt wurde und wie durch die Ablehnung Verfahrensrecht verletzt worden ist. Eine allgemeine Verfahrensrüge sieht das Gesetz gerade nicht vor.

b) Zudem ist die Verfahrensrüge auch deshalb unzulässig, weil die Staatsanwaltschaft nicht ausreichend darlegt, warum sich die Inaugenscheinnahme der Waffe und die Einholung eines Sachverständigenbeweises hätte aufdrängen müssen. Dies ist aber bei einer Aufklärungsrüge notwendig.

Es ist insbesondere nicht ausreichend, darauf zu verweisen, dass sich spätestens durch die Anträge im Plädoyer eine weitere Beweisaufnahme hätte aufdrängen müssen. Denn wenn dies zutreffen würden, würde schon jeder Beweis(ermittlungs)antrag dazu führen, dass sich eine weitere Beweisaufnahme aufdrängte mit der Folge, dass das Tatgericht nach § 244 Abs. 2 StPO zu einer weiteren Sachaufklärung verpflichtet wäre. Die differenzierten Regelungen des § 244 Abs. 376 StPO über die Ablehnung von Beweisanträgen wären dann überflüssig.

c) Bei dieser Sachlage kommt es nicht mehr darauf an, dass die Revisionsführerin das Beruhen des Urteils auf dem gerügten Verfahrensfehler jedenfalls dann nicht hinreichend deutlich gemacht hat, wenn man entsprechende, ins Einzelne gehende Ausführungen verlangen würde (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 344 Rn. 27). Die Staatsanwaltschaft führt lediglich aus, dass das Landgericht „möglicherweise“ zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Für die zulässige Erhebung der Verfahrensrüge muss allerdings mit Bestimmtheit dargelegt werden, zu welchem Ergebnis das Gericht bei der beantragten Untersuchung gekommen wäre und warum die Beweisführung des Tatrichters unzureichend war. Daran fehlt es.

d) Überdies wäre die Verfahrensrüge selbst bei ordnungsgemäßer Erhebung unbegründet, denn hinsichtlich der Inaugenscheinnahme besteht kein Surrogationsverbot. Das Landgericht konnte daher auch Bilder der Waffe nutzen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 244 Rn. 78). Einen Sachverständigenbeweis mit der Frage zu erheben, ob der Angeklagte konkrete Kenntnisse über bestimmte Tatsachen hatte, ist auch völlig ungeeignet. Der Sachverständige dient nicht dazu, dem Gericht die rechtliche Bewertung der inneren Tatseite abzunehmen (Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., § 244 Rn. 74a).“

Mit der Sachrüge hatte die Staatsanwaltschaft aber dann Erfolg. Die ist ja auch einfach(er) 🙂 .

OLG Frankfurt macht das „nächste Faß auf“: Fahrverbot aufgrund einer „hypothetischen Überlegung“?

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Und als dritte OWi-Entscheidung des heutigen Tages(vgl. schon den OLG Stuttgart, Beschl. v. 25.04.2016 – 4 Ss 212/16 und dazu Aufweichung beim Handyverbot, wirklich?, oder: Neue „Verteidigungsansätze“?  und den OLG Oldenburg, Beschl. v. 18.04.2016 – 2 Ss (OWi) 57/16 und dazu Eine „Zähne und Klauen-Entscheidung aus Oldenburg, oder: Die PTB, die PTB, die PTB hat immer Recht) eine weitere Entscheidung des OLG Frankfurt. Ja, das sind die, die die Geschichte mit dem „antizipierten Sachverständigengutachten“ angefangen haben.

Und das OLG macht im OLG Frankfurt am Main, Beschl. v. 27.01.2016 – 2 Ss-OWi 893/15 – erneut ohne Not das Faß an einer Stelle auf, die bisher in der OLG-Rechtsprechung unbestritten war, meine ich jedenfalls und ich habe – glaube ich – einen ganz guten Überblick.

In dem Beschluss geht es um die Folgen eines Verstoßes gegen Richtlinien zur Verkehrsüberwachung auf ein drohendes Fahrverbot. Auf den ersten Blick scheint in der Entscheidung des OLG nichts Neues zur Auswirkung einer Unterschreitung des in den Verwaltungsrichtlinien vorgeschriebenen Messabstands auf die Anordnung des Fahrverbots zu stecken (vgl. dazu näher Deutscher, in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 4. Aufl. 2015, Rn. 1661 ff.). Die Leitsätze des OLG.

1. Die Richtlinien zur Verkehrsüberwachung sind sog. Verwaltungsinnenrecht und entfalten keine unmittelbare Außenwirkung.

2. Für Verkehrsteilnehmer ist eine Geschwindigkeitsbeschränkung ab Bekanntgabe des Verwaltungsaktes (Verkehrsschild) wirksam und zu beachten.

3. Erfolgt die Messung unter einem nicht begründeten Verstoß gegen die Richtlinien zur Verkehrsüberwachung – hier in einem zu geringen Abstand zum Verkehrsschild – ist das für den festgestellten Geschwindigkeitsverstoß und damit für das festzusetzende Bußgeld grundsätzlich unbeachtlich.

4. Nur dann, wenn bei Einhaltung der Richtlinie die Indizwirkung des Fahrverbots entfallen würde, kann das Tatgericht bei entsprechender Begründung, aus Gründen der Gleichheit von der Verhängung eines Fahrverbotes absehen (sog. Wegfall des Handlungsunwerts).

So weit so gut, oder nicht? Nun, wohl nicht, denn das OLG führt (auch) aus:

Ist die Unterschreitung des Abstandes nach den Richtlinien nicht gerechtfertigt, muss das Amtsgericht darlegen, mit welcher Geschwindigkeit der Betroffene bei einer richtlinienkonform durchgeführten Messung – also in entsprechender Entfernung von dem die Geschwindigkeitsregelung ändernden Schild – gemessen worden wäre und ob eine ggfls. festzustellende Geschwindigkeitsüberschreitung den Tatbestand eines Regelfalles erfüllt hätte, der die Erforderlichkeit eines Fahrverbots indiziert.“

Das ist m.E. neu. Denn bisher hat noch kein OLG auf die hier geforderte hypothetische Überlegung zurückgegriffen, mit welcher Geschwindigkeit an derjenigen Stelle gefahren wurde, die dem vorgegebenen Messabstand entsprochen hätte. Danach müsste es – so das OLG – beim Fahrverbot bleiben, wenn die Geschwindigkeit an der hypothetischen Messstelle ihrerseits den Grenzwert für die Anordnung des Fahrverbots überschreitet.

Was soll das denn nun? Und ist das richtig bzw. kann man so vorgehen? M.E. nein, denn:

1. Der Verurteilung zugrunde gelegt werden kann als Tatsache auch bei dieser Überlegung nur der Messwert der vorgabenwidrig durchgeführten Messung vor. Für die „Feststellung“ der im Bereich davor gefahrenen Geschwindigkeit gibt es hingegen  keine Beweismittel. Dies bleibt selbst bei nicht nur geringfügiger Überschreitung des Fahrverbotsgrenzwerts reine Spekulation.

2. Zweitens kann es angesichts der erheblichen Eingriffswirkung eines Fahrverbots rechtlich nur auf die tatsächlich durchgeführte Messung und deren Bewertung ankommen, nicht auf eine an einer anderen Stelle möglicherweise gefahrenen Geschwindigkeit.

Fazit: M.E. falsch, da in diesen Fällen eine Verurteilung wegen einer höheren als der gemessenen Geschwindigkeit aufgrund einer „hypothetischen Überlegung“ erfolgt.

Wer im Bus fällt, haftet (mit), aber: Nicht immer

entnommen wikimedia.org Urheber Busbahnhof

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Urheber Busbahnhof

Jeder, der (auch nur gelegentlich) Bus fährt, weiß: Der Bus kann beim Fahren wacklen, und zwar sowohl beim Anfahren als auch während der Fahrt und auch beim Anhalten. Deshlab verpflichtet die Rechtsprechung die Fahrgäste, immer für die eigene Sicherheit zu sorgen und sich festen Halt zu verschaffen haben. Folge davon: Stürzt man, besteht ein Beweis des ersten Anscheins, dass der Sturz auf eine schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist. Diesen Bewesi des ersten Anscheins muss der Geschädigte substantiiert entkräften. Dazu ist es erforderlich, dass es an der sog. Typizität eines Geschehensablaufs fehlt. Und so hatte ein Schwerbehinderter „Glück“. Denn das OLG Frankfurt sagt im OLG Frankfurt, Urt. v. 17.11.2015, 12 U 16/14: Dieser Anscheinsbeweis ist entkräftet, wenn ein behinderter Fahrgast auf einem für Schwerbehinderte vorgesehenen Sitzplatz Platz genommen und sich an einem Handlauf als dafür vorgesehener Sicherheitsvorkehrung festgehalten hat.

Zu entscheiden war über folgenden Sachverhalt: Der Kläger hatte in einem „A-Bus“ „bei einer vom Fahrer durchgeführten Vollbremsung erhebliche Verletzungen erlitten. In dem A-Bus waren hinter dem Fahrer nur drei Sitzreihen angeordnet. In der ersten Reihe hinter dem Fahrersitz befinden sich zwei Sitzplätze nebeneinander. Der Fensterplatz ist Schwerbehinderten zugewiesen. Auf diesem Sitzplatz saß der Kläger, während die Zeugin Z3 den neben ihm befindlichen Sitzplatz zum Gang eingenommen hatte. Links neben dem Schwerbehindertenplatz ist ein Haltegriff angebracht an dem sich der Kläger mit seiner linken Hand festhielt und neben dem Gangplatz eine Haltestange (vgl. Foto Bl. 51), an der sich die Zeugin Z3 rechts festhielt. In der hinter diesen beiden Plätzen erhöht angeordneten Sitzreihe saß die Zeugin Z1. Diese hat sich ebenfalls an der Haltestange neben ihrem Sitz festgehalten. Weitere Fahrgäste befanden sich nicht in dem A-Bus. Aufgrund der Ausweichbewegung und Vollbremsung der Beklagten zu 1) flog die Zeugin Z1 nach vorne aus ihrem Sitz, kam mit ihrem Bauch über den vor ihr befindlichen Sitzplatz, um dann wieder zurück auf ihren Platz zu fallen. Der Kläger und die Zeugin Z3 rutschten aufgrund dieses Fahrmanövers der Beklagten zu 1) von ihren Sitzen auf den Boden, wobei der Kläger die beschriebene Verletzung erlitt.“

Dazu dann das OLG:

„3) Ein Mitverschulden des Klägers gemäß §§ 9 StVG, 254 BGB scheidet aus. Da Fahrgäste in Linienbussen sowohl beim Anfahren, während der Fahrt und auch beim Anhalten stets für die eigene Sicherheit zu sorgen und sich festen Halt zu verschaffen haben (§ 4 BefBedV), besteht ein Beweis des ersten Anscheins, dass ein Sturz während der Fahrt auf eine schuldhafte Verletzung der Pflicht zur Gewährleistung eines festen Halts zurückzuführen ist (OLG Dresden, 7 U 1506/13; OLG Naumburg, 1 U 129/12; OLG Bremen, 3 U 19/10; OLG Frankfurt, 14 U 209/09; 1 U 75/01; KG, 12 U 95/09, 12 U 30/10; OLG Köln, 2 U 173/90). Dieser Anschein ist von dem Geschädigten substantiiert zu entkräften, was dem Kläger hier gelungen ist, denn es fehlt an der Typizität eines Geschehensablaufs.

Alle (drei) Fahrgäste des A-Busses saßen und hatten sich Halt verschafft. Unabhängig von der tatsächlich gefahrenen Geschwindigkeit war hier von einem Bremsmanöver auszugehen, dass so stark war, dass alle in dem Bus befindlichen Fahrgäste in der beschriebenen Art und Weise von ihren Sitzen flogen (Z1) bzw. rutschten (Eheleute Z3). Der Kläger hat sich in dieser Situation sozialadäquat (Landgericht Freiburg, 6 O 217/13, RN 28) verhalten, da er auf dem Behinderten vorbehaltenen Sitz (§ 5 Abs. 1 und 2 BefBedV) Platz genommen und an dem hierfür vorgesehen Haltegriff festgehalten hatte. Schwerbehinderten steht ausdrücklich die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel offen. Der Bus sah als Sicherungsmaßnahme nur den linken Handlauf vor, an dem sich der Kläger festgehalten hat. Da es andere Sicherungsmaßnahmen als den Handlauf links nicht gab, kann ein sich Halt verschaffen durch einen behinderten Fahrgast nur im Rahmen der ihm offenstehenden Möglichkeiten erwartet werden. Einen Verstoß hiergegen haben die Beklagten nicht bewiesen.“

Die unheilvolle Begegnung auf dem Seitenstreifen der BAB mit einem Polizeifahrzeug: Alleinhaftung

entnommen wikimedia.org Author Achim Engel

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Die Konstellation, die das OLG Frankfurt im OLG Frankfurt, Urt. v.  14.03.2016 – 1 U 248/13 – entschieden hat, wird in der Praxis wahrscheinlich häufiger anzutreffen sein, nämlich: Nach einem Verkehrsunfall auf einer BAB bilden die Autofahrer dort eine sog. Rettungsgasse. Der der Sohn der Klägerin wechselt mit dem Pkw seiner Mutter von der mittleren auf die rechte Fahrspur und überfährt dabei die durchgezogene Linie des Standstreifens. Dabei kollidiert er mit einem dort fahrenden Polizeieinsatzfahrzeug, das mit einer mäßigen Geschwindigkeit von 45-50 km/h und Blaulicht fährt. Mutter meint, die Polizei hätte die Rettungsgasse nutzen müssen und verlangt Schadensersatz vom beklagten Land. Das OLG Frankfurt erteilt dem eine Absage und sagt: Mutter haftet allein, Begründung:

„aa) Der Sohn der Klägerin hat den Unfall dadurch allein verursacht, dass er beim Wechsel von dem mittleren auf den rechten Fahrstreifen mit dem von ihm geführten Fahrzeug über die Begrenzungslinie hinaus auf den Seitenstreifen geraten ist. Damit hat er gegen das Gebot der Fahrbahnbenutzung nach 2 Abs. 1 Satz 1 StVO verstoßen, weil der durch das Zeichen 295 der Anlage 2 lfd. Nr. 68 zu § 41 Abs. 1 StVO („durchgehende Linie“) getrennte Seitenstreifen gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht Bestandteil der Fahrbahn ist und außerdem die durchgehende Linie nicht gemäß Anlage 2 lfd. Nr. 68 Spalte 3 Nr. 1. a) überfahren werden darf. Denn diese darf nur in den in der Anlage 2 lfd. Nr. 68 Spalte 3 zu § 41 Abs. 1 StVO normierten Ausnahmen überfahren werden, die hier jedoch nicht vorliegen.

bb) Die Berufung kann demgegenüber nicht geltend machen, der Sohn der Klägerin habe nicht mit einem von hinten auf dem Standstreifen herannahenden Einsatzfahrzeug rechnen müssen. Denn die Beamten haben, als sie unter Einsatz von blauem Blinklicht den Seitentreifen befuhren, nicht gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen. Entgegen der von der Berufung vertretenen Ansicht mussten die Beamten für ihre Einsatzfahrt nicht etwaig gebildete Rettungsgassen benutzen. Die Fahrt auf dem Seitenstreifen als solche wirkt nicht haftungsbegründend, da sie keinen rechtswidrigen Verstoß gegen Vorschriften der StVO darstellt. Die Beamten waren bei ihrer Einsatzfahrt gemäß 35 Abs. 1 StVO von den Vorschriften dieser Verordnung befreit. ….Dabei tritt die Befreiung von den Vorschriften der StVO auch dann ein, wenn das Sonderrechtsfahrzeug weder Einsatzhorn noch Blaulicht führt oder diese zwar vorhanden sind, aber nicht betätigt werden. Nach § 38 Abs. 2 StVO darf bei Einsatzfahrten – wie hier – auch blaues Blinklicht allein verwendet werden (m.w.N. KG, Urteil vom 20. März 2003 – 12 U 199/01 – Rn. 25, juris)….

dd) Demgegenüber kann nicht festgestellt werden, dass der Fahrer des Einsatzfahrzeuges bei Wahrnehmung des Sonderrechts auf dem Seitenstreifen gegen die ihm hierbei obliegenden besonderen Sorgfaltspflichten verstoßen hätte.

Auch wenn Polizeibeamte berechtigt die Sonderrechte nach § 35 Abs. 1 StVO in Anspruch nehmen, kann eine Sorgfaltsverletzung darin liegen, dass sie bei der Wahrnehmung der Sonderrechte sorgfaltswidrig gehandelt haben. § 35 Abs. 8 StVO bestimmt, dass die Sonderrechte nur unter gebührender Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeübt werden dürfen. Den Erfordernissen der Verkehrssicherheit kommt stets Vorrang gegenüber dem Interesse des Einsatzfahrzeuges am raschen Vorwärtskommen zu (Burmann/Heß/Hühnermann/ Jahnke/Janker a.a.O. Rn. 17). Je mehr der Sonderrechtsfahrer von Verkehrsregeln abweicht, umso höhere Anforderungen sind an seine Sorgfalt zu stellen (Hentschel/König/Dauer a.a.O. Rn. 8).

Dass sich die Beamten nicht dementsprechend verhalten hätten, kann nicht festgestellt werden. …

ee) Eine erhöhte Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeuges kann ebenfalls nicht festgestellt werden. Das Einsatzfahrzeug hat den Seitenstreifen mit mäßiger Geschwindigkeit befahren, wobei dies zusätzlich zur Warnung der Verkehrsteilnehmer unter Einsatz von blauem Blinklicht geschah. Schon das Setzen eines Blaulichts ist für den übrigen Verkehr ein hinreichend deutliches Warnzeichen dafür, dass nicht von einem normalen Verkehrsablauf ausgegangen werden kann (vgl. OLG Koblenz, Urteil vom 05. Januar 2004 – 12 U 1352/02 – juris).

b) Bei der danach vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verschuldens- und Verursachungsbeiträge tritt die nicht erhöhte Betriebsgefahr des Einsatzfahrzeuges vollständig hinter dem Verschulden des Sohnes der Klägerin und der durch dessen Fahrfehler erhöhten Betriebsgefahr des von ihm gelenkten Fahrzeuges zurück.“